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Hugh Kincaid stieg noch einmal auf die Leiter, um
die Lichterkette zurechtzurücken, die er über das Vordach des alten
Bauernhauses gehängt hatte. Der Himmel über dem Giebel hatte die
Farbe alten Zinns angenommen, was nichts Gutes verhieß, und von der
schneidenden Kälte hatte seine Nase zu laufen begonnen. Aber er
wagte es nicht, eine Hand von der Leiter zu nehmen, um sie
abzuwischen. Seine Lage war ohnehin schon prekär genug.
Unten stand seine Frau und hüllte sich enger in
ihre Jacke, um sich vor dem Wind zu schützen. »Hugh«, rief sie zu
ihm herauf, »komm da runter, du brichst dir noch den Hals! Sie
werden jeden Moment hier sein. Willst du, dass dein Sohn dich auf
dem Rücken liegend im Garten findet?«
»Ich komm ja schon, Schatz.« Nachdem er noch einmal
an der Kette gezupft hatte, kletterte er vorsichtig zu ihr
hinunter. Sie hängte sich bei ihm ein, und zusammen traten sie ein
paar Schritte zurück, um das Funkeln der bunten Lichter vor dem
Hintergrund des dunkelroten Mauerwerks zu bewundern. Das Haus war
schmucklos, ein schlichter würfelförmiger Bau im Stil der Cheshire
Plain, aber gemütlich. Zwar war die Zeit nicht ganz spurlos daran
vorübergegangen – aber das traf ja auch auf ihn selbst zu, dachte
Hugh.
»Sieht ein bisschen armselig aus«, meinte er mit
einem kritischen Blick auf den Lichterschmuck. »Nur eine einzige
Kette. Ich hätte mehr aufhängen sollen.«
»Sei doch nicht albern.« Rosemary zwickte ihn durch
den
dicken Stoff seiner Jacke hindurch. »Du benimmst dich wie eine
nervöse alte Glucke, Hugh, und du kletterst mir jetzt nicht
mehr aufs Dach.« Ihr Ton war liebevoll, aber bestimmt, und er
seufzte.
»Du hast natürlich recht. Es ist nur, weil …« Er
hatte doch sonst keine Probleme, sich klar auszudrücken, aber jetzt
fehlten ihm unerklärlicherweise die Worte. Er hätte nicht gedacht,
dass ihn die Aussicht, seinen Enkel kennenzulernen, so nervös
machen würde. Dabei hatte er ja schon zwei Enkelkinder, Lally und
den kleinen Sam, die jetzt gerade im Haus auf den Besuch warteten.
Aber irgendwie – und er würde sich hüten, es jemals zuzugeben,
nicht einmal Rosemary gegenüber -, irgendwie war dieser Sohn seines
Sohnes in seinen Augen etwas ganz Besonderes, und er wollte, dass
alles perfekt war.
Es erschreckte ihn, dass er, der sich immer für
einen so fortschrittlichen und emanzipierten Mann gehalten hatte,
solche Gefühle hegte, aber so war es nun einmal. Und er fragte sich
sogar unwillkürlich, ob der Junge je darüber nachdenken würde,
seinen Namen zu ändern, damit die Kincaid-Linie fortgeführt werden
könnte.
Hugh schnaubte verächtlich über seine eigene
Eitelkeit, und Rosemary sah ihn fragend an. »Ich bin ein alter
Narr«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Natürlich bist du das, aber es wird schon alles
gut gehen«, erwiderte sie, und er wusste, dass sie wie immer seine
unausgesprochenen Gedanken erraten hatte.
Er zog sein Taschentuch aus der Jackentasche und
putzte sich die Nase. Rosemary hatte recht, das sah er jetzt ein.
Die Lichterkette sah wirklich festlich aus, und dazu funkelte noch
im Wohnzimmerfenster der Weihnachtsbaum. »Was hast du eigentlich
mit den Kindern gemacht?«, fragte er. Er wunderte sich, dass sie
nicht mit ihrer Großmutter nach draußen gekommen waren.
»Sie raufgeschickt und ihnen gesagt, sie sollen
sich ein Video anschauen. Sie haben mir den letzten Nerv geraubt,
und in der Küche war nichts mehr zu tun, wobei sie mir hätten
helfen können.« Sie schob den Ärmel zurück, um auf die Uhr zu
sehen. »Komisch, dass Juliet sich noch nicht gemeldet hat«, fügte
sie hinzu.
Er schnupperte, und obwohl der Holzrauch aus dem
Küchenherd fast alles überlagerte, witterte er in der kalten Luft
den Geruch des nahenden Schneefalls. Durch das kahle Geäst der
Bäume sah er, wie im Haus nebenan die Lichter angingen, und er
wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es ganz dunkel
war. »Wir kriegen Schnee. Wenn sie nicht bald hier sind …«
»Du denkst also, dein Sohn, der Kriminalkommissar,
kann in einem Schneesturm nicht nach Hause finden?«, unterbrach ihn
Rosemary lachend. Ehe er protestieren konnte, verharrte sie
plötzlich und sagte: »Psst!«
Zuerst hörte er nur seinen eigenen Atem. Und dann
vernahm er es – das leise Zischen von Reifen auf Asphalt. In
Richtung der Straße war zuerst ein einzelner Lichtpunkt zu
erkennen, dann ein zweiter. Es waren die Scheinwerfer des Autos, in
unregelmäßigen Abständen verdeckt durch die Bäume dazwischen. Es
erinnerte Hugh an Morsezeichen, einen SOS-Ruf aus der Ferne.
Der Wagen näherte sich so langsam, dass Hugh schon
glaubte, er müsse sich geirrt haben. Vielleicht war es ja doch nur
ein ältlicher Nachbar, der vom Einkaufen oder vom Pub nach Hause
schlich. Aber dann bremste das Auto noch weiter ab, um in die
Zufahrt zum Haus einzubiegen, und rumpelte über den ungeteerten
Weg, bis es vor ihnen zum Stehen kam.
Die Beifahrertür schwang auf, und sein Sohn stieg
aus. Er lächelte, doch die Linien in seinem Gesicht schienen sich
tiefer eingegraben zu haben, seit Hugh ihn zuletzt gesehen hatte.
Während Duncan seine Mutter umarmte, seinem Vater kräftig die Hand
schüttelte und dabei erklärte: »Tut mir leid, dass wir uns
verspätet haben – auf der Autobahn war die Hölle los«, sprang ein
kleiner blonder Junge vom Rücksitz, gefolgt von einem nicht minder
lebhaften Blauschimmel-Cockerspaniel.
Hughs Herz machte einen kleinen Satz, doch im
nächsten Moment war ihm klar, dass der Blondschopf nicht Kit sein
konnte – er war viel zu jung. Dann öffnete sich die andere Tür, und
ein Junge stieg aus, der einen kleinen, zottigen braunen Terrier
wie einen Schild vor der Brust hielt.
»Vater, das ist Toby«, sagte Duncan, während er dem
kleinen Jungen die Hand auf die Schulter legte, um ihn ein wenig zu
bremsen. »Und das ist Kit. Gemma kommt sicher auch gleich, sie muss
sich nur erst noch sortieren«, fügte er grinsend hinzu. Da stieg
auch schon eine junge Frau auf der Fahrerseite aus und kam um den
Wagen herum auf sie zu. »Sie wollte mich das letzte Stück partout
nicht fahren lassen, und ich glaube, unsere engen Landstraßen haben
sie einige Nerven gekostet.«
Hugh begrüßte sie herzlich und registrierte dabei
ihr attraktives, freundliches Gesicht, ihr kupferglänzendes Haar,
das mit einem Clip zurückgesteckt war, doch er konnte die Augen
nicht von dem Jungen wenden – seinem Enkel.
Rosemary hatte ihn natürlich vorgewarnt, aber er
musste trotzdem feststellen, dass er darauf nicht vorbereitet
gewesen war. Der Junge hatte die helle Haarfarbe seiner Mutter,
doch in seinen Zügen lag so viel von seinem Vater, dass Hugh
glaubte, den dreizehnjährigen Duncan vor sich zu sehen. Er wusste,
dass eine solche Familienähnlichkeit nichts Ungewöhnliches war,
doch normalerweise trübte die alltägliche Vertrautheit mit einem
Menschen die Wahrnehmung. Es kam Hugh vor, als sei ihm ein seltener
Einblick in die Abfolge der Generationen
gewährt worden, und für einen Moment wurde ihm seine eigene
Sterblichkeit schmerzlich bewusst.
»Kommt rein, kommt rein«, sagte Rosemary
unterdessen. »Ich habe Teewasser aufgesetzt, und die Kinder können
es kaum erwarten, euch kennenzulernen.« Sie scheuchte sie alle in
die Diele, doch ehe sie ihnen die Mäntel und Taschen abgenommen
hatte, kam Sam schon die Treppe heruntergestürmt. Seine Schwester
Lally folgte in gemessenem Schritt.
Lally zog einen Schmollmund, während Sam das
Telefon hochhielt und es schwenkte wie ein Beutestück, das er dem
Feind entrissen hatte. »Opa, es ist Mama! Sie will mit dir
reden.«
»Sag ihr, wir rufen sie in fünf Minuten zurück,
Sam«, sagte Rosemary. »Sobald wir …«
»Sie sagt, es ist dringend, Oma.« Nachdem er seinen
Auftrag erledigt und Hugh das Telefon gegeben hatte, schlenderte er
langsam die letzten Stufen hinunter und musterte Kit und Toby mit
unverhohlener Neugier.
»Juliet«, sagte Hugh ins Telefon, »was gibt’s? Kann
das nicht noch einen Moment war…«
»Papa, ist Duncan schon da?«, unterbrach ihn seine
Tochter in scharfem Ton. Sie schien außer Atem.
»Ja, sie sind gerade angekommen. Deshalb …«
»Papa, sag ihm, er soll zum alten Viehstall
rauskommen – er weiß, wo das ist. Sag ihm …«, sie schien zu zögern,
dann fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sag ihm nur, dass ich
eine Leiche gefunden habe.«
»Mist«, brummte Kincaid, während er sich hinter
das Lenkrad von Gemmas Ford zwängte und den Sitz zurückschob, um
Platz für seine langen Beine zu schaffen. Seine Schwester war nicht
am Apparat geblieben, um mit ihm zu sprechen, aber bevor sie das
Gespräch beendet hatte, hatte sie ihrem Vater noch gesagt, dass der
Akku ihres Handys fast leer sei.
Sollte das vielleicht ein Witz sein, fragte er sich
– Juliets Rache dafür, dass er sie als Kind immer geärgert hatte?
Sie hatte doch wohl nicht wirklich eine Leiche gefunden? Sein Vater
hatte die Sache wegen der Kinder heruntergespielt, aber wenn es
tatsächlich wahr wäre, dann wäre er wohl eher das Opfer eines
kosmischen als eines geschwisterlichen Streichs, dachte er.
Sie hatte auch nicht gesagt, ob sie schon die
Polizei informiert hatte, und so hatte er beschlossen, sich zuerst
ein Bild von der Lage zu machen und dann selbst die Kollegen
anzurufen. Er wollte sich nicht zusätzlich zu dem ganzen Ärger auch
noch blamieren, falls sich herausstellen sollte, dass seine
Schwester in dem alten Stall nur die Überreste irgendeines
verirrten Tieres gefunden hatte.
Sein Vater hatte ihm noch rasch erklärt, was es mit
Juliets Renovierungsprojekt auf sich hatte, und Kincaid erinnerte
sich sehr gut an das alte Gemäuer. Er und Jules hatten als Kinder
oft am Ufer des Kanals gespielt, und der Viehstall war bei ihren
Streifzügen am Leinpfad entlang ein vertrauter Orientierungspunkt
gewesen. Grundsätzlich hatte er ja nichts dagegen, in Erinnerungen
an seine Kindheit zu schwelgen, aber ein warmer, sonniger
Frühlingstag wäre ihm dafür allemal lieber gewesen als so ein
bitterkalter Winterabend – und dann auch noch ausgerechnet
Heiligabend.
Und er war auch nicht glücklich darüber, Gemma mit
den Jungen schon gleich nach der ersten, flüchtigen Vorstellung
allein zurückgelassen zu haben. Als er in der Einfahrt
zurücksetzte, fiel sein Blick noch einmal auf das Haus, und er sah
seinen Vater vor der offenen Tür stehen und ihm nachschauen.
Kincaid winkte, kam sich aber gleich darauf albern vor, weil er
wusste, dass sein Vater ihn nicht sehen konnte. Er sah ihm nach,
als er ins Haus ging. Die Tür fiel ins Schloss, und dahinter
verschwanden die letzten Reste von Licht und Wärme.
Er erinnerte sich, dass der Viehstall am Hauptarm
des
Shropshire Union Canal bei Barbridge lag. Auf dem Weg zum Haus
seiner Eltern waren sie vorhin sogar direkt daran vorbeigekommen.
Als Kinder hatten er und Jules diesen Abschnitt des Kanals
erreicht, indem sie quer über die Felder gelaufen waren und dann
den Middlewich-Arm des Kanals überquert hatten, der näher an ihrem
Haus vorbeiführte. Aber heute würde er die Straße nehmen.
Als er im Schritttempo auf die Landstraße
hinausfuhr, wehte der Wind ein paar Schneeflocken gegen die
Windschutzscheibe, und Duncan fluchte. Sie hatten den Schnee bei
Crewe hinter sich gelassen, aber inzwischen hatte er sie offenbar
wieder eingeholt. Die Flocken waren jetzt schwerer, sie lösten sich
unter den Wischerblättern auf, und der Asphalt glänzte nass im
Scheinwerferlicht. Als er auf die Straße nach Chester stieß, fuhr
er ein Stück zurück in Richtung Nantwich, und nach der Abzweigung
nach Barbridge verlangsamte er das Tempo und begann nach dem
schmalen Feldweg Ausschau zu halten, an den er sich
erinnerte.
Da tauchte die Abzweigung auch schon urplötzlich
aus der Dunkelheit auf, und er musste das Steuer jäh nach links
herumreißen. Ein Haus ragte vor ihm auf, und im Schneegestöber
erhaschte er einen kurzen Blick auf die dunklen Zinnen der
Schornsteine. Ein viktorianisches Herrenhaus, das in seiner
Kindheit leer und verwahrlost gewesen war – einer jener Orte, denen
man sich nur näherte, wenn man seinen Mut mit dem eines
draufgängerischen Spielkameraden zusammenlegen konnte. Jetzt war es
allerdings bewohnt – in einem der unteren Fenster hatte er Licht
brennen sehen.
Das Haus blieb hinter ihm zurück, während die
Hecken und Bäume, die den schmalen Weg säumten, mit gespenstischen
Armen nach ihm zu greifen schienen. Duncan manövrierte den Wagen um
die Biegungen und Windungen, mindestens ebenso sehr von seiner
Erinnerung geleitet wie von
dem, was er tatsächlich sehen konnte. Nach einer Weile wurde das
Gelände flacher, der Wald ging in Weideland über, und in der Ferne
sah er ein Licht flackern. Vorsichtig lenkte er den Wagen über die
letzten paar Meter des von tiefen Spurrinnen zerfurchten Weges und
hielt hinter einem weißen Lieferwagen an. Jetzt konnte er die
Umrisse des alten Viehstalls erkennen. Das Licht kam eindeutig aus
den offenen Türen des Gebäudes. Doch als er ausstieg, wurde die
Fahrertür des Lieferwagens von innen geöffnet, und seine Schwester
sprang heraus.
»Jules.« Er zog sie an sich, spürte ihre
schmächtigen Schultern unter der gefütterten Jacke, und einen
Moment lang entspannte sie sich in seinen Armen. Dann löste sie
sich von ihm, stellte bewusst eine Distanz zwischen ihnen her. Ihr
Gesicht war ein verschwommener weißer Fleck, eingerahmt von dunklen
Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Ich
wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte.«
Darauf hätte es eine naheliegende Antwort gegeben,
aber Kincaid biss sich auf die Zunge – er würde kein Urteil fällen,
solange er nicht gesehen hatte, was sie ihm zeigen wollte. »Was
tust du hier im Auto?«, fragte er stattdessen. »War dir kalt?« Er
wischte sich die Schneeflocken von den Wangen und aus den
Augen.
Juliet schüttelte den Kopf. »Nein. Ja. Aber das ist
es nicht. Ich konnte nicht da drinbleiben. Nicht, solange …« Sie
deutete in Richtung des Stalls. »Am besten, du kommst mit und
siehst es dir selber an. Du kannst mir sagen, dass ich nicht
verrückt bin.« Sie wandte sich von ihm ab und setzte die Füße
vorsichtig zwischen die matschigen Spurrinnen, als sie auf das
Licht zuging. Er folgte ihr, und beim Anblick der Jeans und der
schweren Schuhe, die sie zu ihrer gefütterten Jacke trug,
konnte er nur staunen über die Verwandlung, die seine Schwester
durchgemacht hatte, seit er sie zuletzt gesehen hatte.
Seine Mutter hatte ihm natürlich schon erzählt,
dass sie ihren Job als Büroleiterin in der Investmentfirma ihres
Mannes aufgegeben und sich als Bauunternehmerin selbstständig
gemacht hatte, aber so richtig hatte er sich die Veränderung, die
damit einhergegangen war, nicht vorstellen können.
Juliet betrat das Gebäude und blieb gleich neben
der Tür stehen. Kincaid folgte ihr und sah sich um. Das Licht kam
von einer batteriebetriebenen Arbeitslampe, die auf dem Lehmboden
lag. Er hob sie auf und vertrieb damit die Schatten aus der oberen
Hälfte des Raums. In die aus dunkelroten Ziegeln gemauerte Wand zum
Kanal hin waren Fensterrahmen eingesetzt worden, und Duncan wusste,
dass der Blick unter besseren äußeren Umständen atemberaubend sein
würde. Auch im Raum selbst sah er ein Rahmenwerk aus Balken, die
offenbar eine vorläufige Aufteilung in Zimmer markierten. Und
wenige Schritte vor der rückwärtigen Wand lag eine Spitzhacke auf
der Erde, als hätte sie jemand achtlos fallen lassen.
Er sah den Streifen Mörtel in der dunklen
Ziegelmauer, mit einem gezackten Loch in der Mitte – offenbar das
Werk des Pickels. Und da war noch etwas anderes – war das Stoff? Er
trat näher und hob die Lampe hoch, sodass der ganze Bereich hell
angestrahlt war. Vorsichtig streckte er einen Finger aus. Und dann
– trotz der Kälte und des Windes, der durch den Raum wirbelte –
stieg ihm der allzu vertraute Geruch der Verwesung in die
Nase.
»Ist es ein Baby?«, fragte Juliet. In der frostigen
Luft klang ihre Stimme seltsam dünn.
»Sieht so aus.« Kincaid trat zurück und versenkte
die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Er hätte sich keine
Gedanken darüber machen müssen, dass seine Schwester nicht sofort
die Polizei gerufen hatte. »Ich fürchte, es liegt schon eine ganze
Weile hier.«
»Es ist – es war kein Neugeborenes …« Sie brach ab
und sah ihn erschrocken an, als sei ihr plötzlich eingefallen, dass
das Thema für ihn schmerzlich sein könnte.
Er beugte sich vor, um den kleinen Körper noch
einmal in Augenschein zu nehmen. »Nein, das glaube ich nicht. Noch
kein Jahr alt, würde ich von der Größe her schätzen, aber ich bin
ja weiß Gott kein Experte. Den Rechtsmediziner, der hier eine
Bestimmung des Todeszeitpunkts vornehmen muss, beneide ich wirklich
nicht.«
»Aber warum sollte … wie kann …?« Juliet atmete
schwer; sie schien um Fassung zu ringen. »Und was machen wir
jetzt?«
Kincaid hatte schon sein Handy aus der Tasche
gezogen. Er wählte die 999 und lächelte sie schief an. »Wir
versauen irgendwem den Heiligabend.«
Die kleine Diele war ein einziges lärmendes
Durcheinander, zum Bersten voll mit Erwachsenen, Kindern und
Hunden. Ein Teil von Gemmas Gehirn registrierte den Duft von
Gebäck, vermischt mit dem von grünen Tannenzweigen, ein anderer die
blassgrünen Wände mit gerahmten Illustrationen aus Kinderbüchern,
einen mit Schirmen und Spazierstöcken vollgestopften Schirmständer
und die mit Jacken und Mänteln behängten Garderobenhaken. Die
Pfosten des Treppengeländers waren mit Girlanden aus Stechginster,
goldenen Bändern und Eibenzweigen mit tiefroten Beeren
geschmückt.
Der Junge, der das Telefon gebracht hatte – Gemma
nahm an, dass es sich um Duncans Neffen Sam handeln musste -, rief
irgendetwas, wurde aber fast übertönt von dem hektischen, schrillen
Gebell, das aus dem hinteren Teil des Hauses kam. Als dann auch
noch Geordie und Tess in das Konzert einstimmten, versuchte Gemma,
den Cockerspaniel zum Schweigen zu
bringen, während Kit den Terrier auf den Arm nahm und ihn
beruhigte.
Rosemary Kincaid hatte ihren Sohn bedrängt, doch
wenigstens eine Tasse Tee zu trinken, doch er hatte abgelehnt und
gesagt, je eher er sich um die Sache kümmere, desto schneller würde
er wieder zurück sein. Als er Gemma mit einem geflüsterten »Tut mir
leid« die Schulter getätschelt hatte, hatte sie seinen Arm gepackt
und gemurmelt: »Ich komme mit dir.«
»Nein. Bleib bei den Jungs«, hatte er leise und mit
einem Seitenblick auf Kit erwidert. »Ich schaffe das auch allein,
und die beiden brauchen dich.«
Sie war in unglückliches Schweigen versunken,
während sie ihm mit einem Gefühl wachsender Panik nachsah. Er würde
doch nicht gleich am ersten Tag ihrer Ferien in einen Mordfall
hineingezogen werden – das wäre so unfair, dass sie es einfach
nicht glauben mochte. Es könnte alles Mögliche sein, sagte sie sich
– als sie noch Streife gefahren war, hatten sie mehr als einmal
Anrufe von besorgten Bürgern bekommen, die die Überreste eines
streunenden Hundes für eine menschliche Leiche gehalten hatten. Und
dass sie jetzt bei der Erwähnung des Wortes »Leiche« automatisch an
Mord dachte, war bei den vielen Tötungsdelikten, mit denen sie im
Dienst zu tun hatte, nicht weiter verwunderlich.
»Gemma, Kinder«, sagte Rosemary in diesem Moment,
»kommt mit in die Küche. Ich weiß, es ist ein bisschen spät für
Tee, aber ich fürchte, auf das Abendessen werden wir alle noch eine
Weile warten müssen.« Kincaids Mutter hatte Gemma herzlich begrüßt,
genau wie bei ihrer einzigen bisherigen Begegnung, anlässlich der
Beerdigung von Kits Mutter. Rosemarys kastanienbraunes Haar schien
zwar ein wenig grauer geworden zu sein, doch mit ihren markanten
Zügen und ihrer glatten Haut gehörte sie zu den Menschen, denen man
ihr Alter kaum ansieht, und sie strahlte eine unbändige Energie
aus.
Als Gemma ihr antwortete, war ihr unangenehm
bewusst, wie fremd ihr Nordlondoner Akzent hier wirkte, wie rau und
abgehackt ihre Vokale im Vergleich zu Rosemary Kincaids
kultiviertem Cheshire-Tonfall klangen.
Ihr Blick fiel auf Kincaids Vater, der
hinausgegangen war, um Duncan nachzublicken, jetzt aber in die
Diele zurückkam und die Tür hinter sich schloss. Hugh Kincaid war
groß gewachsen wie sein Sohn, mit vorspringender Stirn,
ausgeprägtem Kinn und markanter Nase. Sein nach hinten gebürstetes,
grau meliertes Haar und der Rollkragenpullover schienen seine Züge
noch zu betonen und ließen sein Gesicht streng wirken. Dann aber
lächelte er sie an, und Gemma war gleich ganz und gar bezaubert von
seinem unerwarteten Charme. Sie erwiderte sein Lächeln und merkte,
wie sie sich allmählich entspannte.
»Du solltest lieber tun, was sie sagt«, warnte Hugh
sie mit einem Blick auf seine Frau, »sonst gibt es Ärger.« Gemma
hatte nicht mit dem leisen Anflug eines schottischen Akzents in
seiner Stimme gerechnet, obwohl sie wusste, dass er aus der Nähe
von Glasgow stammte. Sofort musste sie an Hazel Cavendish denken,
die jetzt weit weg von London in den schottischen Highlands lebte,
und die Sehnsucht nach ihrer Freundin gab ihr einen Stich ins
Herz.
»Hör nicht auf ihn«, konterte Rosemary lachend.
»Lally, Sam, kommt her und stellt euch richtig vor.« Sie legte eine
Hand auf den Kopf des Jungen, als ob sie einen Springteufel in die
Kiste zurückschieben wollte. »Das ist Sam, er ist zehn. Und das ist
Lally«, fügte sie mit einem Blick auf das Mädchen hinzu, das immer
noch auf einer der unteren Treppenstufen verharrte. »Sie dürfte nur
ein paar Monate älter sein als Kit.«
Zum ersten Mal wandte Gemma dem Mädchen ihre volle
Aufmerksamkeit zu. Sie bemerkte zuerst den drei Zentimeter breiten
Streifen nackter Haut am Bauch, dem Wetter zum
Trotz entblößt, dann das schulterlange dunkle Haar und das ovale
Gesicht, die Lippen, die sich zu einem zaghaften Lächeln verzogen.
Das Mädchen war eine Augenweide, von einer herzzerreißenden
Schönheit, wie sie nur Mädchen in der ersten Blüte ihrer
Weiblichkeit besitzen, an der Schwelle zwischen Unschuld und
Erfahrung.
»Hi«, sagte Lally und grinste, ein ganz normaler
Teenager – und Gemma kehrte von ihren poetischen Höhenflügen auf
den Boden zurück.
»Alle mal herhören, das ist Jack!«, rief Sam, der
die Stimme erheben musste, um das immer frenetischere Gebell aus
dem Hinterzimmer zu übertönen. »Er ist unser Border…«
In diesem Moment wurde er von einem dumpfen Schlag
und einem Krachen unterbrochen, und gleich darauf kam ein
schwarz-weißes Etwas über den Flur auf sie zugeschossen. »Border
Collie«, vollendete Sam grinsend seinen Satz. »Er wird sauer, wenn
er nicht überall dabei sein darf.«
Tess sprang von Kits Arm und stürzte sich ins
Getümmel, und die drei Hunde tobten umher, umkreisten und
beschnüffelten sich, ein einziges wogendes Chaos auf zwölf
Beinen.
»Na, dann ist ja wohl alles klar«, sagte Rosemary
in die plötzliche Stille hinein und beäugte die Hunde kritisch.
»Ich hatte gedacht, wir sollten ihnen ein bisschen Zeit geben, sich
miteinander vertraut zu machen, aber Jack scheint der Ansicht zu
sein, dass solche Formalitäten überflüssig sind.« Sie nahm Gemma
und den Jungen die Jacken ab, um sie an die ohnehin schon
überladene Garderobe zu hängen, und ging voran in Richtung
Küche.
Sam redete inzwischen auf Toby ein. »Wir haben hier
auch Gänse. Und Ponys. Willst du sie nachher sehen? Wie heißen eure
Hunde? Ich mag den Kleinen – der ist süß.«
Toby gab bereitwillig Antwort – oder versuchte es
wenigstens, wenn er in dem Fragengewitter einmal zu Wort kam -,
doch Gemma fiel auf, dass Kit, der neben Lally ging, kein Wort
sprach. Sie konnte es ihm nicht verdenken, dass er es ein wenig
einschüchternd fand, so viele neue Familienmitglieder auf einmal
kennenzulernen, doch sie hoffte, dass er sich bald entspannen
würde.
Als sie zur Küche kamen, sahen sie, dass Jack sich
mit solcher Wucht gegen die Tür geworfen hatte, dass sie
aufgesprungen und gegen die Wand geknallt war, wovon nun eine
kleine Delle im Putz der Flurwand zeugte. Rosemary brummte etwas
halblaut vor sich hin – es klang wie »dummer alter Hund« – und
scheuchte sie dann alle in die Küche, so resolut, als wäre sie
selbst der Hütehund.
Gemma sah sich entzückt um. Der Raum war eher breit
als tief, und sie vermutete, dass er fast den ganzen hinteren Teil
des Erdgeschosses einnahm. Zur Linken war der Kochbereich,
dominiert von einem beigefarbenen Herd und einem alten Spülbecken
aus Speckstein. In offenen Regalen stand eine Sammlung von
tiefkobaltblauem Porzellan mit Calico-Design, daneben einige Teile
in anderen blau-weißen Mustern, die Gemma noch nicht kannte. Zur
Rechten stand ein langer Tisch aus gebürstetem Kiefernholz mit
Stühlen aus dem gleichen Material. Die Sitzkissen hatten Bezüge mit
blauem und cremefarbenem Blumenmuster. In der hinteren Wand war
eine Nische für Brennholz, daneben ein kleiner Holzofen. Der Duft
nach frischem Gebäck war so intensiv, dass einem das Wasser im Mund
zusammenlief, und Gemma merkte plötzlich, dass sie einen
Bärenhunger hatte.
Während Hugh Holz nachlegte, füllte Rosemary zwei
Teekannen mit kochendem Wasser aus dem Kessel, der auf dem Herd
stand. Dann zog sie ein Blech voller Scones aus dem Warmhaltefach.
»Du magst doch sicher keine Scones«, sagte sie zu Kit, der in ihrer
Nähe stand, »oder selbst gemachte Pflaumenmarmelade oder diese
fette, ungesunde Clotted Cream?«
»Doch, natürlich«, protestierte Kit. Dann erwiderte
er ihr Lächeln und fragte: »Kann ich dir helfen?«
Gemma stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung
aus, als Kit seiner Großmutter half, Teller und Tassen zum Tisch zu
schleppen, und sich dabei weiter leise mit ihr unterhielt. Wenige
Minuten später saßen sie schon alle um den Tisch herum, und während
die Hunde sich vor dem Ofen auf dem Boden rangelten, löste das
gemeinsame Essen und Trinken allmählich die Zungen der
Zweibeiner.
Gemma, die zwischen Toby und Rosemary saß, achtete
argwöhnisch auf die Tischmanieren ihres Sohnes und hoffte nur, dass
er nicht allzu gierig schlingen oder gar mit vollem Mund reden
würde. Kit saß auf der anderen Seite des Tisches, zwischen Lally
und seinem Großvater, und Sam hatte sich in die kleine Lücke am
Kopfende gezwängt.
Kit beantwortete die Fragen seines Großvaters über
seine Schule höflich – wenn auch nicht ganz wahrheitsgemäß, wie
Gemma fürchtete -, doch ihr fiel auf, dass er immer noch jeden
direkten Blickkontakt mit Lally vermied.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Rosemary zu,
die gerade sagte: »… haben wir vor, nach dem Abendessen bei Juliet
in die Mitternachtsmesse zu gehen, wenn euch das recht ist, Gemma.
Das ist so eine Art Tradition in unserer Familie.«
»Ich weiß«, erwiderte Gemma. »Duncan hat es mir
erzählt. Wir wollten letztes Jahr auch gehen, aber es ist … etwas
dazwischengekommen.« Es war natürlich die Arbeit gewesen, die ihnen
ausgerechnet am Heiligabend in die Quere gekommen war. Und das war
erst der Anfang gewesen.
Ein Schatten legte sich auf Rosemarys Gesicht.
»Gemma, meine Liebe, ich bin ja nie dazu gekommen, dir persönlich
zu sagen …«
»Ich weiß. Es ist schon in Ordnung.« Es war die
Antwort, die Gemma von Mal zu Mal leichter über die Lippen kam, und
die Erkenntnis wurde von einem unerwarteten Gefühl des Verlusts
begleitet. Ihre Trauer hatte ihr etwas gegeben, woran sie sich
festhalten konnte, eine beinahe greifbare Verbindung zu dem Kind,
das sie verloren hatte; aber jetzt begann ihr selbst das zu
entgleiten.
Sie suchte angestrengt nach einem neuen Thema und
fand es, indem sie fragte: »Seid ihr Heiligabend immer zum Essen
bei Juliet?« Ihre eigene Familie kam gewöhnlich bei Gemmas
Schwester zusammen; allerdings war für Gemma ein Abend mit Cyns
Kindern, diesen hyperaktiven Zuckerjunkies, eher eine anstrengende
Pflichtübung als ein besinnliches Fest.
»Ja, sie hat immer darauf bestanden, schon als die
Kinder noch klein waren.« Rosemary warf einen besorgten Blick auf
die große Uhr über dem Herd. »Ich kann mir nicht vorstellen, was
sie so spät noch allein auf der Baustelle wollte – und das
ausgerechnet an Heiligabend. Was könnte sie da nur gefunden …« Sie
brach ab, ihr Blick streifte die Kinder, und sie fuhr stattdessen
fort: »Denkst du, dass es noch lange dauern wird?«
Gemma zögerte, ihr die Wahrheit zu sagen. Wenn
Juliet tatsächlich eine Leiche gefunden hätte, dann wäre das
verspätete Heiligabenddinner vielleicht die geringste ihrer Sorgen.
»Ich kann es wirklich nicht sagen. Können wir euch in der
Zwischenzeit mit irgendwas helfen?«
»Nein. Es gibt nur Schinken und Salate, und die
wird Juliet schon vorbereitet haben. Und Caspar würde sich auch
bedanken, wenn ich ungefragt in seiner Küche herumfuhrwerken
würde«, fügte sie hinzu und zog ein Gesicht. »Dabei hat er selbst
kein Problem damit, sich bei meinem Punsch zu bedienen …« Diesmal
war es der kurze Blick ihrer Enkelin, der sie verstummen ließ.
»Warten wir noch ein bisschen«, fuhr sie hastig fort. »Wir werden
sicher bald von ihnen hören.«
Die beiden kleineren Jungen hatten sich inzwischen
das letzte Scone geteilt. Nun stellte Sam seine Tasse auf den
Teller
und stand auf. »Oma, dürfen wir gehen? Kann ich Toby und Kit die
Ponys zeigen?«
»Ihr werdet ja gar nichts sehen können«, meinte
Rosemary, aber Sam hatte seine Erwiderung schon parat: »Wir nehmen
Taschenlampen mit, und Jack findet bestimmt die Ponys. Bitte,
dürfen wir?«
Toby rutschte vor Aufregung schon wie wild auf
seinem Stuhl hin und her, und selbst Kit schien interessiert.
»Mami, du kommst doch mit, oder?«, fragte Toby und zog an Gemmas
Hand.
»Ja, wenn Oma Rosemary es erlaubt«, erwiderte sie,
und ihr fiel auf, wie selbstverständlich ihr Tobys Anrede für
Kincaids Mutter über die Lippen kam.
Nach einem weiteren Blick auf die Uhr gab Rosemary
großzügig nach. »Na schön. Aber packt euch gut ein, und nehmt auf
jeden Fall die anderen Hunde an die Leine. Wir wollen doch nicht,
dass sie querfeldein über die Felder laufen, wo sie sich doch hier
gar nicht auskennen.«
»Ich sollte hierbleiben und dir helfen«,
protestierte Gemma, doch Rosemary schüttelte den Kopf.
»Geh mit den Kindern. Die paar Sachen habe ich in
zwei Minuten abgespült, und Hugh hilft mir, den Tisch abzuräumen.
Nicht wahr, Schatz?« Sie sah ihren Mann mit hochgezogenen
Augenbrauen an, und ihre Mimik erinnerte Gemma an Duncan.
»Da siehst du, wie ich für meine Sünden büßen
muss«, meinte Hugh grinsend und begann das Geschirr abzuräumen.
Gemma schüttelte nur den Kopf, als sie sich ihren Vater bei dieser
Tätigkeit vorzustellen versuchte. Obwohl ihre Mutter den ganzen Tag
bis zum Umfallen in der Bäckerei schuftete, erwartete ihr Vater,
beim Abendessen von ihr bedient zu werden.
Als Gemma und die Jungen ihre Jacken angezogen und
die Hunde eingesammelt hatten, sah sie, dass Lally, die sich
zwischendurch
nach oben geschlichen hatte, wieder aufgetaucht war und ebenfalls
etwas übergezogen hatte, um mit nach draußen zu gehen.
Die ehemalige Spülküche hinter der Küche wurde
jetzt für Gartenkleidung und -gerätschaften benutzt, und Hugh
schlug vor, dass sie ihre guten Schuhe gegen Gummistiefel tauschen
sollten, von denen mehrere Paar auf einem niedrigen Regal
aufgereiht standen. Gemma, die ein wenig Mühe hatte, ihre Füße in
die etwas zu kleinen Stiefel zu zwängen, war als Letzte draußen.
Sie sah, dass Lally zurückgeblieben war und auf sie wartete,
während die Jungen schon vorausgerannt waren. Jack tollte um sie
herum und bellte aufgeregt.
»Oh«, stieß Gemma verzückt hervor, als sie sich
umblickte. »Wie wunderbar.« Es musste noch stärker geschneit haben,
seit sie angekommen waren, denn die ganze Landschaft lag jetzt
unter einer dicken weißen Decke.
»Hast du gewusst, dass es nur dann offiziell weiße
Weihnachten sind, wenn am ersten Weihnachtstag eine Schneeflocke
auf das Dach der BBC in London fällt?«, fragte Lally, als sie den
Jungen folgten und der frische Schnee unter ihren Schritten
knirschte.
»Das ist ja wohl nicht ganz fair, oder?« Gemma
dachte daran, wie es war, wenn in London einmal Schnee fiel – wie
schnell die weiße Pracht von zahllosen Fußspuren verunstaltet und
in bräunlichen Matsch verwandelt war. Das hier war etwas völlig
anderes: ein stilles Meer von reinem Weiß, so weit sie blicken
konnte. Sie war plötzlich froh, dass sie gekommen war.
Der Hund hörte auf zu bellen, und in wortlosem
Einvernehmen blieben sie und Lally stehen, um die feierliche Stille
nicht mit dem Quietschen ihrer Gummistiefel zu stören. Sie standen
Schulter an Schulter und ließen die Flocken lautlos auf ihre
Gesichter und Haare fallen.
Und dann hörte Gemma ganz schwach und in weiter
Ferne
das Heulen einer Sirene, und ihre festliche Stimmung war mit einem
Schlag verflogen.
Mit sechs Jahren hatte er die Lust am
Besitzen entdeckt. Es war der erste Schultag nach den
Weihnachtsferien gewesen, die ganze Klasse unruhig und zappelig,
noch voll von den Erinnerungen an die kurzlebige Freiheit, die sie
genossen hatten. Nicht einmal vor die Tür gehen konnten sie in
diesem fürchterlichen Wetter, einem unangenehmen Schneeregen, der
aus dem bleigrauen Himmel fiel und in Mäntel und Stiefel sickerte.
Klatschnasse Jacken und Handschuhe lagen dampfend auf den
Heizkörpern und erfüllten die Luft mit einem miefigen Wollgeruch,
der seine Nasenhöhle ausfüllte und sogar in seine Haut einzudringen
schien. Merkwürdig, wie ein Geruch augenblicklich derart konkrete
Erinnerungen wachrufen konnte: Der leiseste Hauch von feuchter
Wolle genügte, um ihm diesen Tag in allen Details ins Gedächtnis zu
rufen – und mit der Erinnerung kamen die alten Gefühle wieder hoch,
mit quälender Intensität.
Ihre Lehrerin – diese dumme Kuh – hatte sie
aufgefordert, ihre liebsten Weihnachtsgeschenke vorzuzeigen. Er
hatte das allerneueste Spielzeug, aber die meisten anderen hatten
es auch, und so war niemand sonderlich beeindruckt. Aber da war
dieser kleine Schleimer namens Colin Squires – fett und mit
riesiger Brille -, und der hatte einen Lederbeutel voller Murmeln
vorgezeigt: Achate und Katzenaugen. Jungen wie Mädchen hatten sich
um ihn gedrängt und die Hände ausgestreckt, um die Achate mit ihren
verwirbelten Farben und die seltsamen, dreidimensionalen Augen zu
berühren. Und Colin, schwitzend vor Stolz und Glück, hatte es sich
nicht verkneifen können, die Kugeln in seiner Tasche aufreizend
klickern zu lassen, auch nachdem die Stunde längst zu Ende war; und
in der Pause hatte er einer Schar von Bewunderern Murmelspiele
vorgeführt.
Er aber, er hatte ganz hinten gestanden und
die Szene mit gespieltem Desinteresse beobachtet. Schon damals
hatte er begriffen, wie entscheidend gute Planung ist.
Drei Tage später, als Colins kurzlebige
Attraktivität schon verflogen war und die anderen Kinder sich
wieder ihren üblichen Spielen zugewandt hatten, streifte er Colin
wie zufällig auf dem Pausenhof, und als er weiterging, befand sich
der Beutel mit den Murmeln plötzlich in seiner Tasche.
Er behielt seine Neuerwerbung für sich und
wartete stets, bis er ungestört in seinem Zimmer war, ehe er die
Murmeln hervorholte und sich an ihrem Anblick weidete. Nur hier
konnte er sie befühlen, ohne befürchten zu müssen, dabei überrascht
zu werden.
Er wusste natürlich, dass er etwas Unrechtes
getan hatte und Verschwiegenheit deshalb die beste Strategie war.
Doch was ihm erst später klar wurde, als er ein paar Jahre älter
war, das war, dass er schon damals nichts von dem empfunden hatte,
was man in solchen Situationen angeblich zu empfinden hatte –
nichts von dem, was andere Menschen »Schuldgefühle« nannten. Nicht
die leiseste Spur.