12
Das Haus stand wie ein Wachposten an der
Einmündung des Feldwegs, der zu dem alten Viehstall führte. Die
Umrisse der vier turmartigen Schornsteine waren im schwachen Schein
der Abenddämmerung gerade eben auszumachen. Die alten Viktorianer
hatten schon zu repräsentieren verstanden, dachte Babcock, als er
in die Auffahrt einbog, nur leider immer auf Kosten der weniger vom
Glück Begünstigten. Er konnte ein Haus wie dieses nie ansehen, ohne
an die Legionen von Dienstmädchen in Haube und Uniform denken zu
müssen, die über Treppen und Korridore gehetzt waren und ihre
schwieligen, vom Putzen und Waschen geröteten Hände an ihren
gestärkten weißen Schürzen abgewischt hatten.
Heute Abend jedoch schienen die Geister der
viktorianischen Ahnen das Haus nicht für sich zu haben. Die
Erdgeschossfenster waren hell erleuchtet, sodass Babcock sich
einige Hoffnung machte, Piers Dutton tatsächlich anzutreffen.
Trotz der Festbeleuchtung im Haus selbst lag die
Auffahrt in tiefster Finsternis, wie Babcock feststellen musste,
als er aus dem Wagen stieg. Während er leise vor sich hin
brummelte, tastete er sich zum Eingang vor, wo eine einzige trübe
Lampe brannte. Wenn Dutton es sich leisten konnte, dieses alte
Gemäuer instand zu halten, müsste er doch wohl noch ein paar Pennys
für eine Glühbirne übrig haben, die seine Einfahrt anständig
ausleuchtete, dachte er verdrießlich.
Nachdem er sich den Schnee von den Sohlen gestampft
hatte, läutete er. Kurz darauf hörte er bereits Schritte in der
Halle,
die massive Tür wurde geöffnet, und dann stand Dutton
höchstpersönlich vor ihm. »Sie wünschen?«, fragte er herrisch, doch
sein Ton war eher neugierig als feindselig. Mit seinen
Designerklamotten aus Cordsamt und Jeansstoff gab er den perfekten
Landgentleman ab.
»Mein Name ist Babcock. Chief Inspector Babcock.
Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Mr. Dutton?«
Nur einen Moment lang war in Duttons Miene die
Beunruhigung zu lesen, die auch der ehrlichste Bürger empfindet,
wenn er unverhofft einem Polizisten gegenübersteht. Dann lächelte
er und sagte: »Ah. Ich nehme an, dass Ihr Besuch mit dem ganzen
Theater drüben beim alten Viehstall zu tun hat.« Bei Duttons
affektiertem, gedehntem Eton-Akzent stellten sich Babcock die
Nackenhaare auf, und seine Freundlichkeit war von einer
herablassenden Art, die noch beleidigender war als Tom Fosters
offene Geringschätzung.
Dutton bat Babcock herein und schloss die Tür, ehe
er fortfuhr: »Ich war gestern und den größten Teil des heutigen
Tages nicht zu Hause und habe deshalb vermutlich einiges verpasst.
Ich habe es erst vorhin von einem Nachbarn erfahren.«
»Nicht zufällig von Mr. Foster?«
Babcocks Ton musste ihn verraten haben, denn Dutton
lachte verschwörerisch. »Sie hatten wohl schon die Ehre, wie? Sage
und schreibe ein halbes Dutzend Nachrichten auf meiner Mailbox. Tom
Foster schien sich sicher zu sein, dass ich die Lösung des Rätsels
liefern könnte.«
»Und er wurde enttäuscht, nehme ich an?«, fragte
Babcock leichthin.
»Auf der ganzen Linie. Nicht nur, dass ich bei der
Frage nach der Identität des mysteriösen Kindes nicht behilflich
sein konnte, ich habe ihm auch gesagt, er soll sich um seine
eigenen Angelegenheiten kümmern und die Polizei ihre Arbeit machen
lassen.«
»Das muss ja gut angekommen sein.«
»Wie eine Nachforderung vom Finanzamt. Gegen Ende
unseres Telefonats war er äußerst aufgebracht, und wenn ich ehrlich
bin, kann ich nicht sagen, dass es mir leid tut. Könnte mir
vorstellen, dass er nicht so bald wieder anruft.«
Als Privatmann hätte Babcock sich Piers Duttons
Meinung über seinen Nachbarn vielleicht sogar angeschlossen;
dennoch fand er Duttons Bemerkungen nicht nur unverschämt, sondern
vermutete auch, dass sie darauf abzielten, sich bei Babcock
anzubiedern und ihn auf seine Seite zu ziehen. Er fragte sich, ob
der Mann etwas zu verbergen hatte, oder ob ihm das Manipulieren
seiner Mitmenschen einfach nur zur zweiten Natur geworden war. So
oder so konnte es nicht schaden, ihm den Eindruck zu vermitteln,
mit seiner Strategie Erfolg gehabt zu haben.
»Ich entnehme Ihren Äußerungen, dass Sie nichts
dagegen hätten, mir ein paar Fragen zu beantworten«, sagte er mit
einem liebenswürdigen Lächeln. »Damit wir auch tatsächlich unsere
Arbeit machen können.«
Dutton blickte umher, als überlege er, ob er
Babcock einfach in der Halle stehen lassen könnte, und sagte
schließlich: »Na, dann kommen Sie besser mal mit.« Er ging voraus
ins Wohnzimmer zur Linken – oder vielmehr den »Salon«, wie man in
diesem Hause vermutlich sagen musste.
Sein erster Eindruck nach dem relativ nüchternen
Flur war der einer geradezu irrwitzigen Opulenz. Die Farbgebung
tendierte zu satten Burgunder- und Blaugrüntönen, und alles, was
nicht vergoldet war, schien mit Samt überzogen. Aber nach einer
Weile konnte er einen Ledersessel ausmachen, und er sah Wolldecken
in maskulinen Tartanmustern à la Ralph Lauren, die hier und da über
die Möbel drapiert waren. Vor dem Fenster stand ein riesiger
Weihnachtsbaum, und ein intensiver Fichtenduft erfüllte den
Raum.
Ein halbes Dutzend Kerzen schimmerten auf dem
schweren Mahagoni-Kaminsims und mischten ihr Licht mit dem warmen
Schein des Holzfeuers. Überrascht registrierte Babcock diesen
femininen Touch – er kannte nur sehr wenige Männer, die von sich
aus eine Kerze angezündet hätten. Aber sonst deutete nichts auf die
Anwesenheit einer Frau hin.
Eines hatte Piers Dutton mit seinem Nachbarn Tom
Foster gemeinsam, den er offenbar so wenig schätzte: Auch er bot
seinem Gast weder einen Stuhl noch einen Drink an. Auf einem
Beistelltisch stand eine offene Flasche Bordeaux, und ein halb
volles Glas auf dem Kaminsims funkelte blutrot im Kerzenlicht.
Dutton stellte sich mit dem Rücken zum Kamin, ließ das Glas jedoch
stehen.
Auf einem Polsterhocker vor dem Ledersessel stand
ein aufgeklappter Laptop, doch der Bildschirm war von Babcocks
neugierigen Blicken abgewandt.
Als er ein kleiner Junge war, hatte seine Großtante
Margaret ihn bei einem ihrer seltenen Besuche, entnervt von seiner
unaufhörlichen Fragerei, einmal »Elefantenkind« genannt. Erst viele
Jahre später hatte er das Märchen von Kipling gelesen und
herausgefunden, was sie damit gemeint hatte. Die Jahre hatten ihn
von dieser Krankheit nicht heilen können, aber jetzt hatte er
immerhin eine Rechtfertigung für seine unersättliche Neugier. Er
tat so, als sehe er sich im Zimmer um, und versuchte sich dabei
unauffällig dem Sessel zu nähern, doch Dutton war mit einem Schritt
beim Polsterhocker und klappte den Computer zu.
»Sie nehmen Ihren Beruf wohl sehr ernst, dass Sie
sogar an Weihnachten arbeiten«, meinte Babcock und streifte den
Laptop mit einem flüchtigen Blick, während er mit demonstrativem
Interesse eine Serie von Drucken mit Jagdmotiven an der Wand hinter
Duttons Sessel studierte. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht bei etwas
furchtbar Wichtigem unterbrochen.«
»Ich mache gerade noch eine Kundenpräsentation
fertig – als Ausgleich, nachdem ich den ganzen Tag mit der Familie
verbracht habe.« Dutton ging zurück zum Kamin und beäugte ihn
spöttisch. »Und wie war das mit dem Esel, der den anderen Langohr
nannte?«
»Aber ich kann es mir schließlich nicht aussuchen«,
protestierte Babcock.
»Da habe ich so meine Zweifel, Chief Inspector.«
Duttons blaue Augen blitzten amüsiert. Anders als Tom Foster schien
er keine Probleme zu haben, sich Babcocks Dienstgrad zu merken.
»Für so was müssen Sie doch Ihre Wasserträger haben.«
Babcock musste ein Grinsen unterdrücken, wenn er
daran dachte, wie er Constable Larkin erzählen würde, dass sie als
Wasserträger bezeichnet worden war. »Meine Wasserträger haben seit
gestern Abend mehrfach versucht, Sie zu erreichen, Mr. Dutton. Da
dachte ich mir, vielleicht habe ich ja mehr Glück.« Er zog seinen
Mantel aus, hockte sich unaufgefordert auf die Armlehne des Sofas
und zog sein Notizbuch aus der Jackentasche.
»Aha, jetzt wird’s also ernst«, sagte Dutton mit
gespielter Resignation. »Wie kann ich Ihnen genau behilflich sein,
Chief Inspector?«
Babcock hatte seinen eigenen Schlachtplan, und
darin stand nichts davon, dass Piers Dutton die Vernehmung an sich
zu reißen hätte. »Schön haben Sie’s hier.« Er blickte sich noch
einmal im Raum um und sah dabei so naiv und unschuldig drein, wie
es ihm mit seinem Boxergesicht nur möglich war. »Aber Ihre
Heizungsrechnungen möchte ich nicht haben. Hat Mrs. Dutton die
Einrichtung ausgesucht?«
»Ich bin geschieden, Mr. Babcock. Ich habe dieses
Haus erst nach der Trennung von meiner Frau gekauft.«
Babcock stieß einen Pfiff aus. »Und ich muss immer
noch
die Hypothek für unsere Doppelhaushälfte abstottern – oder
verkaufen und den Erlös mit meiner Ex teilen. Keine sehr rosigen
Aussichten.« Er schüttelte betrübt den Kopf und sagte: »Sie leben
also ganz allein hier, Mr. Dutton?«
»Mein Sohn wohnt bei mir. Meine Exfrau und ich
haben das gemeinsame Sorgerecht, aber Leo ist meistens lieber hier.
Ein Junge braucht nun mal seinen Vater, finden Sie nicht?«
Babcock musste sich zu einem Lächeln zwingen, wenn
er daran dachte, wie wenig er seinen eigenen Vater zu Gesicht
bekommen hatte. »Da haben Sie zweifellos recht. Und wie lange
wohnen Sie schon hier?«
»Fünf Jahre.« Dutton zog die Stirn in Falten, als
ob er im Kopf nachrechnete. »Sogar schon ein bisschen
länger.«
»Dann haben Sie wohl noch die Smiths gekannt, bevor
sie von hier weggezogen sind?«
»Die Leute, die das Foster-Haus hatten? Ich habe
Sie kennengelernt, ja, aber sie haben bald, nachdem ich hier
eingezogen bin, verkauft. Sie können doch nicht ernsthaft annehmen,
dass die zwei alten Leutchen in ihrem Stall ein Kind eingemauert
haben?«, fragte Dutton. Er klang mehr erstaunt als entsetzt. »Das
waren hochanständige Leute, ein ganz harmloses altes
Bauernehepaar.«
»Wir müssen allen Möglichkeiten nachgehen, Mr.
Dutton, und deswegen ist es wichtig, dass wir mit ihnen Kontakt
aufnehmen. Wissen Sie, wo sie hingegangen sind oder wie man sie
erreichen kann?«
Piers Dutton zog die Augenbrauen hoch und sah
Babcock mit unverhohlener Erheiterung an. »Ich habe wirklich nicht
die geringste Ahnung, Chief Inspector. Es war nicht die Art von
Bekanntschaft, die man unbedingt pflegt. Und ich halte es doch für
höchst unwahrscheinlich, dass sie Ihnen helfen könnten, wenn Sie
sie ausfindig machen sollten. Dahinter stecken doch mit Sicherheit
Jugendliche hier aus der Gegend, denen
das verlassene Gebäude wie gerufen kam, um ein ungewolltes Kind
verschwinden zu lassen.«
»Die Leiche war eingemörtelt. So viel Vorausplanung
würde ich einem verzweifelten Teenager eher nicht zutrauen.«
Babcock fand es interessant, dass Dutton auch nicht zu wissen
schien, dass es sich nicht um ein Neugeborenes handelte. »Haben Sie
nicht mit Mrs. Newcombe gesprochen?«
»Mit Juliet? Nein. Obwohl Tom Foster erwähnte, dass
sie es gewesen ist, die die Leiche gefunden hat.« Er schüttelte den
Kopf mit einer Art sorgenschwerer Würde. »Schlimme Sache, wirklich.
Es tut mir leid, dass ich …« Er brach ab und blickte an Babcocks
Schulter vorbei.
Im selben Augenblick spürte Babcock, dass jemand
hinter ihm stand, obwohl er kein Geräusch gehört hatte. Er stand
auf und drehte sich zur Tür um, während Dutton sagte: »Leo. Mein
Sohn, Chief Inspector Babcock.«
Babcock erblickte einen jungen Mann – nein, einen
Jungen, verbesserte er sich, nachdem er genauer hingesehen hatte -,
der allerdings für sein Alter sehr groß war. Er beobachtete sie vom
Treppenhaus aus, und trotz des wie eingeübt wirkenden Ausdrucks
gelangweilten Desinteresses, den er zur Schau trug, leuchteten
seine Augen vor Neugier. Er war ein hübscher Bursche mit klar
geschnittenen Gesichtszügen, wie sie sein Vater ebenfalls gehabt
haben musste, bevor die Jahre und das Genussleben sie verwischt und
aufgeweicht hatten. Babcock fragte sich, wie lange er schon
gelauscht hatte.
»Sir.« Leo begrüßte ihn mit einem Nicken, kam
jedoch nicht herein. Er wandte sich an seinen Vater. »Papa, ich
gehe noch weg.«
»Wohin?«, fragte Dutton, doch es schien ihn nicht
wirklich zu interessieren.
»Nach Barbridge. Ich treffe mich dort mit ein paar
Freunden.«
»Also schön. Komm nicht zu spät nach Hause.«
»Okay«, antwortete Leo, und mit einem weiteren
Nicken in Babcocks Richtung verschwand er so lautlos, wie er
aufgetaucht war.
Nach Barbridge waren es zu Fuß nur wenige Minuten,
aber in dem Dorf gab es nichts außer dem Pub, und selbst wenn es
geöffnet haben sollte, war Leo Dutton zu jung, als dass er es ohne
Begleitung eines Erwachsenen hätte betreten dürfen. Was glaubte der
Vater eigentlich, was sein Sohn mit seiner Clique dort
machte?
»Wahrscheinlich will er seinen Freunden sein neues
Handy zeigen«, sagte Dutton, dem offensichtlich keine
beunruhigenden Bilder von Minderjährigen durch den Kopf schossen,
die sich von Älteren Bier schnorrten und im Bushäuschen verbotene
Zigaretten oder Schlimmeres rauchten.
Vielleicht war er schon zu lange Polizist, dachte
Babcock, und sowieso ging es ihn nichts an. Leo war zu jung, um für
das ausgesetzte Baby verantwortlich zu sein, es sei denn, er hätte
schon in der Grundschule Kinder gezeugt. Babcock interessierte sich
mehr für Juliet Newcombe. »Mr. Dutton, um auf Mrs. Newcombe
zurückzukommen. Sie sagten vorhin …?«
»Ach ja, entschuldigen Sie. Ich meinte nur, dass es
ein schreckliches Erlebnis für Juliet gewesen sein muss, dieses
Kind zu finden. Ich fühle mich ein bisschen verantwortlich, da ich
sie schließlich für den Job empfohlen habe.«
»Tom Foster schien gewisse Zweifel an Juliets
Eignung für den Job zu hegen. Ich hätte gedacht, Sie müssten daran
interessiert sein, dass Ihre neuen Nachbarn mit ihren Handwerkern
zufrieden sind.«
Dutton zog sein fleischiges Gesicht in missmutige
Falten. »Foster hat offenbar irgendeine Bemerkung von mir
missverstanden. Ich hätte den Bonners niemals Juliets Namen
genannt,
wenn ich sie nicht für qualifiziert gehalten hätte. An ihrer
fachlichen Eignung kann es keinen Zweifel geben …«
»Aber?«, fragte Babcock, kaum dass er Duttons
Zögern bemerkte.
Dutton verschränkte die Hände hinter dem Rücken,
trat von einem Fuß auf den anderen und wandte den Blick ab. »Ach,
nichts weiter.«
Babcock erwiderte nichts und ließ das Schweigen im
Raum anwachsen, bis das Knistern und Knacken der Scheite im Kamin
wie das tosende Prasseln eines Buschfeuers klang.
Dutton brach die Spannung, wie Babcock es erwartet
hatte. Er räusperte sich und sagte: »Es war eine schwierige Zeit
für alle Beteiligten, als Juliet uns verließ. Selbstverständlich
wünsche ich ihr Erfolg mit ihrer Unternehmung, ihretwegen wie auch
wegen meines Partners. Ich würde nie etwas sagen, was diesen Erfolg
gefährden könnte. Es ist nur …« Seine Miene wurde immer gequälter,
und er räusperte sich erneut, doch diesmal hielt er Babcocks Blick
stand, und seine blauen Augen musterten ihn ernst. Er seufzte und
fuhr fort: »Es ist nur so, dass Juliet bisweilen zu hysterischen
Ausbrüchen neigt. Ich fürchte, man kann sich nicht immer
hundertprozentig auf sie verlassen.«
Lally hatte sich einen Hocker in eine Ecke der
Küche ihrer Großeltern gezogen, und da saß sie nun und kam sich vor
wie eine einsame Insel in einem Ozean hin und her wogender
Gespräche. Einen Moment lang fragte sie sich, wie es wäre, taub zu
sein – zu sehen, wie die Münder sich bewegten, und nur sinnlose
visuelle Signale zu empfangen. Aber auch Taube konnten Mienen
lesen, und das war manchmal schlimm genug.
Gott, wie sie das hasste – die Art, wie diese zwei
sich anschauten, ihr Onkel Duncan und seine Gemma. Er saß mit ihrem
Großvater und Kit am hinteren Ende des Küchentischs, und Gemma
hatte sich gerade vom Kühlschrank abgewandt. Über den ganzen Tumult
hinweg sah er sie an und zuckte nur mit der Augenbraue, worauf sie
kaum merklich nickte und einen Mundwinkel zu einem angedeuteten
Lächeln hochzog. Ihre Kommunikation war intimer als jede Berührung,
und Lally war es so peinlich, sie dabei zu beobachten, als hätte
sie die beiden nackt gesehen. Und die Tatsache, dass sie Gemma
mochte und das Gefühl hatte, mit ihr auf einer Wellenlänge zu sein,
machte es irgendwie noch schlimmer.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern
sich je so angeschaut hatten. Bei dem Gedanken überkam sie ein
namenloser Ekel, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
Duncan hatte sich zu ihrem Opa und Kit gesetzt, um
ihnen bei Tobys Harry-Potter-Puzzle zu helfen, während Toby mit Sam
auf dem Boden mit den Star-Wars-Figuren spielte und sie mit
nervigen Kleine-Jungen-Soundeffekten herumschwirren ließ. Nachdem
er sich nun offenbar bei Gemma rückversichert hatte, stand er auf,
schnappte sich Toby und verkündete: »Ab ins Bad mit dir, Kumpel.«
Als Toby protestierte, kitzelte Duncan ihn an den Rippen und machte
knurrende Geräusche, bis der kleine Junge vor Lachen quietschte und
sich, immer noch kichernd, hinaustragen ließ.
Hatte ihr Vater jemals so mit ihr oder Sam
gespielt? Wenn sie darüber nachdachte, konnte Lally sich nicht
erinnern, dass ihr Vater überhaupt je mit ihnen gespielt hatte. Die
Aufmerksamkeit, die er ihnen in letzter Zeit widmete, war etwas
ganz Neues; das ging erst so, seit er so wütend auf ihre Mutter
war. Lally wusste das, und dennoch – wenn er so lieb zu ihr war,
wollte sie, dass es immer so blieb. Und auch das widerte sie
an.
Gemma stand auf, um Duncan und Toby zu folgen, und
berührte Lally im Vorbeigehen ganz leicht an der Schulter, aber
Lally brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen. Jetzt
saßen
nur noch ihre Mutter und ihre Oma drüben beim Herd. Sie steckten
die Köpfe zusammen und unterhielten sich in diesem gedämpften Ton,
der bedeutete, dass sie nicht wollten, dass die Kinder mithörten.
Ihre Oma redete mit den Händen, wie sie es immer tat, wenn sie
einen von etwas überzeugen wollte, und ihre Mama sah verängstigt
und zugleich trotzig aus, als ob Rosemary ihr etwas sagte, was sie
nicht hören wollte. Aber da war noch etwas anderes, ein bestimmter
Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter … Es dauerte eine Weile, bis Lally
erkannte, was es war: eine Art triumphierende Erregung.
Wieder packten sie Krämpfe, heftiger als zuvor, und
das Putensandwich, von dem sie zum Abendbrot ein paar Bissen
gegessen hatte, drohte ihr hochzukommen. Sie schluckte krampfhaft,
um die Übelkeit niederzukämpfen, und biss sich auf die Unterlippe.
Wie konnte ihre Mutter anders als verängstigt sein, wenn ihr Vater
so tobte? Warum war sie auch mitten während des Weihnachtsessens
davongelaufen, wo sie doch genau wusste, wie er reagieren
würde?
Als Lally und Sam bei ihren Großeltern angekommen
waren, hatte ihre Mutter schon auf sie gewartet und ihnen
irgendeine Geschichte aufgetischt, wonach sie angeblich nur
heimgefahren war, um etwas zu holen, und später Probleme mit dem
Wagen gehabt hatte. Lally, die selbst reichlich Erfahrung im Lügen
hatte, war ihr nicht eine Sekunde lang auf den Leim gegangen.
Wenn das stimmte, wieso hatte sie dann nicht
gesagt, was sie vorhatte, oder wenigstens angerufen? Und wieso
waren sie jetzt hier und nicht zu Hause? Zu Hause, wo ihr Vater
warten würde – nein, auch daran durfte sie gar nicht erst denken.
Aber sie hatte Leo gesagt, dass sie zu Hause sein würde, und es war
keine gute Idee, Leo zu enttäuschen.
Sicher, von ihren Großeltern war es nicht so weit
zu Leo wie von Nantwich, aber das brachte rein gar nichts, solange
sie
hier unter den wachsamen Blicken ihrer Mutter und ihrer Oma
festsaß. Die Chance, sich heimlich davonzuschleichen, war gleich
null – jedenfalls, solange sie es allein versuchte.
Sie blickte nachdenklich zu Kit hinüber, der immer
noch am Ende des Tisches bei ihrem Großvater saß. Sam, der sich zu
ihnen gesellt hatte, hopste ungeduldig von einem Fuß auf den
anderen und zeigte mit dem Finger auf eine Lücke, in die seiner
Meinung nach das Puzzleteil passte, das Kit in der Hand hielt. Doch
Kit ignorierte ihn und passte das Stück ganz bedächtig an einer
anderen Stelle ein. Dann hob er den Kopf, fing ihren Blick auf,
errötete und sah gleich wieder weg.
Die Zurückweisung traf Lally wie ein Faustschlag.
Das zögerliche Lächeln gefror ihr auf den Lippen, und sie schämte
sich der Tränen, die plötzlich in ihren Augen brannten. Sie sprang
von ihrem Hocker und flüchtete sich in das angenehm stille und
leere Treppenhaus. Das Gemurmel riss schlagartig ab, als die Tür
hinter ihr ins Schloss fiel. Die Luft war kalt und schien sich wie
ein schweres Gewicht auf ihre erhitzten Wangen zu legen.
Der plötzliche Temperatursturz war wie ein Schock,
und sie stand zitternd da und presste den Handrücken auf den Mund,
damit ihr kein verräterischer Schluchzer entfuhr. Was war denn
heute anders als gestern Abend? Sie hatte Eindruck auf Kit gemacht,
da war sie sich ganz sicher, und das ungewohnte Gefühl der Macht
war ihr zu Kopf gestiegen. Sie hatte der Versuchung nicht
widerstehen können, bei Leo damit anzugeben, obgleich sie wusste,
wie unklug das war. Vom ersten Augenblick an waren die Spannungen
zwischen den beiden Jungen mit Händen zu greifen gewesen.
Aber hinterher in der Kirche schien Kit sich wieder
gefangen zu haben … vielleicht lag es ja nur an ihrer schrecklichen
Familie und den Sachen, die heute passiert waren, dass er nichts
mit ihr zu tun haben wollte. Oder vielleicht hatte sein
Vater sich ihn vorgeknöpft. Als ihr Onkel sie angeschaut hatte,
war es ihr vorgekommen, als könne er durch sie hindurchsehen, und
im Gegensatz zu Gemma hatte sein Blick nichts
Verständnisvolles.
Der Trotz flammte in ihr auf. Leise öffnete sie die
Wohnzimmertür und betrat den leeren Raum. Das Kaminfeuer war bis
auf die Glut heruntergebrannt, und der Baum wirkte nackt ohne die
vielen Pakete. Dieser lächerliche Weihnachtsrummel – das war doch
alles nur ein einziger Schwindel. In Wirklichkeit interessierte
sich doch jeder nur für sich selbst.
Sie ließ die Geschenke liegen und bahnte sich
vorsichtig einen Weg durch das Minenfeld aus Spielsachen, das Toby
und Sam auf dem Teppich hinterlassen hatten, bis sie vor der Bar
stand. Alles schien unberührt – sehr gut. Anscheinend hatte ihre
Großmutter nach dem Essen nicht die Sherryflasche herumgehen
lassen. Sie überprüfte den Pegelstand und kippte dann hastig ein,
zwei Schlucke hinunter, während sie darüber nachdachte, was zu tun
war. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Sich
Mut antrinken, so nannte man das wohl. Nach einem weiteren Schluck
verkorkte sie die Flasche und stellte sie vorsichtig auf ihren
Platz zurück. »Simsalabim«, flüsterte sie. Erst war die Flasche
weg, dann war sie wieder da – genau wie ihre Mutter. Wenn ihre
Mutter einfach so ohne ein Wort der Erklärung verschwinden konnte,
warum sollte sie es nicht genauso machen?
»Was machst du da?« Kits Stimme klang schärfer,
als er beabsichtigt hatte. Seit sie mit den Großeltern hier
angekommen war, hatte Lally sich ganz sonderbar benommen, und als
er gesehen hatte, wie sie sich aus der Küche geschlichen hatte, war
seine Unruhe gewachsen. Als sein Opa gerade mit Sam beschäftigt
gewesen war, hatte er die Gelegenheit genutzt und war ihr
nachgegangen. Er hatte sie in der Diele gefunden, wo
sie sich gerade ihre rosa Fleecejacke anzog. Beim Geräusch seiner
Schritte war sie erstarrt wie ein aufgeschrecktes Kaninchen, doch
als sie gesehen hatte, dass er es war, hatte sie sich entspannt und
war in den anderen Jackenärmel geschlüpft.
»Ich geh raus«, antwortete sie kühl. »Das sieht man
doch wohl.«
»Jetzt?« Kits Stimme quiekste bedenklich, und er
räusperte sich, ehe er erneut ansetzte. »Wohin?«
»Seit wann geht dich das was an?«
Kit, der auf ihren aggressiven Ton nicht
vorbereitet gewesen war, stammelte nur: »Weil du gar nicht Bescheid
gesagt hast. Und weil es … schon dunkel ist.«
»Dunkel?«, echote Lally, und ihre Stimme triefte
vor Hohn. »Willst du mir etwa sagen, ich dürfte im Dunkeln nicht
aus dem Haus gehen, wie ein kleines Mädchen? Für wen hältst du dich
eigentlich, dass du mich hier im Haus von meinen Großeltern
rumkommandierst und mich wie Dreck behandelst?«
»Was?« Kit starrte sie vollkommen verständnislos
an. »Aber ich würde doch nie … Ich hab doch nicht …«
»Das hast du sehr wohl, gerade eben in der Küche.
Du hast mich angeschaut wie etwas, was dir an den Schuhen hängen
geblieben ist!« Ihre Stimme wurde immer schriller.
»Lally, wovon redest du eigentlich?« Als Kit näher
an sie herantrat, besorgt, dass jemand sie hören könnte, stieg ihm
ein Hauch von Parfüm in die Nase. Er steckte die Hände in die
Hosentaschen und widerstand dem Drang, sie zu berühren. »Hör mal,
du bist sicher durcheinander wegen dieser Sache mit deinen Eltern,
aber ich würde nie …«
»Was ist mit meinen Eltern?« Sie sprach jetzt
wieder leise, doch ihre Brust hob und senkte sich im schnellen
Rhythmus ihres Atems, und er wusste, dass er etwas Falsches gesagt
hatte.
»Nichts. Es ist nur so – ich habe gerade gehört,
wie sie sich unterhalten haben, deine Mutter und Rosemary – ich
meine
Oma. Sie sagten, ihr würdet heute Nacht hier bleiben, und ich
dachte …«
»Hier?« Lally starrte ihn verständnislos an. »Sam
und ich?«
»Und deine Mutter.« Er verschwieg bewusst, dass
Rosemary sich Sorgen zu machen schien, weil sie fürchtete, Lallys
Vater könne ihrer Mutter etwas antun.
Lally schien die Bedeutung dessen, was er ihr
gesagt hatte, nicht zu erfassen. »Aber ich will nicht hier
bleiben«, sagte sie störrisch. »Ich will nach Hause. Und ich habe
versprochen …«
»Was hast du versprochen?«, hakte Kit nach, als sie
nicht weiterredete.
Sie schüttelte den Kopf und griff nach der
Türklinke, als sei sie zu einem Entschluss gelangt. »Ich gehe
jetzt. Und zwar zu Leo, falls es dich interessiert. Du kannst ja
mitkommen, wenn du willst.«
»Mein Vater würde mich umbringen«, sagte Kit.
Ebenso gut hätte er sich das Wort »Schlappschwanz« auf die Stirn
tätowieren können.
»Na und? Ich hab ständig Stress mit meinem Alten«,
schleuderte sie ihm entgegen, als sei dies eine besondere
Auszeichnung.
In Gedanken war er plötzlich wieder bei dem
nachmittäglichen Spaziergang mit seinem Vater und der Unterhaltung
mit der Frau auf dem Boot – Annie. Er würde ihr niemals erklären
können, dass er nicht verlieren wollte, was er dabei empfunden
hatte.
Von oben waberten Geräusche durchs Treppenhaus, das
tiefe, brummende Organ seines Vaters, Gemmas hellere Stimme, ein
Lachen. Offenbar war Toby im Bad fertig. Sie würden jeden Moment
wieder herunterkommen, mit Toby, der im Schlafanzug noch ein
Weilchen aufbleiben durfte.
Lally hatte sie auch gehört. »Na los, komm schon!«,
zischte sie.
»Moment.« Jetzt wagte er es endlich, sie zu
berühren, und seine Finger fanden den dicken Fleecestoff ihres
Jackenärmels. Er konnte nicht mit ihr gehen, andererseits würde er
in ihren Augen jede Glaubwürdigkeit einbüßen, wenn er es nicht
täte. »Geh heute nicht mehr weg«, sagte er im verzweifelten
Bemühen, die Entscheidung aufzuschieben. »Warte bis morgen. Dann
komme ich mit.«
Lally zögerte. Mit einem Mal schien all ihre
Energie aufgebraucht. Sie wirkte plötzlich jünger als ihre vierzehn
Jahre und längst nicht mehr so mutig. Der Blick, den sie ihm
zuwarf, war flehentlich. »Versprochen?«
»Versprochen«, sagte Kit, und er fragte sich,
welchen Ärger er sich da wohl gerade eingehandelt hatte.