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Der zehn Jahre alte Aberlour stand ungeöffnet auf Ronnie Babcocks Küchentisch, noch komplett mit roter Geschenkschleife. Er betrachtete die Flasche mit säuerlicher Miene, während er die Post von heute auf den schon bedenklich schiefen Stapel neben der Flasche legte. Dann warf er seinen Mantel über einen Stuhl, auf dem sich ungelesene Zeitungen türmten.
Der Whisky war ein Geschenk von seinem Chef, Superintendent Fogarty, und wenn man sich bei Fogarty auf eines verlassen konnte, dann war es sein sicheres Gespür für das passende Niveau von Geschenken. Kein billiger Blended Whisky – das hätte so ausgesehen, als ob er die Leistungen seines Teams nicht zu schätzen wüsste. Aber die paar Pfund mehr für einen zwölf Jahre alten Aberlour waren ihm dann doch wieder zu schade. Warum mehr ausgeben als unbedingt nötig?, hätte er gesagt. Ein Diplomat durch und durch, dieser Fogarty – kein Wunder, dass er es bei der Kripo so weit gebracht hatte.
Nicht, dass Fogarty ein schlechter Polizist gewesen wäre, sosehr es Babcock auch manchmal gegen den Strich ging, das zugeben zu müssen. Er war lediglich ein noch besserer Politiker, und das war nun einmal eine unabdingbare Voraussetzung erfolgreicher Polizeiarbeit in diesen Zeiten. Fogarty spielte regelmäßig Golf mit den richtigen Lokalgrößen; er wohnte in einem frei stehenden Bungalow in der exklusivsten Ortsrand-Wohnlage von Crewe; und seine leider mit Hasenzähnen geschlagene Gattin war häufig auf den Hochglanzseiten von Cheshire Life zu sehen. Das Leben, das die Fogartys führten, war auch Peggy Babcocks Ideal gewesen, und sie hatte Ronnie oft genug ins Gesicht gesagt, wie dumm es von ihm sei, ihnen nicht nachzueifern.
Babcock hatte dafür immer nur Spott übrig gehabt – und das hatte er jetzt davon. Da saß er nun allein in einer Doppelhaushälfte in der Crewe Road außerhalb von Nantwich, in einem Haus, das er gehasst hatte von dem Moment an, als der Immobilienmakler es ihnen gezeigt hatte. Und Peggy, die darauf bestanden hatte, dass sie es kauften, hatte ihre Koffer gepackt und war gegangen, schnurstracks in die Arme – und in die Wohnung – ebenjenes Immobilienmaklers.
Ein Frösteln durchfuhr ihn, als die Kälte durch den dünnen Stoff seines Jacketts drang. Der Kessel der Zentralheizung hatte schon seit ein paar Tagen Zicken gemacht, aber er hatte weder die Zeit noch die Energie aufgebracht, danach zu sehen, und heute Abend schien das Teil endgültig den Geist aufgegeben zu haben. Jetzt noch einen Heizungsmonteur zu kriegen, war ein Ding der Unmöglichkeit; er konnte sich also auf ein langes, kaltes Weihnachten gefasst machen.
Babcock zog seinen Mantel wieder über und riss die Schleife von der Flasche Aberlour, doch bevor er das Siegel aufbrach, hielt er inne. Die Frage war, ob er seinem Elend jetzt gleich ein Ende bereitete und dafür den Kater am Weihnachtsmorgen in Kauf nahm, wenn er seiner alten Tante einen Höflichkeitsbesuch abstatten musste, oder ob er sich noch beherrschte, bis er sich seiner einen sozialen Verpflichtung entledigt hatte, worauf er dann so tief in den Sumpf alkoholgeförderten Selbstmitleids versinken könnte, wie es ihm beliebte.
Im Kühlschrank waren vermutlich noch ein paar Dosen Bier, wenn auch sonst nicht viel – er könnte sich ein Sandwich machen und das Bier trinken, während er sich den Weihnachtsschrott in Fernsehen reinzog. Die Alternativen waren beide gleich erbärmlich.
Um den Abend nicht allein in seiner Bude verbringen zu müssen, hatte er sich freiwillig für die Feiertagsbereitschaft gemeldet, aber die Bürger von South Cheshire schienen an diesem Heiligabend allesamt bemerkenswert brav zu sein, was er herzlich bedauerte. Am Ende hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass sich noch etwas tun würde, und hatte das deprimierend stille Revier verlassen.
Einen Augenblick lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, Peggy anzurufen, um ihr frohe Weihnachten zu wünschen, aber das hätte wahrscheinlich bedeutet, dass er sich zu einer gesitteten Konversation mit Bert hätte zwingen müssen, und so weit ging seine weihnachtliche Nächstenliebe nun auch wieder nicht.
Also doch Bier und Glotze – und er würde sich die Bettdecke ins Wohnzimmer holen, um die ausgefallene Heizung zu kompensieren. Er wollte schließlich nicht, dass seine Beamten ihn erfroren auf dem Sofa fanden, wenn er nach den Feiertagen nicht wieder zum Dienst erschien. Obwohl es Peggy ganz recht geschähe, der blöden Kuh, dachte er mit einem verächtlichen Schnauben, wenn sie auf ihren Society-Empfängen sein beschämendes Ableben erklären müsste. Andererseits – »gestorben in Erfüllung seiner Dienstpflicht«, das würde ihr Konversationsstoff für viele Jahre liefern. Und er hatte nicht die Absicht, ihr diesen Gefallen zu tun.
Er hatte gerade den Kühlschrank aufgemacht und beim Anblick der einen einsamen Dose Lager und der Schinkenscheiben, die sich am Rand schon rollten, frustriert aufgestöhnt, als das Handy an seinem Gürtel zu vibrieren begann. Noch bevor er einen Blick auf die Nummer geworfen hatte, wusste er, dass es nur die Leitstelle sein konnte – niemand sonst würde ihn am Heiligabend anrufen.
»Lieber Gott, ich danke dir«, stieß er seufzend hervor, die Augen zum Himmel erhoben, während er das Handy aufklappte.
 
Sie saßen zusammengekauert in Juliets Lieferwagen und ließen den Motor laufen in der Hoffnung, dem Gebläse ein wenig warme Luft zu entlocken. Die Fenster waren von ihrem Atem schon ganz beschlagen, und um sie herum wirbelte immer noch der Schnee, der sie von der Außenwelt abschloss.
Kincaid musste plötzlich daran denken, wie er und Juliet als Kinder einmal aus Versehen einen Nachmittag lang im Kohlenkeller eines Nachbarn eingeschlossen worden waren. Er hatte damals ständig Science-Fiction-Romane verschlungen, und als sie dort im Dunkeln gekauert und sich aneinandergedrängt hatten, in scheinbar völliger Isolation, hatte er sich ausgemalt, dass sie die zwei letzten Menschen auf der Erde wären. Zum Glück war irgendwann der Nachbar nach Hause gekommen und hatte ihre Rufe gehört, und so waren sie noch einmal glimpflich davongekommen, waren lediglich ausgeschimpft und ohne Abendessen ins Bett geschickt worden. Aber das seltsam erregende Angstgefühl dieser langen Stunden hatte er nie vergessen.
Neben ihm zog Juliet einen Handschuh aus und hielt die bloße Hand prüfend an die Lüftung. Sie verzog das Gesicht und streifte ihn wieder über. »Immer noch eiskalt«, brummte sie. »Ob es wohl noch lange dauert, bis die Polizei da ist?«
Kincaid erinnerte sich daran, wie sie es immer abgelehnt hatte, getröstet zu werden, und gab ihr deshalb keine beruhigende Antwort. »Würde mich nicht wundern. Sie werden heute wahrscheinlich bloß mit einer Rumpfbelegschaft fahren, und das Wetter ist auch nicht gerade hilfreich.« Er hatte, nachdem er die Ortspolizei verständigt hatte, zunächst Gemma und seine Eltern angerufen, um ihnen die Situation zu erklären, doch als er Juliet sein Handy angeboten und sie gefragt hatte, ob sie Caspar anrufen wolle, hatte sie abgelehnt.
Kincaid hatte seinen Schwager nie sonderlich gemocht – die überhebliche Art dieses Mannes brachte ihn auf die Palme -, aber es bestürzte ihn, wie unglücklich seine Schwester sich anhörte. Er würde sich allerdings hüten, neugierige Fragen zu stellen – oder wenn, dann jedenfalls möglichst taktvoll.
»Wie läuft denn dein neues Geschäft?«, fragte er.
Juliets Miene verriet ihm, dass es die falsche Frage gewesen war. »Das war mein erster großer Auftrag. Wir hatten wegen des schlechten Wetters sowieso schon Probleme, den Zeitplan einzuhalten, und jetzt auch noch diese Geschichte …« Sie zuckte resignierend mit den Achseln. »Und was das Ganze noch schlimmer macht – der Kunde ist ein Freund von Piers …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf, wobei sich noch ein paar Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz lösten. »Mein Gott, was rede ich? Das ist wirklich verdammt egoistisch von mir, nur an meine eigenen Probleme zu denken, während dieses arme Kind … Was glaubst du, was mit ihm passiert ist, Duncan? Und dieser rosa Strampelanzug – war es vielleicht ein Mädchen?«
»Das können wir noch nicht wissen«, antwortete er mit sanfter Stimme. »Aber versuch nicht darüber nachzudenken. Was immer da passiert ist, es ist schon sehr lange her …«
»So lange nun auch wieder nicht«, unterbrach sie ihn. »Diese Decke – die Kinder hatten eine aus dem gleichen Material, als sie klein waren. Es muss die von Lally gewesen sein, glaube ich, weil sie rosa war, aber wir haben sie auch für Sam benutzt.«
»Weißt du noch, wo ihr die gekauft habt?«, fragte er, und sein Herz schlug unwillkürlich schneller – sein Ermittlerinstinkt war geweckt.
»Im Supermarkt vielleicht. Oder in einem dieser Babybedarfsgeschäfte, die es überall gibt. Es war nichts Besonderes.«
Er stellte sich das Kind vor, das nur ein paar Meter von ihnen entfernt lag, das Fleisch von den kleinen Knochen abgefallen, und es erstaunte ihn, mit welcher Sorgfalt es in die billige Decke gehüllt worden war. Aber er hatte schon Eltern erlebt, die ihre Kinder zu Tode geprügelt und anschließend ganz behutsam zugedeckt hatten, und so wusste er, dass dieses Detail nichts zu bedeuten hatte. Und er wollte auch nicht über diese Dinge nachdenken – nicht hier und nicht jetzt.
»Wie schafft ihr das?«, fragte Juliet leise, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Wie könnt ihr euch Tag für Tag mit solchen Dingen befassen und trotzdem abends eure Kinder ins Bett bringen, ohne in Panik zu verfallen? Sie sind so zerbrechlich, so schutzlos. Man denkt immer, es ist am schlimmsten, wenn sie noch Babys sind, aber wenn sie dann größer und selbstständiger werden und man sie nicht mehr die ganze Zeit um sich hat, dann macht man sich auf einmal klar, was alles passieren könnte …«
Er musste sofort an Kit denken und daran, wie blind er gewesen sein musste, dass er die Probleme aus dieser Ecke nicht vorausgeahnt hatte. Und seine Nichte war, wie er sich erinnerte, im gleichen Alter. »Jules, hast du Probleme mit Lally?«, fragte er.
»Nein. Nein, natürlich nicht.« Juliet zog ihren Handschuh wieder aus, aber diesmal streifte sie auch den zweiten ab, nachdem sie die Heizung getestet hatte, und rieb sich die Hände im warmen Luftstrom. »Es ist nur, weil … Vor einem Monat wurde ein Junge aus Lallys Schule ertrunken aus dem Kanal gezogen. Er war vierzehn. Wie es hieß, war Alkohol im Spiel.« Sie sah zu ihm auf und hielt die Hände still. »Er war ein guter Junge, Duncan. Ein netter Junge und ein guter Schüler, hat nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Wenn es schon einem Kind wie ihm passieren kann …«
»Ich weiß. Das heißt, dass sie alle vor so etwas nicht gefeit sind.« Ihm wurde bewusst, dass er seine Nichte überhaupt nicht kannte, dass er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, ob sie in irgendeiner Weise gefährdet war. »Wie geht es Lally denn damit? Das muss doch für sie sehr schlimm gewesen sein.«
»Ich weiß es nicht. Die Schule hat für alle, die es wollten, eine psychologische Beratung angeboten, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie hingegangen ist. Sie redet nicht mehr mit mir. Aber in den letzten paar Wochen ist sie mir schon verändert vorgekommen. Noch verschlossener.« Juliet seufzte. »Vielleicht ist es ja nur das Alter. Ich war bestimmt auch ziemlich schwierig mit vierzehn.«
»Schwierig ist gar kein Ausdruck«, frotzelte er. Doch falls er auf ein Lächeln als Reaktion gehofft hatte, sah er sich getäuscht. Juliet warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte, stülpte sich hastig die Handschuhe wieder über und verkroch sich tiefer in ihre Jacke.
Wie kam es nur, fragte sich Kincaid, dass er es bei seiner Schwester immer wieder schaffte, ins Fettnäpfchen zu treten?
 
Ronnie Babcock spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss, als er aus seiner Einfahrt auf die Straße zurücksetzte. So dankbar er für jeden Anlass war, den Abend nicht in Gesellschaft seiner eigenen Wenigkeit verbringen zu müssen, hatte er doch nichts Ernsteres erwartet als einen von übermäßigem Alkoholkonsum angefachten Familienkrach oder vielleicht einen Einbruch in einem Haus, dessen Bewohner über die Feiertage verreist waren. Aber ganz bestimmt hatte er nicht an eine eingemauerte Kinderleiche gedacht, als sein Telefon geklingelt hatte – im mindesten Fall also ein verdächtiger Todesfall, vielleicht sogar ein Mord.
Er zwang sich, seinen PS-starken BMW ein wenig an die Kandare zu nehmen. Es schneite immer noch, und die Straßen würden bald gefährlich glatt sein. Obwohl er gerne schnell fuhr, war er bei diesem Auto vorsichtig – wehe dem, der seiner schwarzen Bestie, wie er das Auto gerne nannte, einen Kratzer oder eine Delle verpasste. Er hatte die 320er Limousine gebraucht gekauft, nachdem Peggy ihn verlassen hatte, und die Bemerkungen auf dem Revier über die »Wechseljahre des Mannes« ignorierte er einfach. Er war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und in seinen Augen stand der Wagen für all das, von dem er nie geglaubt hätte, dass er es je erreichen würde.
Und von wegen »Wechseljahre« – so alt war er schließlich auch noch nicht. Als er vor dem Kreisverkehr an der A 51 abbremste, zog er den Knoten seiner Krawatte stramm und begutachtete sich kurz im Innenspiegel. Mit seinen einundvierzig Jahren hatte er noch sehr dichtes Haar, von den leichten Geheimratsecken abgesehen, und die paar grauen Strähnen fielen in der blonden Pracht so gut wie gar nicht auf. Und er hatte auch immer noch die gleiche Statur wie in seiner aktiven Zeit als Fußballer, an die auch die gebrochene Nase und die Narbe quer über die Wange erinnerten – von einem Fußballstiefel, der ihn voll ins Gesicht getroffen hatte. Im Vernehmungsraum gereichte ihm sein leicht ramponiertes Antlitz oft zum Vorteil, und er ging davon aus, dass es Frauen gab – von seiner Ex wollte er ja gar nicht reden -, die es gar nicht so unattraktiv fanden.
Auf den Straßen war weniger los, als er gedacht hatte, und er konnte in null Komma nichts am Ort des Anrufs sein, wenn er Nantwich auf der A 51 nördlich umging. Doch am Kreisverkehr bei Burford zweigte die A 51 nach Norden Richtung Chester ab, und im Schneegestöber ging die Sicht rapide gegen null. Jetzt kam er nur noch im Schritttempo voran, und er fluchte halblaut, während er an die logistischen Probleme der Spurensicherung bei diesen Wetterverhältnissen dachte. Aus dem kurzen Bericht, den er erhalten hatte, ging nicht klar hervor, ob der Fundort der Leiche vor den Elementen geschützt war.
Seine Flüche wurden lauter, als er an der Abzweigung vorbeischoss, weil er sie zu spät gesehen hatte. Er musste noch eine Meile weiter bis nach Barbridge fahren, ehe er eine Stelle zum Wenden fand. Jetzt fuhr er wirklich im Schneckentempo zu dem Feldweg zurück, und diesmal verfehlte er ihn nicht. Doch sein Triumphgefühl war schnell wieder verflogen, als er feststellen musste, dass er noch nicht einmal erkennen konnte, in welche Richtung der Weg verlief. Und der BMW mochte zwar einen starken Motor haben, aber für ungeteerte Feldwege bei heftigem Schneefall war er nicht gerade das geeignete Gefährt. Er ließ den Wagen ausrollen und fragte sich schon, ob er wirklich aussteigen und den Rest des Weges mit einer Taschenlampe auf Schusters Rappen zurücklegen müsste. Er hatte nur einen leichten Mantel dabei; seine Schuhe waren neu und teuer und würden im Nu durchweicht sein.
Aber als er gerade die Batterien in der Taschenlampe überprüfte, die er immer in der Türablage dabeihatte, begann sich der weiße Vorhang um seinen Wagen herum ein wenig zu lichten. Ein paar Sekunden später konnte man schon wieder einzelne Flocken erkennen, und bald darauf schwebte nur noch hier und da ein einzelnes glitzerndes Kristallpünktchen herab.
Babcock befürchtete, dass das Wetter ihm nur eine kurze Schonfrist gewährte, aber immerhin konnte er jetzt vor der Motorhaube ein paar Meter Straße erkennen, und er war entschlossen, die Situation auszunutzen. Er legte den Gang ein und lenkte den BMW im Schritttempo über den Feldweg, bis er nach kurzer Zeit das Blaulicht der Streifenwagen wie ein Leuchtfeuer in der weißen Wüste blinken sah.
Als er aus dem Waldstück herauskam, erblickte er einen Ford Escort und einen weißen Lieferwagen, wie er von Bauunternehmern und Installateuren benutzt wurde, beide angestrahlt von den Scheinwerfern der Einsatzwagen. Einer der Streifenbeamten stand draußen im Gespräch mit zwei Zivilisten, und als Babcock näher kam, konnte er sehen, dass die größere Gestalt ein Mann in einem eleganten Mantel war; die zweite, die er zuerst auch für einen Mann gehalten hatte, entpuppte sich als eine Frau in grober Arbeitskleidung. Hinter ihnen war im flackernden Schein von Taschenlampen schemenhaft eine Gruppe niedriger Wirtschaftsgebäude zu erkennen.
Was für ein gottverlassener Ort – und wie kam es, dass diese Leute hier am Heiligabend eine Leiche entdeckt hatten? Er stapfte vorsichtig über die verschneiten Reifenfurchen, um seine Schuhe zu schonen, obwohl ihm schon klar war, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war. Wenigstens würde er nicht der Einzige mit ruiniertem Schuhwerk sein, dachte er mit einiger Befriedigung, als er den Schnitt des Mantels sah, den der andere Mann trug.
Die Frau war recht hübsch, dunkelhaarig, und irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Und als der Mann sich dann zu ihm umdrehte und der volle Lichtschein sein Gesicht erhellte, entfuhr Ronnie Babcock ein unwillkürlicher Überraschungslaut. Was um alles in der Welt machte der denn hier?
»Ich glaub, ich seh nicht recht«, sagte er, als er die beiden erreichte. »Wenn das nicht mein alter Kumpel Duncan Kincaid ist!«
 
Ihre Haut war blass und fühlte sich klamm an. Schlimmer noch – im Dämmerlicht der Kabine schien es Gabriel Wain, dass die Lippen seiner Frau einen Stich ins Bläuliche hatten. Als er ihr das dunkle Haar aus der Stirn strich, regte sie sich unruhig unter seiner Berührung und schlug die Augen auf.
»Gabe, du vergisst es doch nicht, ja?«, flüsterte sie. »Sie wären sonst so enttäuscht …«
»Natürlich vergesse ich es nicht, Frau. Ich mach’s, sobald sie eingeschlafen sind, versprochen.« Aus der Kabine nebenan war Geraschel und dann und wann ein Kichern zu hören – ihr Sohn und ihre Tochter, die vor Aufregung und Vorfreude auf Weihnachten noch lange nach ihrer Schlafenszeit wach waren. Die Strümpfe mit den Geschenken würden sie am Fußende ihrer Kojen finden, auch wenn es nur Stricksocken mit Orangen, Zuckerbonbons und ein paar netten Kleinigkeiten aus dem Laden an der Venetian Marina waren.
In der großen Kabine waren noch ein paar andere Überraschungen versteckt, verpackt in Buntpapier: Malstifte und Farben; ein paar raffinierte dreidimensionale Karten mit Szenen des Lebens auf dem Kanal, die die Kinder über ihren Betten aufhängen könnten; für jeden ein Buch. Und dann noch eine Puppe für die siebenjährige Marie und für den neunjährigen Joseph sein erstes Taschenmesser. Damit sie sich diese Sachen leisten konnten, hatte Rowan viele Stunden zusätzlich arbeiten müssen. Um das Familieneinkommen aufzubessern, bemalte sie Teller, Tassen und Teekannen mit den traditionellen Rosen- und Burgenmotiven der Kanalschiffer. Doch nun war sie von der übergroßen Anstrengung erschöpft. In letzter Zeit brauchte es allerdings nicht viel, um sie zu erschöpfen. Die Sorge wühlte in seinen Eingeweiden wie ein Wurm, und seine Hilflosigkeit angesichts ihrer zunehmenden Hinfälligkeit machte ihn so wütend, dass seine Hände unentwegt zitterten. Doch er versuchte, diese Gefühle vor ihr zu verbergen. Er wusste, warum sie nicht in einem Krankenhaus oder bei einem Arzt Hilfe suchen wollte – er begriff ebenso gut wie sie, was die Folgen sein würden. Und so tat er, was er konnte: Mit dem Boot und den Schleusen ließ er sich von den Kindern helfen, überdies hatte er auch fast den ganzen Haushalt übernommen, und er gab sich alle erdenkliche Mühe, die Kinder zu trösten und darauf zu achten, dass sie ordentlich lernten.
Aber es war nicht genug – er wusste, dass es nicht genug war, und er wusste, dass er ohne Rowan verloren wäre.
Er rückte ein Stück näher an die Bettkante, um seiner Frau die Decke fester um die Schultern ziehen zu können. Selbst durch seinen dicken Pullover hindurch konnte er die Kälte spüren, die langsam, aber sicher in jeden Winkel des Boots drang. Die einzige Wärmequelle war der Ofen in der Wohnkabine, aber so spät am Abend wagte er kein Holz mehr nachzulegen. Er hatte immer einen Vorrat an Brennholz auf Deck gelagert, sowohl für ihren eigenen Bedarf als auch zum Verkauf an andere Schiffer. Und jetzt um die Weihnachtszeit, wo kaum noch Gelegenheitsjobs zu bekommen waren, konnte er es sich nicht leisten, ihre einzige Geldquelle einfach zu verheizen. Bei der geschlossenen Schneedecke würde es auch schwierig sein, den Brennholzvorrat aufzustocken – wenn das kalte Wetter länger als ein paar Tage andauerte, würden sie ernsthafte Probleme bekommen.
Rowans Augenlider wollten schon wieder zufallen. »Jetzt schlaf schön, hörst du?«, flüsterte er. »Ich kümmere mich um alles.« Und das würde er auch – nur wie er es schaffen sollte, das konnte er immer weniger erkennen.
Er stand einen Moment lang da und blickte sich in der Kabine um. Der Topf mit den Resten des Eintopfs, den er zum Abendessen gekocht hatte, stand noch auf dem Gaskocher. Er betrachtete die Zierteller und Messinggerätschaften, die die polierten Holzwände schmückten, die farbenfrohen Details der Burgenszene, die Rowan auf die Unterseite des Klapptischs gemalt hatte. Die Kinder hatten Lametta und eine rotgrüne Luftschlange über die Fenster drapiert, und Marie hatte ein selbst gemaltes Bild aufgehängt, das den Weihnachtsmann mit einer spitzen Mütze auf dem Kopf zeigte.
Im Ofen war nur noch glimmende Asche. Mit jäher Entschlossenheit nahm Gabe ein Scheit aus dem Korb und legte es ins Feuer. Es war schließlich Weihnachten, und er wollte verdammt sein, wenn sie das Fest frierend verbringen würden. Vielleicht würde das Wetter ja morgen umschlagen. Vielleicht würde er noch vor Neujahr einen Schreinerjob auf dem Bau bekommen. Er hatte seine Kontakte hier in der Gegend – das war das Einzige, was ihn dazu bewogen hatte, an diesen Abschnitt des Kanals bei Nantwich zurückzukehren.
Ja, gewiss, dachte er, und wie so oft in diesen Tagen überkam ihn eine Woge der Bitterkeit. Vielleicht würde der Weihnachtsmann ja tatsächlich kommen. Vielleicht würde die provisorische Toilette des Boots ausnahmsweise mal ohne Mucken funktionieren. Und vielleicht würde es seiner Frau durch irgendein Wunder plötzlich besser gehen, statt dass sie von Minute zu Minute schwächer und gebrechlicher wurde.
Die Tränen brannten ihm in den Augen, und er blinzelte sie verärgert weg, während er mit dem Schürhaken das Feuer anfachte, bis es ihm fast das Gesicht versengte. Sie entglitt ihm zusehends, und er konnte es einfach nicht ertragen, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten.
Er sah nur noch eine Möglichkeit. Er konnte das Boot verkaufen. Es gab immer Sammler, die am Kanal herumschnüffelten, auf der Jagd nach traditionellen, noch im Betrieb befindlichen Narrowboats, erbaut vor den Fünfzigerjahren, je weniger verändert, desto besser. Und dass ganze Familien in den zwei mal zweieinhalb Meter großen Kabinen gelebt, dass kleine Kinder auf den abgedeckten Kohle- oder Kakaoladungen im Frachtraum gespielt hatten – das machte das Ganze nur noch romantischer.
Gabe schnaubte verächtlich. Alles Idioten, die unbedingt Kanalschiffer spielen wollten – von denen würde keiner seine Daphne kriegen. Er war auf diesem Boot geboren, genau wie sein Vater, und jetzt war seine Familie eine der letzten, die noch an der alten Lebensweise festhielten.
Und das Boot zu verkaufen wäre doch bestenfalls eine Notlösung – das wusste er. Wo sollten sie denn hingehen? Was sollten sie tun? Sie hatten nichts anderes gelernt, und nirgendwo sonst konnten sie sich sicher fühlen.
Er dachte an das Gesicht aus der Vergangenheit, das ihm heute so unerwartet erschienen war. Es war an der Einmündung des Middlewich-Arms bei Barbridge gewesen, wo die Frau ihr Boot um die enge Kurve manövriert hatte – sehr geschickt, hatte er sich gedacht, dafür, dass sie das Boot ganz allein steuerte. Und dann hatte sie aufgeblickt.
Es hatte einen Moment gedauert, bis er das Gesicht in der ungewohnten Umgebung richtig eingeordnet hatte – und dann hatte ihm die alte Angst das Herz zusammengeschnürt. Auch sie hatte ihn und seine Familie erkannt, hatte sich freundlich mit Rowan und den Kindern unterhalten, aber er traute ihr nicht. Warum sollte er auch? Etwa wegen dem, was die Frau für sie getan hatte?
Sie und ihresgleichen hatten immer nur Ärger bedeutet, ganz gleich, wie gut sie es gemeint hatten – nichts als Ärger für ihn oder seine Leute. Er war der Idiot gewesen, wenn er geglaubt hatte, er könnte endlos davor davonlaufen.
Leise trat er in die Kabine der Kinder und blickte auf ihre schlafenden Gestalten hinunter. Das Licht, das von der Schneedecke draußen reflektiert wurde, schien heller als ein Vollmond durch das Fenster. Er kniete sich neben die Koje seiner Tochter, und als er mit seiner großen, schwieligen Hand über ihre Locken strich, reifte ein eiserner Entschluss in ihm.
Er wusste nur eines, und das war genug. Er würde tun, was getan werden musste, um den Rest seiner Familie vor Schaden zu bewahren.