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Die provisorische Soko-Zentrale im Keller der Polizeidirektion war mit einem Sammelsurium wackliger und zerkratzter Möbel eingerichtet worden, die irgendwo anders gerade nicht gebraucht wurden, und Computer standen kreuz und quer auf Tischen und Schreibtischen herum. Ein Gewirr von Kabeln zog sich über den abgestoßenen Fußboden wie eine Invasion von Schlangen, und als eingefleischter Technikfeind vermutete Babcock, dass sie auch mindestens ebenso gefährlich waren.
Es war kalt, wie zu jeder Jahreszeit in den Kellergeschossen des alten Hauses, und was die Atmosphäre noch ein bisschen behaglicher machte, war der penetrante Geruch nach Kartoffeln, Zwiebeln und frittiertem Teig, der durch den Raum wehte. Irgendjemand musste sich zum Frühstück ein Cornish Pasty genehmigt haben. Allein bei dem Gedanken begann Babcocks Magen zu rebellieren.
Er unterdrückte sein Unbehagen, drehte sich zu der weißen Tafel um, die an einer Wand lehnte, und schrieb: »UNBEKANNTE WEIBLICHE KINDERLEICHE.«
»Solange wir nichts Gegenteiliges in Erfahrung bringen«, sagte er, »werden wir davon ausgehen, dass es sich bei dem Kind um ein Mädchen handelt.«
Seine Leute hatten es sich so bequem gemacht, wie es die Umstände eben zuließen, und er ließ den Blick über ihre Gesichter schweifen, um sicherzugehen, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte, ehe er fortfuhr. Mit einem ausgetrockneten roten Marker, der die unangenehme Eigenschaft hatte, bei jedem Strich laut zu quietschen, listete er die Ergebnisse der Obduktion auf. »Sechs bis achtzehn Monate alt. Vor mindestens einem Jahr eingemauert, wahrscheinlich im Winter. Todesursache nicht eindeutig feststellbar.«
Eine der Detective Constables stöhnte. »Sie machen Witze, Chef. Mehr haben wir nicht in der Hand?«
»Wie – haben Sie etwa Wunder erwartet?«, imitierte Babcock einigermaßen glaubwürdig Dr. Elsworthy, was ihm einen Lacherfolg bei seiner Gruppe einbrachte. Er hatte gehört, wie sie untereinander über den Diensteinsatz an ihrem freien Tag gemeckert hatten, und er brauchte ihr volles Engagement.
»Damit scheiden wohl die derzeitigen Eigentümer aus – also diejenigen, die den Viehstall gerade umbauen lassen«, sagte Rasansky. Er fläzte auf dem Stuhl ganz vorne an der Tafel und hatte seine langen Beine so weit ausgestreckt, dass Babcock fast darüberstolperte.
»Möglicherweise. Wahrscheinlich. Aber nicht die Fosters.« Babcock tippte sich mit dem Marker an die Nase, während er nachdachte. »Obwohl, wenn sie ein kleines Kind in dem Stall eingemauert hätten, wären sie wohl nicht so scharf darauf gewesen, an jemanden zu verkaufen, der vorhatte, die Wände einzureißen. Ich würde sie vorläufig mal auf die Reservebank setzen, aber wir werden sie auf jeden Fall noch einmal vernehmen müssen. Bleiben also …«
»Entschuldigen Sie, Chef.« Es war Sheila Larkin, die Polizistin , die vorhin angesichts der bescheidenen Obduktionsergebnisse gestöhnt hatte. Sie war eine intelligente junge Frau, und Babcock war immer froh, sie im Team zu haben, bis auf die Tatsache, dass ihre sehr kurzen Röcke seine männlichen Beamten von der Arbeit ablenkten – ganz zu schweigen von ihm selbst. An diesem Morgen hockte sie auf einer Tischkante und hatte die Füße auf einen Stuhl gestellt, und er musste sich zwingen, den Blick von ihren nackten Oberschenkeln zu wenden. Er fragte sich, wie sie es schaffte, in dem Aufzug nicht zu erfrieren.
»Wenn die Fosters den Viehstall gar nicht genutzt haben«, fuhr sie fort, »wäre es dann nicht möglich, dass die Tat ohne ihr Wissen ausgeführt wurde?«
»Gute Frage. Ich glaube nicht, dass unser Mr. Foster sich allzu oft aus seinem Sessel erhebt. Und ich halte es für möglich, dass das Ganze in der Nacht passiert ist. Dürfte nicht länger als ein, zwei Stunden in Anspruch genommen haben, oder? Ich bin handwerklich nicht so begabt«, fügte Babcock hinzu.
»Ein Kinderspiel«, meinte Rasansky. »Eine Laterne, ein Eimer Mörtel, eine Kelle. Natürlich vorausgesetzt, dass da schon eine Aussparung in der Mauer war, die man nur noch ausfüllen musste.«
Babcock runzelte die Stirn. »Trotzdem, ich habe meine Zweifel, dass der Täter einfach so mit einem Eimer Mörtel rumspaziert ist in der Hoffnung, irgendwo ein geeignetes Plätzchen zu finden, um ein Baby verschwinden zu lassen. Nein, er muss die Tat geplant haben, und er muss den Viehstall gekannt und gewusst haben, zu welchen Zeiten er wahrscheinlich unbeobachtet sein würde.«
»Könnte ein Maurer schätzen, wie alt der Mörtel ist?«, fragte Larkin und schlug die Beine übereinander, wobei noch mehr von ihrem drallen weißen Oberschenkel sichtbar wurde. Travis, der Spurensicherungsbeamte, schien sich von dem Anblick gar nicht mehr losreißen zu können, und Babcock fragte sich, ob es möglich wäre, Larkin diesbezüglich einmal diskret zu ermahnen, ohne dass er sich gleich eine Beschwerde wegen unangemessener sexueller Äußerungen einhandelte.
»Ich muss Juliet Newcombe noch einmal vernehmen«, sagte er. »Dann werde ich sie danach fragen.« Er wandte sich an Travis. »Hat der Suchtrupp irgendetwas gefunden?«
Nachdem er in aller Ruhe noch einen letzten ausgiebigen Blick auf Larkins Beine geworfen hatte, wandte Travis seine Aufmerksamkeit endlich Babcock zu. »Null Komma nix, Chef. Gebrauchte Kondome, Zigarettenkippen, Fastfoodkartons, Bierdosen. Genau die Zusammenstellung, die man auf einer Baustelle erwarten würde, zu der auch Jugendliche Zugang haben, die sich mal ein bisschen amüsieren wollen.«
Babcock hatte auch nichts Hilfreicheres erwartet. Er wandte sich an Larkin, die den Auftrag gehabt hatte, die Vermisstendatei zu durchsuchen. »Und hat der Computer irgendwas ausgespuckt, Sheila?«
»Ohne irgendwelche Parameter ist das schwierig, Chef. Ich habe mit den letzten fünf Jahren angefangen, Kinder unter zwei Jahren, und eingeschränkt auf den Raum South Cheshire. Keine Treffer, weder männliche noch weibliche.«
»Wir werden uns trotzdem vorläufig auf South Cheshire beschränken, da ich es für unwahrscheinlich halte, dass irgendjemand von außerhalb von dem Viehstall gewusst haben könnte. Aber lassen Sie uns lieber zwanzig Jahre zurückgehen. Dr. Elsworthy sagt zwar, dass es sich bei dem Stoff um relativ moderne Synthetikmischungen handeln dürfte, aber selbst die zwanzig Jahre sind im Moment nur eine reine Vermutung. Es könnten genauso gut einundzwanzig oder mehr sein. Wenn wir die Analyse des Materials aus dem Labor haben, können wir den Zeitraum vielleicht noch etwas weiter eingrenzen.«
»Jawohl, Chef«, antwortete Larkin in ihrer gewohnt übereifrigen Manier.
Er nickte ihr beifällig zu, ehe er sich wieder den anderen zuwandte. »Ich denke, abgesehen von der Identifizierung eines vermissten Kindes, das in unser Schema passt, ist unsere oberste Priorität die Suche nach den früheren Eigentümern, den Smiths. Kevin, ich möchte, dass Sie die Anwohnerbefragung ausdehnen. Es muss doch irgendjemanden geben, der weiß, wohin sie gegangen sind.«
»Ich habe schon zweimal jemanden zu dem großen Haus am Anfang des Feldwegs geschickt, aber es ist nie wer zu Hause«, rechtfertigte sich Rasansky. »Das sind die nächsten Nachbarn neben den Fosters, und sie dürften noch am ehesten etwas wissen.«
»Na, versuchen Sie’s halt weiter. Und, Kevin«, fuhr er fort, »sehen Sie zu, dass Sie Jim Craddock an die Angel kriegen – das ist der Immobilienmakler, der den Verkauf des Anwesens für die Smiths abgewickelt hat. Und wenn Sie schon dabei sind, schauen Sie doch mal bei Somerfield’s und Safeway rein, und wo Sie sonst noch denken, dass Babyprodukte verkauft werden – ach, verdammt.« Er rieb sich frustriert das Kinn. »Ich vergesse immer wieder, dass die Geschäfte ja geschlossen haben. Also, das müssen wir dann auf übermorgen verschieben. Ist wohl Ihr Glückstag heute, Sergeant.«
Befriedigt registrierte er Rasanskys säuerlichen Blick, und während alle sich an die ihnen zugewiesenen Aufgaben machten, überraschte Babcock sich selbst, indem er plötzlich halblaut zu pfeifen begann.
 
Noch geblendet von dem in der Sonne glitzernden Schnee, brauchte Annie eine Weile, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel in der Bootskabine gewöhnt hatten. Die Vorhänge waren fast ganz zugezogen, und nur eine einsame Öllampe brannte auf dem Klapptisch. Im Holzofen glomm ein schwaches Feuer, doch die Kälte lastete auf dem kleinen Raum wie eine zähe Masse, die in jeden Winkel drang.
Gabriel hatte im ehemaligen Frachtraum des Boots eine Kombüse, ein Bad und ein Schlafzimmer eingerichtet, doch die Hauptkabine hatte er so weit wie möglich unverändert belassen. Als Annie sich umsah, hatte sie das Gefühl, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen.
Die Holzverkleidung war dunkel, abgesetzt mit Streifen in fröhlichem Rot, und jeder freie Quadratzentimeter an den Wänden war mit Gerätschaften aus poliertem Messing und Porzellantellern geschmückt, wie sie von den Schiffern traditionell gesammelt wurden. Rowan hatte Annie einmal erzählt, dass sie die Stücke von ihrer Mutter geerbt habe. Die Rückenlehne der Sitzbank war mit einer kleinen Burg verziert, und Annie erinnerte sich, dass die Unterseite des Klapptischs ebenso bemalt war. Die Seitenwand einer Truhe schließlich war über und über mit Rosen bedeckt – alles Rowans Werk.
Aber heute saß nur Joseph an dem Tisch. Er hatte seinen dunklen Lockenkopf über Papier und Stifte gebeugt und blickte nicht auf, als Annie die Kabine betrat. Gabriel und Marie, das kleine Mädchen, waren hinter ihr auf der Treppe stehen geblieben, was Annies Unbehagen noch verstärkte.
»Hallo, Joe«, sagte sie. Er musste fast neun sein, dachte sie; ein hübscher, gut geratener Junge, der die gesundheitlichen Probleme, die ihn als Baby und bis ins Kindergartenalter hinein geplagt hatten, offenbar überwunden hatte.
Er war zwei Jahre alt gewesen, als seine Eltern ihn das erste Mal in das hiesige Krankenhaus gebracht hatten. Sie hatten dem behandelnden Arzt berichtet, der Junge leide an Anfällen, und seine Atmung habe schon mehrmals ausgesetzt.
Der Arzt hatte den Jungen untersucht und keine Anzeichen einer Epilepsie entdecken können. Er fand jedoch Blutergüsse an Armen und Beinen, die von einem heftigen Anfall herrühren könnten.
Im Lauf der nächsten Monate brachten die Wains Joseph immer wieder ins Krankenhaus, doch der Befund blieb nach wie vor unklar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Wains ein Nomadenleben geführt, doch wegen des schlechten Gesundheitszustands ihres Sohnes hatte Gabriel sich in der Nähe von Nantwich eine vorübergehende Beschäftigung gesucht. Auch war Rowan wieder schwanger und machte eine schwere Zeit durch.
Frustriert und ungeübt im Umgang mit der Krankenhausbürokratie, war Gabriel Wain gegenüber Ärzten und Pflegepersonal zunehmend aggressiv geworden. Die Schiffer hatten schon immer ein gesundes Misstrauen gegenüber Krankenhäusern gehegt, und Gabriel selbst war eines der letzten Babys gewesen, die von Schwester Mary in Stoke Bruene am Grand Union Canal entbunden worden waren – der Krankenschwester, die ihr Leben dem Dienst an dem kleinen Völkchen der Kanalschiffer gewidmet hatte.
Als der Arzt den Eintrag des Jungen in der Kartei des staatlichen Gesundheitsdienstes aufrief, stellte er fest, dass die Wains nicht zum ersten Mal ärztliche Hilfe für ihren Sohn in Anspruch genommen hatten. Als Joseph noch kein Jahr alt gewesen war, hatten sie ihn in ein Krankenhaus in Manchester gebracht und gesagt, er behalte sein Essen nicht bei sich. Auch damals war keine Diagnose gestellt worden.
Der Argwohn des Arztes war geweckt, und nach einer ganz besonders heftigen Auseinandersetzung mit Gabriel hatte er Josephs Akte dem Jugendamt übergeben.
Sein beigefügter Bericht war vernichtend. Er glaubte, die Eltern hätten die Symptome nur erfunden und den Jungen möglicherweise misshandelt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Seine offizielle Anschuldigung – Annie konnte sie nicht mehr als Diagnose bezeichnen – lautete auf MSS: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Annies Aufgabe als mit dem Fall betraute Sozialarbeiterin war es gewesen, den Behauptungen des Arztes nachzugehen.
»Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich, Joe«, sagte sie jetzt, »aber ich habe dich gekannt, als du noch ganz klein warst.«
Joseph sah sie flüchtig an, nickte und schlug sofort die Augen nieder. Aus der Röte, die ihm in die Wangen stieg, schloss Annie, dass er extrem schüchtern sein musste. Sie fragte sich, ob die Familie je lange genug an einem Ort geblieben war, um dem Jungen einen Schulbesuch zu ermöglichen.
»Deine Mama wollte mich …«, begann sie, als hinter ihr Gabriels Stimme ertönte.
»Da lang«, sagte er knapp und deutete auf den Gang, der zur Kombüse und den dahinter liegenden Schlafräumen führte. Er stieg die Stufen zur Kabine hinunter, mit Marie, die wie eine Klette an seinem Bein hing, und in dem kleinen Raum schien es plötzlich bedrohlich eng zu werden. Annie fürchtete sich ein wenig, doch im nächsten Moment fand sie ihre Angst schon lächerlich. Gabriel würde ihr nie etwas zuleide tun – schon gar nicht, wenn seine Frau und die Kinder dabei waren.
Sie folgte seinen Anweisungen und ging durch die sauber aufgeräumte Kombüse in die Kabine dahinter. Hier war der Vorhang ein Stück zurückgezogen, genug, um die Gestalt erkennen zu können, die auf Kissen gestützt in dem Kastenbett lag.
»Rowan!«, stieß Annie unwillkürlich hervor. Schon gestern hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Frau krank aussehe, doch heute schien ihre Haut regelrecht grau, und selbst in der abgedunkelten Kabine war zu erkennen, dass ihre Lippen blau angelaufen waren.
Rowan Wain lächelte und begann mit sichtlicher Anstrengung zu sprechen. »Ich habe Ihre Stimme gehört.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Fenster, das auf den Leinpfad hinausging. »Ich konnte Sie nicht einfach gehen lassen – Sie hätten ja denken müssen, wir wüssten überhaupt nicht zu schätzen, was Sie damals für uns getan haben. Aber jetzt brauchen wir keine Hilfe. Wir kommen sehr gut allein zurecht.«
Annie war bewusst, dass Gabriel hinter ihr in der Tür stand und dass inzwischen beide Kinder sich hinter ihm drängten, doch sie versuchte, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Da die kleine Kabine keine weiteren Möbel enthielt, sie aber auch nicht während des ganzen Gesprächs auf Annie hinuntersehen wollte, setzte sie sich vorsichtig auf den Rand des Kastenbetts. Gabriel hatte es selbst gemacht, erinnerte sie sich nun; ein schönes Beispiel seiner Tischlerkunst.
»Sie haben jetzt auch ein Boot«, fuhr Rowan lächelnd fort. »Zusammen mit Ihrem Mann?«
In Gegenwart dieser Frau, die ihr ganzes Leben ihrer Familie gewidmet hatte, brachte es Annie plötzlich nicht übers Herz einzugestehen, dass sie ihren Mann verlassen hatte – aus einer Laune heraus, wie Rowan es vermutlich sehen würde. Sich selbst finden - das war ein Luxus, den sich nur die Angehörigen der gehobenen Mittelschicht leisten konnten. Und solange sie Gabriels feindselige Blicke im Rücken spürte, wollte sie auch nicht unbedingt zugeben, dass sie allein war. »Ja«, sagte sie schließlich und nickte.
»Aber gestern haben Sie das Boot doch allein gesteuert. Und gar nicht so schlecht.«
»Mein Mann … hatte in Tilston zu tun, in unserem Haus.« Die kleine Ausflucht kam ihr schon leichter über die Lippen, aber dann fiel ihr ein, dass sie Gabriel ja schon gesagt hatte, dass sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte. Nun ja, sie würde sich eben irgendwie durchmogeln müssen. »Er kommt bald zurück«, sagte sie und verzog innerlich das Gesicht. Sie wusste, dass sie sich gerade als eine derjenigen geoutet hatte, die ihr Boot nur als Zweitwohnung benutzten, eine Praxis, für die der traditionelle Kanalschiffer nur Verachtung übrig hatte. »Es wundert mich, dass ich … dass wir Ihnen nicht schon früher begegnet sind.«
Rowan wandte den Blick ab. »Wir waren eine Zeit lang in der Gegend von Manchester, aber da gibt’s keine Arbeit mehr.«
Nach dem Schweigen des Generators, dem bescheidenen Feuer im Ofen und dem leicht heruntergekommenen Zustand des Boots selbst zu schließen, war die Lage am Shropshire Union Canal auch nicht viel besser. Es war so kalt im Boot, dass Rowan zusätzlich zu dem alten Wollpullover, den sie trug, in mehrere Schichten von Decken eingehüllt war, und wenn sie sprach, kondensierte ihr Atem zu kleinen Wölkchen.
»Rowan, wenn Sie Schwierigkeiten haben, könnte ich …«
»Nein.« Rowans Blick ging zu Gabriel, als sie Annie ins Wort fiel. »Wir kommen schon klar. Sie sollten jetzt …«
Aber Annie ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Rowan, es ist nicht zu übersehen, dass Sie krank sind. Wie lange geht das schon so? Waren Sie bei einem Arzt?«
»Ich bin nur ein bisschen erschöpft«, protestierte Rowan, doch ihre Stimme war kaum zu vernehmen. »Von dem ganzen Weihnachtstrubel und so. Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen, dann geht’s schon wieder.«
Sie gab sich offensichtlich alle Mühe, doch jetzt sah Annie noch weitere Anzeichen neben der ungesunden Blässe – die Ringe unter den Augen, die vorstehenden Knochen an ihren dürren Handgelenken, das strähnige Haar, das seinen früheren Glanz verloren hatte.
»Rowan«, sagte sie sanft, »ich glaube, dass es Ihnen schon länger nicht gut geht. Sie brauchen ärztliche Hilfe.«
»Sie wissen genau, dass das nicht geht.« Rowan setzte sich auf und packte Annies Arm mit unvermuteter Kraft. »Keine Ärzte. Keine Krankenhäuser. Ich will nicht wieder riskieren, meine Kinder zu verlieren.«
Annie legte die Hand sanft auf die Finger der anderen Frau, bis sie spürte, wie Rowan ihren Griff lockerte. »Es gibt keinen Grund, weshalb man Ihnen die Kinder wegnehmen sollte, wenn Sie einen Arzt aufsuchen. Man sieht, dass den beiden nichts fehlt. Sie müssen …«
»Sie wissen, was in meinen Akten steht.« Rowans Stimme nahm einen beschwörenden Ton an. »So etwas wird nie gelöscht – das haben Sie mir selbst gesagt -, obwohl ich damals freigesprochen wurde. Es wird jemand kommen und bei uns rumschnüffeln – und diesmal werden nicht Sie es sein.«
Annie schloss die Augen und atmete tief durch, übermannt von der Erinnerung. Der Fall war auf ihrem Schreibtisch gelandet, einer von vielen; und sie hatte in ihrer jahrelangen Tätigkeit als Sozialarbeiterin so viele Fälle von Kindesmisshandlung gesehen, dass sie anfangs dazu geneigt hatte, dem Bericht unbesehen zu glauben – wofür sie sich heute schämte. Sie hatte zu viel Macht über das Schicksal von Menschen gehabt, um solche Entscheidungen auf die leichte Schulter nehmen zu können. Hätte ihr Urteil das der Ärzte bestätigt, dann wäre der Fall der Wains vor ein Zivilgericht gekommen. Und dort wäre das Paar, das nur über eine sehr dürftige Schulbildung verfügte und sich keinen Anwalt leisten konnte, der Staatsgewalt und den Aussagen ihrer so genannten Gutachter hilflos ausgeliefert gewesen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wären Joseph und die kleine Marie in eine Pflegefamilie gekommen, und möglicherweise hätten ein oder beide Elternteile sich vor dem Strafrichter verantworten müssen.
Ihr erstes Gespräch mit den Wains hatte sie an Bord der Daphne geführt. Das Boot hatte ihr gleich gefallen, und sie war angenehm überrascht von Rowans schüchterner Gastfreundschaft. Die ersten leisen Zweifel waren ihr gekommen, als sie eine Mutter gesehen hatte, deren aufopfernde Sorge um ihren Sohn in keiner Weise darauf abzuzielen schien, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, und einen Vater, der ihr zwar recht schroff begegnete, zu dem kleinen Jungen aber stets liebevoll und zärtlich war. Damals schienen die plötzlichen Anfälle von Joseph und seine Magenprobleme vorüber zu sein, und seine Eltern wirkten unendlich erleichtert
Je öfter Annie die Eltern besuchte, je öfter sie beobachtete, wie sie mit ihrem Kind umgingen, desto mehr war sie davon überzeugt, dass die Anschuldigungen gegen sie ungerechtfertigt waren. Sie hatte sich letztlich auf ihren Instinkt verlassen, doch ehe sie beweisen konnte, dass die Wains und sie selbst recht hatten, waren monatelange Nachforschungen vonnöten. Sie musste zahllose Gespräche führen und Stapel von Arztberichten und Krankenhausunterlagen durchforsten.
Die unstete Lebensweise der Wains hatte den Prozess erheblich erschwert. Sie blieben immer nur kurze Zeit an einem Ort und hatten keine Angehörigen oder engen Bekannten, die ihre Angaben zur Krankheit des kleinen Joseph hätten bestätigen können. Aber in einem ihrer Gespräche hatte Rowan Annie von Josephs erstem Anfall erzählt.
Sie waren auf dem Grand Union Canal gewesen und hatten unterhalb von Birmingham neben einigen anderen Booten festgemacht. Gabriel war an Deck gewesen, Rowan in der Kabine bei dem schlafenden Kind, als Joseph sich urplötzlich verkrampfte, den Rücken durchbog und mit Armen und Beinen um sich zu schlagen begann. Dann wurde er mit einem Mal schlaff, und seine Haut lief blau an. Rowan hob ihn aus dem Bettchen und schüttelte ihn voller Panik, während sie nach Gabriel rief.
Gabe kam sofort die Treppe heruntergeeilt, bei ihm Charlie, ein stiller, schlaksiger junger Mann, der mit einem alten Motorboot – einem »Josher« – von Liegeplatz zu Liegeplatz tuckerte. Doch kaum hatte Charlie das leblose Kind in Rowans Armen erblickt, war seine Trägheit wie weggeblasen. »Sanitäter-Ausbildung«, sagte er nur. Er nahm Rowan den Jungen ab und legte ihn auf den Boden, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Atemwege frei waren, blies er ihm Luft in die Lungen und drückte ihm anschließend die Hände auf die Brust. Einmal, zweimal, dreimal – dann durchzuckte ein Krampf den kleinen Körper, und Joseph fing an zu schreien.
Charlie aber hatten sie nie wiedergesehen, und Rowan wusste nicht einmal, ob er immer noch auf dem Kanal unterwegs war.
Doch Annie war entschlossen, Beweise für Rowans Geschichte beizubringen, und ihre Suche nach dem geheimnisvollen Charlie sollte sich als ihre wahre Einführung in die Welt der Kanalschifffahrt erweisen. Anfangs war sie noch mit dem Wagen unterwegs gewesen, hatte sich von Cheshire aus immer weiter vorgearbeitet und schließlich ganz Mittelengland der Länge und der Breite nach durchquert. Sie hatte die Bootshäfen und Liegeplätze abgeklappert, die Geschäfte und Kneipen entlang der Kanäle aufgesucht, und sie hatte jeden gefragt, der mit den Wains Kontakt gehabt hatte und vielleicht wissen könnte, was aus Charlie geworden war.
Bald schon war ihr nicht nur klar geworden, dass sie sich eine nahezu unlösbare Aufgabe vorgenommen hatte, sondern auch, dass manche der Orte, an denen die Schiffer zusammenkamen, mit dem Auto schlicht nicht zu erreichen waren. Sie war schon der Verzweiflung nahe gewesen, als ihr ein Schiffer erzählte, dass er Charlie nicht nur kenne, sondern ihn sogar noch vor kurzem auf dem Staff and Worcs Canal unterhalb von Stoke gesehen habe.
Am nächsten Tag hatte Annie mit ihrem eigenen Geld ein Boot gemietet. Sie wusste, dass ihre Abteilung die Bootsmiete niemals als angemessene Auslage anerkannt hätte. Aber ihr war auch klar, dass sie irgendwann in den letzten Wochen die Grenze dessen, was noch als angemessener Einsatz gelten konnte, überschritten hatte.
Als Bootsführerin war sie natürlich ein absolutes Greenhorn gewesen. Allein die Erinnerung daran, wie unmöglich sie sich bei den ersten Schleusen angestellt hatte, jagte ihr heute noch einen Schauer über den Rücken. Nur schieres Glück und die freundliche Hilfe anderer Schiffer hatten sie davor bewahrt, das Boot durch ihre panischen und ungeschickten Manöver zum Kentern zu bringen oder von einem Schleusentor zu stürzen. Aber sie hatte nicht aufgegeben, und von Tag zu Tag hatte der Kanal sie mehr in seinen Bann gezogen, während sie sich auf dem Shropshire Union südwärts Richtung Birmingham vorgearbeitet hatte. Sie lernte, die »Joshers« zu identifizieren – die restaurierten Boote, die früher für die Frachtgesellschaft Fellows, Morton & Clayton gefahren waren, und als sie eines Abends die charakteristische Silhouette eines Joshers entdeckte, der unterhalb der Schleuse Wolverhampton 21 festgemacht hatte, begann ihr Herz höher zu schlagen. Sie fuhr näher heran, bis sie die verblasste Schrift auf dem Bootsrumpf entziffern konnte. Caroline. Das war der Name, den sowohl die Wains als auch ihr Informant, der Schiffer, ihr genannt hatten. Es gab Charlie wirklich, und sie hatte ihn gefunden. Ein berauschendes Gefühl des Triumphs durchfuhr sie.
Er war genau so, wie die Wains ihn beschrieben hatten, nur nicht mehr ganz so jung; ein dünner Mann mit Sommersprossen und einem strohblonden Pferdeschwanz. Nachdem er begriffen hatte, was Annie von ihm wollte, lud er sie auf ein Bier in seine kleine Kabine ein und schilderte ihr den Vorfall beinahe haargenau so, wie sie ihn von Rowan Wain gehört hatte. Annie, die ihre Erregung nur mühsam unterdrücken konnte, protokollierte seine Aussage und bat ihn, sie zu unterschreiben.
»Armer kleiner Wurm«, sagte er, als sie fertig waren. »Es war eindeutig eine Art von Anfall. Hat man irgendwann festgestellt, was ihm fehlt? Die Mutter sagte, er sei schon als Kind immer krank gewesen. Irgendwas mit Reflux und Ösophagitis. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, dass sie so ein kompliziertes Wort kennt.«
Zurück auf ihrem gemieteten Boot, hatte Annie sich zur Feier des Tages zuerst einmal ein Glas Wein eingeschenkt und dann über ihr weiteres Vorgehen nachgedacht. Wenn Joseph tatsächlich unter Anfällen litt, wieso hatte der Arzt dann die Angaben der Eltern so schnell verworfen? Und gab es irgendeine Verbindung zwischen den Problemen, die der Junge als Säugling gehabt hatte, und seinen späteren Anfällen?
Mit einigem Bedauern war sie nach Nantwich zurückgekehrt und hatte das Boot zurückgegeben, um sich wieder in den Papierkram zu stürzen. Und endlich zahlte sich ihre Fleißarbeit aus. Sie stieß auf eine Unregelmäßigkeit in den Unterlagen des Krankenhauses in Manchester, wo Joseph zuvor behandelt worden war. Ein Bericht erwähnte eine frühere Einlieferung in ein Krankenhaus in Leeds, wo ihm Medikamente gegen die Refluxkrankheit verschrieben worden waren. Und doch hatte der Arzt in seinem Bericht an das Jugendamt behauptet, Joseph sei nie wegen irgendeiner der Beschwerden, die seine Eltern beschrieben hatten, behandelt worden. Wie konnte er das übersehen haben?
Oder vielleicht, dachte Annie, sollte man lieber fragen: Warum hatte er es übersehen? Sie wusste, dass das System nicht immun gegen Fehler war, dass Ärzte und Pflegepersonal oft überarbeitet und übermüdet waren, aber eine so schwerwiegende Anschuldigung hätte doch gewiss eine gründliche Überprüfung der Krankengeschichte des kleinen Jungen nach sich ziehen müssen.
Nachdem ihr Argwohn geweckt war, begann sie, das Krankenhauspersonal zu befragen und die Referenzen des behandelnden Arztes zu überprüfen. Sie fand heraus, dass er in dem Ruf stand, wenig Geduld mit Eltern zu haben, die sein Urteil in Frage stellten oder zu viel von seiner Zeit in Anspruch nahmen. Und in nicht weniger als drei anderen Fällen hatte er die Diagnose Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gestellt. Selbst wenn man annahm, dass dies eine seriöse Diagnose war, blieb die Tatsache, dass eine solche Häufung von Fällen statistisch gesehen absurd war. Alle betroffenen Familien kamen aus den unteren Einkommensschichten, alle hatten ihre Kinder in Pflegefamilien geben müssen.
Annie hatte natürlich empfohlen, Joseph und Marie Wain nicht auf die Liste der »gefährdeten« Kinder zu setzen oder sie zu Pflegeeltern zu geben. Josephs Zustand verbesserte sich darüber hinaus zusehends, und andere Ärzte, die Annie befragt hatte, versicherten ihr, dass dies nicht ungewöhnlich sei – bei Kindern würden oft ungeahnte Selbstheilungskräfte während ihrer natürlichen Entwicklung wirken.
Sie hatte auch gegen den betreffenden Arzt offiziell Beschwerde eingelegt, doch die Krankenhausleitung hatte nichts unternommen. Und allen Bemühungen Annies zum Trotz stand in Rowan Wains Patientenunterlagen immer noch die Diagnose MSS. Das Stigma der Kindesmisshandlung und der psychischen Störung hing ihr nach wie vor an, ein unauslöschliches Kainsmal.
Jetzt tätschelte Annie beschwichtigend Rowans Hand. »Es gibt keinen Grund, weshalb irgendjemand sich für die Kinder interessieren sollte«, sagte sie, doch im Geiste ging sie schon die möglichen Szenarien durch. Was, wenn Rowan ernsthaft, ja unheilbar krank war? Was, wenn irgendein übereifriger Arzt oder eine Krankenschwester sich ihre Akte ansah und entschied, dass Rowan – oder Gabriel, falls Rowan stürbe – nicht in angemessener Weise für die Kinder sorgen könnte? Dann könnte alles wieder von vorne losgehen, und diesmal wäre sie nicht in der Lage, die Familie zu schützen.
Rowan schüttelte nur den Kopf, als hätte das Reden sie zu sehr erschöpft.
Mit wachsender Panik wandte Annie sich zu Gabriel um. »Sie müssen doch sehen, dass es nicht so weitergehen kann. Sie müssen etwas unternehmen.« Der Anblick der zwei verängstigten Kindergesichter hatte sie davon abgehalten, hinzuzufügen: »Sonst muss sie vielleicht sterben.« Doch Gabriels Blick sagte ihr, dass er Bescheid wusste. Er wusste Bescheid, aber er konnte nicht riskieren, seine Kinder zu verlieren, und das Dilemma drohte ihn zu zerreißen.
»Keine Krankenhäuser«, wiederholte er, doch er klang längst nicht mehr so entschlossen, und sein wettergegerbtes Gesicht war von Angst gezeichnet.
Keine Krankenhäuser. Eine Idee setzte sich in Annies Kopf fest. Es könnte funktionieren – zumindest würden sie dann wissen, womit sie es zu tun hatten.
Sie drückte Rowans Hand, dann wandte sie sich zu Gabriel um. »Und wenn … wenn ich jemanden finden würde, der herkommen und sich Rowan anschauen kann? Ganz inoffiziell und vertraulich?«
 
»Ich bin mir sicher, dass es keinen Grund zur Sorge gibt«, sagte Kincaid. »Du kennst doch Jules und ihr Temperament – nach gestern Abend überrascht es mich gar nicht, dass sie das Weihnachtsessen mit Caspar nicht durchstehen konnte. Und sie hat sich immer schon gerne irgendwo verkrochen, wenn sie schlecht drauf war.«
Nach dem Gespräch mit Lally hatte seine Mutter vergeblich versucht, Juliet zu Hause oder auf ihrem Handy zu erreichen. Lallys flehentlichen Bitten zum Trotz hatte sie anschließend Caspar angerufen, um sich von ihm bestätigen zu lassen, was das Mädchen erzählt hatte. Rosemary hatte mit fest zusammengepressten Lippen gelauscht und dann den Hörer unnötig heftig auf die Gabel geknallt. »Er sagt, es stimmt«, hatte sie vermeldet. »Juliet hat ohne ein Wort der Erklärung das Haus verlassen, noch bevor das Essen auf dem Tisch stand. Er sagt, sie wollte ihnen allen absichtlich den Abend verderben.«
Jetzt schüttelte sie nur den Kopf. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Die Sorge verdüsterte ihre Augen, und zum ersten Mal registrierte Kincaid betroffen, wie sehr sie gealtert war, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte.
Gemma hatte sich wieder dem Abwasch zugewandt, doch er konnte sehen, dass sie aufmerksam zuhörte. Eine Haarsträhne hatte sich aus der Klammer gelöst und kringelte sich feucht an ihrer Wange, doch er stand zu weit weg, um sie mit einer unauffälligen Handbewegung zurückstreichen zu können.
Sein Vater war in die Küche gekommen und stand neben seiner Mutter; Toby hatte sich vom Tisch davongeschlichen und es sich auf dem Hundeplatz bequem gemacht, wo er sich abwechselnd mit den drei Hunden balgte und Geordies lange Ohren streichelte. Und Kit – Kit beobachtete sie alle, und in seinen Augen flackerte Angst.
Kincaids Job brachte es mit sich, dass er manchmal in den alltäglichsten Situationen automatisch die potenzielle Tragödie sah; für Kit aber war diese Möglichkeit real und stets gegenwärtig. In Kits Welt war es eben nicht selbstverständlich, dass eine Mutter, die ihre Kinder allein ließ, wieder zurückkam. Und eine solche Belastung war das Letzte, was der Junge in diesem Moment gebrauchen konnte.
Während er innerlich seine Schwester verfluchte, sagte Kincaid: »Wir wollen doch nicht gleich die Pferde scheu machen, Mutter. Wir wissen, dass sie den Wagen genommen hat. Sie ist sicher nur heimgefahren und hat sich in ihren Schmollwinkel zurückgezogen, und du tust ihr wahrscheinlich keinen großen Gefallen, wenn du dich einmischst. Du wirst sehen, sie ruft sicher bald an. Und jetzt gehen Gemma und ich mit den Jungs erst mal ein bisschen spazieren, solange es noch hell ist. Auf die Queen können wir doch gut verzichten, was?«, fügte er mit einem Zwinkern in Kits Richtung hinzu. In der Familie waren sich alle einig, dass die Weihnachtsansprache der Königin das perfekte Schlafmittel war.
Gemma deutete mit dem Kopf auf Toby, der einen Arm um den Cockerspaniel geschlungen hatte, die Augenlider schon auf halbmast. »Geh du nur mit Kit«, sagte sie leise. »Ich bleibe mit Toby hier und leiste deinen Eltern Gesellschaft.«
Tess, Kits kleiner Terrier, legte erwartungsvoll den Kopf schief. »Lass sie hier«, sagte Kincaid leise, um Toby nicht zu stören, und Kit gab der Hündin ein Zeichen, liegen zu bleiben. Auf leisen Sohlen schlichen sie in die Diele, nahmen ihre Jacken vom Haken und zogen vorsichtig die Haustür hinter sich zu, wie zwei Diebe in der Nacht. Die Landschaft lag immer noch unter einer hellen Schneedecke, aber das Licht war schon weicher, ein Vorbote der früh hereinbrechenden Dunkelheit. Der süßlich-herbe Geruch von Holzrauch lag in der Luft und kratzte Kincaid im Hals.
Wortlos ging er voraus, um das Haus herum und weiter über den Fußpfad, der die Wiese seiner Eltern durchquerte. Auch nach all den Jahren noch schienen seine Füße jede Erhebung und jede Senke auf diesem Grundstück zu kennen, und er fand es erstaunlich, wie wenig sich hier auf dem Land verändert hatte, seit er nach London gegangen war. Einmal blickte er sich um, doch das Haus war schon hinter seinem Schutzwall aus Bäumen verschwunden.
Kit stapfte neben ihm durch den Schnee und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, als wäre jeder einzelne Stiefelabdruck von enormer Bedeutung. Und er schien ebenso entschlossen, jeden Blickkontakt mit seinem Vater zu vermeiden. Nach einer Weile aber sagte er: »Willst du mir denn keine Standpauke halten?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor.« Kincaid schlug bewusst einen lockeren Ton an. Nach der lautstarken Auseinandersetzung von gestern Morgen war ihm klar geworden, dass es jetzt erst einmal darum ging, wieder mit seinem Sohn ins Gespräch zu kommen. »Willst du denn eine hören?«
Damit erntete er einen verblüfften Blick. »Äh, nee, eigentlich nicht.«
»Magst du mir denn stattdessen vielleicht erzählen, was da in der Schule los ist?«, fragte Kincaid immer noch ganz beiläuf ig.
Kit zögerte so lange, dass Kincaid schon glaubte, er werde gar nicht antworten, doch endlich sagte er: »Nicht jetzt. Heute jedenfalls nicht mehr.«
Kincaid nickte. Er verstand, was Kit nicht in Worte fassen konnte. Nach einer Weile tätschelte er die Schulter des Jungen. »Waren doch schöne Weihnachten.«
»Super«, bestätigte Kit. Jetzt beschleunigte der Junge seinen Schritt und schwang die Arme, als hätte er endlich die Erlaubnis bekommen, den Spaziergang zu genießen. Die Anspannung war von ihm abgefallen, und plötzlich wirkte er wie ein ganz normaler Junge, auf dessen Schultern nicht das ganze Gewicht der Welt lastete – so normal, wie ein Dreizehnjähriger eben sein konnte, dachte Kincaid.
Sie gingen weiter, und das Schweigen war jetzt beinahe wie ein Band, das sie beide verknüpfte. Die Kälte und die körperliche Anstrengung ließen kreisrunde rote Flecken auf Kits Wangen aufblühen. Schließlich erreichten sie den höchsten Punkt einer kleinen Erhebung und erblickten vor sich den gewundenen Lauf des Kanals wie ein versunkenes Riesenhalsband, das jemand achtlos über die liebliche Landschaft von Cheshire geworfen hatte.
Kit blieb stehen. Er schien verwirrt und suchte den Horizont ab, als wolle er sich orientieren. »Komisch, ich dachte – gestern Abend hat es so ausgesehen, als würde der Kanal an der Hauptstraße entlang verlaufen.«
»Tut er auch.« Kincaid bückte sich und zeichnete zur Erläuterung eine Skizze in den Schnee. »Das war der Hauptarm des Shropshire Union, der grob in nördlicher Richtung nach Chester und Ellsmere Port verläuft.« Dann zeichnete er eine andere Linie, welche die erste im rechten Winkel schnitt, und deutete mit dem Kopf auf den Kanal vor ihnen. »Das da ist der Middlewich-Arm, der sich von hier nach Nordwesten schlängelt, in Richtung Manchester. Die zwei kreuzen sich bei Barbridge, wo wir gestern Abend von der Hauptstraße abgebogen sind. Ist eine ganz schöne Herausforderung, ein Boot an der Barbridge Junction um die Kurve zu manövrieren, das kann ich dir sagen.«
»Können wir uns das mal anschauen?«, fragte Kit mit einer unverfälschten Begeisterung, die Kincaid überraschte.
»Wüsste nicht, was dagegen spricht.« Er hatte sowieso in diese Richtung gehen wollen und freute sich, dass er etwas gefunden hatte, wofür sein Sohn sich interessierte. Sie gingen weiter durch das Gatter im Grundstückszaun und hinunter zum Leinpfad. Hier war der Schnee von vielen Menschenfüßen und Hundepfoten festgetrampelt. Kahle Bäume zeichneten sich wie dürre Skelette vor dem Schnee ab, und in der Ferne kreisten drei schwarze Vögel. Krähen, dachte Kincaid, auf der Suche nach Aas – und das, wenn er sich nicht täuschte, ganz in der Nähe des Schauplatzes von Juliets grausigem Fund.
Nicht, dass sie dort noch irgendetwas hätten finden können, aber die Beobachtung hatte ihm den gestrigen Vorfall in Erinnerung gebracht, und er fragte sich, wie weit die Ermittlungen wohl gediehen waren. Hatten sie das Kind inzwischen identifiziert? Solche »kalten« Fälle, bei denen die Tat schon sehr lange zurücklag, waren immer die schwierigsten. Da brauchte er seinen ehemaligen Schulfreund Ronnie nicht zu beneiden – das versuchte er sich jedenfalls einzureden, doch die Neugier ließ sich nicht so leicht unterdrücken.
Er dachte an Juliet und fragte sich, ob das Bild des toten Kindes sie wohl verfolgte. Hatte es sie vielleicht dazu getrieben, den Bauplatz noch einmal aufzusuchen – das und die Sorge um die Zukunft ihres Projekts? Und überhaupt, was lief da eigentlich zwischen Juliet und Caspar ab?
»Denkst du, dass mit Tante Juliet alles in Ordnung ist?«, fragte Kit, als hätte er seine Gedanken gelesen.
»Natürlich. Deine Tante Jules ist zäher, als sie aussieht, und sie kann durchaus auf sich selbst aufpassen. Ich bin sicher, dass sie einen guten Grund hatte, für eine Weile zu verduften«, antwortete er, aber während er dies sagte, wurde ihm klar, wie wenig er tatsächlich über seine Schwester wusste.
Es ging nur ein schwacher Wind, und in dem strahlenden Sonnenschein hatte er zunächst gar nicht gefroren. Jetzt aber stellte er fest, dass er seine Nase und seine Ohrmuscheln kaum noch spürte, und selbst in den Handschuhen wurden seine Finger allmählich steif. Er vergrub die Hände tief in den Manteltaschen und sagte: »Juliet hat diesen Spaziergang als Kind geliebt. Sie konnte von morgens bis abends durch die Gegend streifen und das bei jedem Wetter. Sie hat immer gesagt, wenn sie mal groß wäre, wollte sie Entdeckerin werden, so wie Ranulph Fiennes.« Sie war so voller Träume gewesen, seine Schwester. Hatte irgendetwas in ihrem Leben sich so entwickelt, wie sie es sich ausgemalt hatte?
»Aber jetzt hat sie stattdessen eine Baufirma. Ist das nicht ein komischer Beruf für eine Frau?«
Kincaid lächelte. »Lass dich mal lieber nicht von Gemma bei so einer Bemerkung erwischen. Das ist auch nicht komischer, als wenn eine Frau Kriminalbeamtin wird. Und Jules war immer schon handwerklich begabt. Mein Vater hat uns früher oft Bühnenbilder gebaut, und Jules hat ihm dabei geholfen.«
»Ihr habt Theaterstücke aufgeführt?«, fragte Kit mit einem sehnsüchtigen Unterton.
Schon meldete sich Kincaids schlechtes Gewissen. War er nicht ständig zu beschäftigt? Ließ ihm seine Arbeit genug Zeit für seinen Sohn?
»Meistens Shakespeare«, antwortete er mit erzwungener Munterkeit. »Für den hatte mein Papa eine besondere Schwäche. Früher konnte ich ganze Passagen aus Hamlet auswendig deklamieren, aber inzwischen habe ich alles vergessen.«
Plötzlich stand ihm das Bild eines strahlenden Sommernachmittags vor Augen, und er sah Juliet als Ophelia, ausgestreckt auf einer blauen Plastikplane, die sie als Bach zweckentfremdet hatten. »Kannst du nicht ein bisschen anmutiger sterben?«, hatte er genörgelt, und sie hatte sich aufgesetzt und ihn finster angestarrt.
»Tote sehen nun mal nicht anmutig aus«, hatte sie ihm entgegengeschleudert, und er hatte seither reichlich Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie recht sie hatte. Er verdrängte die Erinnerung und suchte nach einer Ablenkung.
Kit lieferte sie ihm: »Sieh mal, da ist ein Boot!«
Sie waren schon fast in Barbridge, und es lag wohl nur an der stillen Jahreszeit, dass sie bis jetzt noch keine Boote an den Liegeplätzen gesehen hatten, vermutete Kincaid. »Und sogar ein besonders schönes«, meinte er bewundernd, als sie näher kamen. Der Rumpf glänzte in dunklem Saphirblau, abgesetzt mit himmelblauen Streifen. Die Ruderpinne war in den gleichen Farben gestreift, und alles an dem Boot, bis hin zur Messingeinfassung des Schornsteins, war blitzsauber und zeugte von liebevoller Pflege. Der Name prangte in gestochen scharfen weißen Buchstaben am Bug: Lost Horizon. Rauch quoll in einem steten Strom aus dem Schornstein, und er hörte das leise Summen des Generators. Offenbar war jemand an Bord.
Als sie auf Höhe des Boots waren, ging die Bugtür auf, und eine Frau trat auf das Deck hinaus. Sie war groß gewachsen, und auch die dick gefütterte Jacke konnte ihre schlanke Gestalt nicht verbergen. Ihr kurzes blondes Haar glänzte in der Sonne. Als sie die beiden erblickte, nickte sie ihnen zu, und Kincaid wurde plötzlich bewusst, dass er sie kannte.
Gestern Abend in der Kirche war sie ihm wie eine Außenseiterin erschienen, die sich von der Welt abschirmte und nur aus sich herausging, wenn sie sang. Hier aber strahlte jede ihrer Bewegungen Sicherheit und Selbstbewusstsein aus. Hier sah er sie in ihrem Element.