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Die provisorische Soko-Zentrale im Keller der
Polizeidirektion war mit einem Sammelsurium wackliger und
zerkratzter Möbel eingerichtet worden, die irgendwo anders gerade
nicht gebraucht wurden, und Computer standen kreuz und quer auf
Tischen und Schreibtischen herum. Ein Gewirr von Kabeln zog sich
über den abgestoßenen Fußboden wie eine Invasion von Schlangen, und
als eingefleischter Technikfeind vermutete Babcock, dass sie auch
mindestens ebenso gefährlich waren.
Es war kalt, wie zu jeder Jahreszeit in den
Kellergeschossen des alten Hauses, und was die Atmosphäre noch ein
bisschen behaglicher machte, war der penetrante Geruch nach
Kartoffeln, Zwiebeln und frittiertem Teig, der durch den Raum
wehte. Irgendjemand musste sich zum Frühstück ein Cornish Pasty
genehmigt haben. Allein bei dem Gedanken begann Babcocks Magen zu
rebellieren.
Er unterdrückte sein Unbehagen, drehte sich zu der
weißen Tafel um, die an einer Wand lehnte, und schrieb: »UNBEKANNTE
WEIBLICHE KINDERLEICHE.«
»Solange wir nichts Gegenteiliges in Erfahrung
bringen«, sagte er, »werden wir davon ausgehen, dass es sich bei
dem Kind um ein Mädchen handelt.«
Seine Leute hatten es sich so bequem gemacht, wie
es die Umstände eben zuließen, und er ließ den Blick über ihre
Gesichter schweifen, um sicherzugehen, dass er ihre Aufmerksamkeit
hatte, ehe er fortfuhr. Mit einem ausgetrockneten roten Marker, der
die unangenehme Eigenschaft hatte, bei jedem
Strich laut zu quietschen, listete er die Ergebnisse der Obduktion
auf. »Sechs bis achtzehn Monate alt. Vor mindestens einem Jahr
eingemauert, wahrscheinlich im Winter. Todesursache nicht eindeutig
feststellbar.«
Eine der Detective Constables stöhnte. »Sie machen
Witze, Chef. Mehr haben wir nicht in der Hand?«
»Wie – haben Sie etwa Wunder erwartet?«, imitierte
Babcock einigermaßen glaubwürdig Dr. Elsworthy, was ihm einen
Lacherfolg bei seiner Gruppe einbrachte. Er hatte gehört, wie sie
untereinander über den Diensteinsatz an ihrem freien Tag gemeckert
hatten, und er brauchte ihr volles Engagement.
»Damit scheiden wohl die derzeitigen Eigentümer aus
– also diejenigen, die den Viehstall gerade umbauen lassen«, sagte
Rasansky. Er fläzte auf dem Stuhl ganz vorne an der Tafel und hatte
seine langen Beine so weit ausgestreckt, dass Babcock fast
darüberstolperte.
»Möglicherweise. Wahrscheinlich. Aber nicht die
Fosters.« Babcock tippte sich mit dem Marker an die Nase, während
er nachdachte. »Obwohl, wenn sie ein kleines Kind in dem Stall
eingemauert hätten, wären sie wohl nicht so scharf darauf gewesen,
an jemanden zu verkaufen, der vorhatte, die Wände einzureißen. Ich
würde sie vorläufig mal auf die Reservebank setzen, aber wir werden
sie auf jeden Fall noch einmal vernehmen müssen. Bleiben also
…«
»Entschuldigen Sie, Chef.« Es war Sheila Larkin,
die Polizistin , die vorhin angesichts der bescheidenen
Obduktionsergebnisse gestöhnt hatte. Sie war eine intelligente
junge Frau, und Babcock war immer froh, sie im Team zu haben, bis
auf die Tatsache, dass ihre sehr kurzen Röcke seine männlichen
Beamten von der Arbeit ablenkten – ganz zu schweigen von ihm
selbst. An diesem Morgen hockte sie auf einer Tischkante und hatte
die Füße auf einen Stuhl gestellt, und er musste sich zwingen, den
Blick von ihren nackten Oberschenkeln zu
wenden. Er fragte sich, wie sie es schaffte, in dem Aufzug nicht
zu erfrieren.
»Wenn die Fosters den Viehstall gar nicht genutzt
haben«, fuhr sie fort, »wäre es dann nicht möglich, dass die Tat
ohne ihr Wissen ausgeführt wurde?«
»Gute Frage. Ich glaube nicht, dass unser Mr.
Foster sich allzu oft aus seinem Sessel erhebt. Und ich halte es
für möglich, dass das Ganze in der Nacht passiert ist. Dürfte nicht
länger als ein, zwei Stunden in Anspruch genommen haben, oder? Ich
bin handwerklich nicht so begabt«, fügte Babcock hinzu.
»Ein Kinderspiel«, meinte Rasansky. »Eine Laterne,
ein Eimer Mörtel, eine Kelle. Natürlich vorausgesetzt, dass da
schon eine Aussparung in der Mauer war, die man nur noch ausfüllen
musste.«
Babcock runzelte die Stirn. »Trotzdem, ich habe
meine Zweifel, dass der Täter einfach so mit einem Eimer Mörtel
rumspaziert ist in der Hoffnung, irgendwo ein geeignetes Plätzchen
zu finden, um ein Baby verschwinden zu lassen. Nein, er muss die
Tat geplant haben, und er muss den Viehstall gekannt und gewusst
haben, zu welchen Zeiten er wahrscheinlich unbeobachtet sein
würde.«
»Könnte ein Maurer schätzen, wie alt der Mörtel
ist?«, fragte Larkin und schlug die Beine übereinander, wobei noch
mehr von ihrem drallen weißen Oberschenkel sichtbar wurde. Travis,
der Spurensicherungsbeamte, schien sich von dem Anblick gar nicht
mehr losreißen zu können, und Babcock fragte sich, ob es möglich
wäre, Larkin diesbezüglich einmal diskret zu ermahnen, ohne dass er
sich gleich eine Beschwerde wegen unangemessener sexueller
Äußerungen einhandelte.
»Ich muss Juliet Newcombe noch einmal vernehmen«,
sagte er. »Dann werde ich sie danach fragen.« Er wandte sich an
Travis. »Hat der Suchtrupp irgendetwas gefunden?«
Nachdem er in aller Ruhe noch einen letzten
ausgiebigen
Blick auf Larkins Beine geworfen hatte, wandte Travis seine
Aufmerksamkeit endlich Babcock zu. »Null Komma nix, Chef.
Gebrauchte Kondome, Zigarettenkippen, Fastfoodkartons, Bierdosen.
Genau die Zusammenstellung, die man auf einer Baustelle erwarten
würde, zu der auch Jugendliche Zugang haben, die sich mal ein
bisschen amüsieren wollen.«
Babcock hatte auch nichts Hilfreicheres erwartet.
Er wandte sich an Larkin, die den Auftrag gehabt hatte, die
Vermisstendatei zu durchsuchen. »Und hat der Computer irgendwas
ausgespuckt, Sheila?«
»Ohne irgendwelche Parameter ist das schwierig,
Chef. Ich habe mit den letzten fünf Jahren angefangen, Kinder unter
zwei Jahren, und eingeschränkt auf den Raum South Cheshire. Keine
Treffer, weder männliche noch weibliche.«
»Wir werden uns trotzdem vorläufig auf South
Cheshire beschränken, da ich es für unwahrscheinlich halte, dass
irgendjemand von außerhalb von dem Viehstall gewusst haben könnte.
Aber lassen Sie uns lieber zwanzig Jahre zurückgehen. Dr. Elsworthy
sagt zwar, dass es sich bei dem Stoff um relativ moderne
Synthetikmischungen handeln dürfte, aber selbst die zwanzig Jahre
sind im Moment nur eine reine Vermutung. Es könnten genauso gut
einundzwanzig oder mehr sein. Wenn wir die Analyse des Materials
aus dem Labor haben, können wir den Zeitraum vielleicht noch etwas
weiter eingrenzen.«
»Jawohl, Chef«, antwortete Larkin in ihrer gewohnt
übereifrigen Manier.
Er nickte ihr beifällig zu, ehe er sich wieder den
anderen zuwandte. »Ich denke, abgesehen von der Identifizierung
eines vermissten Kindes, das in unser Schema passt, ist unsere
oberste Priorität die Suche nach den früheren Eigentümern, den
Smiths. Kevin, ich möchte, dass Sie die Anwohnerbefragung
ausdehnen. Es muss doch irgendjemanden geben, der weiß,
wohin sie gegangen sind.«
»Ich habe schon zweimal jemanden zu dem großen Haus
am Anfang des Feldwegs geschickt, aber es ist nie wer zu Hause«,
rechtfertigte sich Rasansky. »Das sind die nächsten Nachbarn neben
den Fosters, und sie dürften noch am ehesten etwas wissen.«
»Na, versuchen Sie’s halt weiter. Und, Kevin«, fuhr
er fort, »sehen Sie zu, dass Sie Jim Craddock an die Angel kriegen
– das ist der Immobilienmakler, der den Verkauf des Anwesens für
die Smiths abgewickelt hat. Und wenn Sie schon dabei sind, schauen
Sie doch mal bei Somerfield’s und Safeway rein, und wo Sie sonst
noch denken, dass Babyprodukte verkauft werden – ach, verdammt.« Er
rieb sich frustriert das Kinn. »Ich vergesse immer wieder, dass die
Geschäfte ja geschlossen haben. Also, das müssen wir dann auf
übermorgen verschieben. Ist wohl Ihr Glückstag heute,
Sergeant.«
Befriedigt registrierte er Rasanskys säuerlichen
Blick, und während alle sich an die ihnen zugewiesenen Aufgaben
machten, überraschte Babcock sich selbst, indem er plötzlich
halblaut zu pfeifen begann.
Noch geblendet von dem in der Sonne glitzernden
Schnee, brauchte Annie eine Weile, bis ihre Augen sich an das
Halbdunkel in der Bootskabine gewöhnt hatten. Die Vorhänge waren
fast ganz zugezogen, und nur eine einsame Öllampe brannte auf dem
Klapptisch. Im Holzofen glomm ein schwaches Feuer, doch die Kälte
lastete auf dem kleinen Raum wie eine zähe Masse, die in jeden
Winkel drang.
Gabriel hatte im ehemaligen Frachtraum des Boots
eine Kombüse, ein Bad und ein Schlafzimmer eingerichtet, doch die
Hauptkabine hatte er so weit wie möglich unverändert belassen. Als
Annie sich umsah, hatte sie das Gefühl, eine Zeitreise in die
Vergangenheit zu machen.
Die Holzverkleidung war dunkel, abgesetzt mit
Streifen in
fröhlichem Rot, und jeder freie Quadratzentimeter an den Wänden
war mit Gerätschaften aus poliertem Messing und Porzellantellern
geschmückt, wie sie von den Schiffern traditionell gesammelt
wurden. Rowan hatte Annie einmal erzählt, dass sie die Stücke von
ihrer Mutter geerbt habe. Die Rückenlehne der Sitzbank war mit
einer kleinen Burg verziert, und Annie erinnerte sich, dass die
Unterseite des Klapptischs ebenso bemalt war. Die Seitenwand einer
Truhe schließlich war über und über mit Rosen bedeckt – alles
Rowans Werk.
Aber heute saß nur Joseph an dem Tisch. Er hatte
seinen dunklen Lockenkopf über Papier und Stifte gebeugt und
blickte nicht auf, als Annie die Kabine betrat. Gabriel und Marie,
das kleine Mädchen, waren hinter ihr auf der Treppe stehen
geblieben, was Annies Unbehagen noch verstärkte.
»Hallo, Joe«, sagte sie. Er musste fast neun sein,
dachte sie; ein hübscher, gut geratener Junge, der die
gesundheitlichen Probleme, die ihn als Baby und bis ins
Kindergartenalter hinein geplagt hatten, offenbar überwunden
hatte.
Er war zwei Jahre alt gewesen, als seine Eltern ihn
das erste Mal in das hiesige Krankenhaus gebracht hatten. Sie
hatten dem behandelnden Arzt berichtet, der Junge leide an
Anfällen, und seine Atmung habe schon mehrmals ausgesetzt.
Der Arzt hatte den Jungen untersucht und keine
Anzeichen einer Epilepsie entdecken können. Er fand jedoch
Blutergüsse an Armen und Beinen, die von einem heftigen Anfall
herrühren könnten.
Im Lauf der nächsten Monate brachten die Wains
Joseph immer wieder ins Krankenhaus, doch der Befund blieb nach wie
vor unklar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Wains ein
Nomadenleben geführt, doch wegen des schlechten Gesundheitszustands
ihres Sohnes hatte Gabriel sich in der Nähe von Nantwich eine
vorübergehende Beschäftigung gesucht. Auch
war Rowan wieder schwanger und machte eine schwere Zeit
durch.
Frustriert und ungeübt im Umgang mit der
Krankenhausbürokratie, war Gabriel Wain gegenüber Ärzten und
Pflegepersonal zunehmend aggressiv geworden. Die Schiffer hatten
schon immer ein gesundes Misstrauen gegenüber Krankenhäusern
gehegt, und Gabriel selbst war eines der letzten Babys gewesen, die
von Schwester Mary in Stoke Bruene am Grand Union Canal entbunden
worden waren – der Krankenschwester, die ihr Leben dem Dienst an
dem kleinen Völkchen der Kanalschiffer gewidmet hatte.
Als der Arzt den Eintrag des Jungen in der Kartei
des staatlichen Gesundheitsdienstes aufrief, stellte er fest, dass
die Wains nicht zum ersten Mal ärztliche Hilfe für ihren Sohn in
Anspruch genommen hatten. Als Joseph noch kein Jahr alt gewesen
war, hatten sie ihn in ein Krankenhaus in Manchester gebracht und
gesagt, er behalte sein Essen nicht bei sich. Auch damals war keine
Diagnose gestellt worden.
Der Argwohn des Arztes war geweckt, und nach einer
ganz besonders heftigen Auseinandersetzung mit Gabriel hatte er
Josephs Akte dem Jugendamt übergeben.
Sein beigefügter Bericht war vernichtend. Er
glaubte, die Eltern hätten die Symptome nur erfunden und den Jungen
möglicherweise misshandelt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Seine
offizielle Anschuldigung – Annie konnte sie nicht mehr als Diagnose
bezeichnen – lautete auf MSS:
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Annies Aufgabe als mit dem Fall betraute
Sozialarbeiterin war es gewesen, den Behauptungen des Arztes
nachzugehen.
»Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an
mich, Joe«, sagte sie jetzt, »aber ich habe dich gekannt, als du
noch ganz klein warst.«
Joseph sah sie flüchtig an, nickte und schlug
sofort die Augen
nieder. Aus der Röte, die ihm in die Wangen stieg, schloss Annie,
dass er extrem schüchtern sein musste. Sie fragte sich, ob die
Familie je lange genug an einem Ort geblieben war, um dem Jungen
einen Schulbesuch zu ermöglichen.
»Deine Mama wollte mich …«, begann sie, als hinter
ihr Gabriels Stimme ertönte.
»Da lang«, sagte er knapp und deutete auf den Gang,
der zur Kombüse und den dahinter liegenden Schlafräumen führte. Er
stieg die Stufen zur Kabine hinunter, mit Marie, die wie eine
Klette an seinem Bein hing, und in dem kleinen Raum schien es
plötzlich bedrohlich eng zu werden. Annie fürchtete sich ein wenig,
doch im nächsten Moment fand sie ihre Angst schon lächerlich.
Gabriel würde ihr nie etwas zuleide tun – schon gar nicht, wenn
seine Frau und die Kinder dabei waren.
Sie folgte seinen Anweisungen und ging durch die
sauber aufgeräumte Kombüse in die Kabine dahinter. Hier war der
Vorhang ein Stück zurückgezogen, genug, um die Gestalt erkennen zu
können, die auf Kissen gestützt in dem Kastenbett lag.
»Rowan!«, stieß Annie unwillkürlich hervor. Schon
gestern hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Frau krank aussehe,
doch heute schien ihre Haut regelrecht grau, und selbst in der
abgedunkelten Kabine war zu erkennen, dass ihre Lippen blau
angelaufen waren.
Rowan Wain lächelte und begann mit sichtlicher
Anstrengung zu sprechen. »Ich habe Ihre Stimme gehört.« Sie deutete
mit dem Kopf auf das Fenster, das auf den Leinpfad hinausging. »Ich
konnte Sie nicht einfach gehen lassen – Sie hätten ja denken
müssen, wir wüssten überhaupt nicht zu schätzen, was Sie damals für
uns getan haben. Aber jetzt brauchen wir keine Hilfe. Wir kommen
sehr gut allein zurecht.«
Annie war bewusst, dass Gabriel hinter ihr in der
Tür stand und dass inzwischen beide Kinder sich hinter ihm
drängten,
doch sie versuchte, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Da die kleine
Kabine keine weiteren Möbel enthielt, sie aber auch nicht während
des ganzen Gesprächs auf Annie hinuntersehen wollte, setzte sie
sich vorsichtig auf den Rand des Kastenbetts. Gabriel hatte es
selbst gemacht, erinnerte sie sich nun; ein schönes Beispiel seiner
Tischlerkunst.
»Sie haben jetzt auch ein Boot«, fuhr Rowan
lächelnd fort. »Zusammen mit Ihrem Mann?«
In Gegenwart dieser Frau, die ihr ganzes Leben
ihrer Familie gewidmet hatte, brachte es Annie plötzlich nicht
übers Herz einzugestehen, dass sie ihren Mann verlassen hatte – aus
einer Laune heraus, wie Rowan es vermutlich sehen würde. Sich
selbst finden - das war ein Luxus, den sich nur die Angehörigen
der gehobenen Mittelschicht leisten konnten. Und solange sie
Gabriels feindselige Blicke im Rücken spürte, wollte sie auch nicht
unbedingt zugeben, dass sie allein war. »Ja«, sagte sie schließlich
und nickte.
»Aber gestern haben Sie das Boot doch allein
gesteuert. Und gar nicht so schlecht.«
»Mein Mann … hatte in Tilston zu tun, in unserem
Haus.« Die kleine Ausflucht kam ihr schon leichter über die Lippen,
aber dann fiel ihr ein, dass sie Gabriel ja schon gesagt hatte,
dass sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte. Nun ja, sie
würde sich eben irgendwie durchmogeln müssen. »Er kommt bald
zurück«, sagte sie und verzog innerlich das Gesicht. Sie wusste,
dass sie sich gerade als eine derjenigen geoutet hatte, die ihr
Boot nur als Zweitwohnung benutzten, eine Praxis, für die der
traditionelle Kanalschiffer nur Verachtung übrig hatte. »Es wundert
mich, dass ich … dass wir Ihnen nicht schon früher begegnet
sind.«
Rowan wandte den Blick ab. »Wir waren eine Zeit
lang in der Gegend von Manchester, aber da gibt’s keine Arbeit
mehr.«
Nach dem Schweigen des Generators, dem bescheidenen
Feuer im Ofen und dem leicht heruntergekommenen Zustand des Boots
selbst zu schließen, war die Lage am Shropshire Union Canal auch
nicht viel besser. Es war so kalt im Boot, dass Rowan zusätzlich zu
dem alten Wollpullover, den sie trug, in mehrere Schichten von
Decken eingehüllt war, und wenn sie sprach, kondensierte ihr Atem
zu kleinen Wölkchen.
»Rowan, wenn Sie Schwierigkeiten haben, könnte ich
…«
»Nein.« Rowans Blick ging zu Gabriel, als sie Annie
ins Wort fiel. »Wir kommen schon klar. Sie sollten jetzt …«
Aber Annie ließ sich nicht so leicht abwimmeln.
»Rowan, es ist nicht zu übersehen, dass Sie krank sind. Wie lange
geht das schon so? Waren Sie bei einem Arzt?«
»Ich bin nur ein bisschen erschöpft«, protestierte
Rowan, doch ihre Stimme war kaum zu vernehmen. »Von dem ganzen
Weihnachtstrubel und so. Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen,
dann geht’s schon wieder.«
Sie gab sich offensichtlich alle Mühe, doch jetzt
sah Annie noch weitere Anzeichen neben der ungesunden Blässe – die
Ringe unter den Augen, die vorstehenden Knochen an ihren dürren
Handgelenken, das strähnige Haar, das seinen früheren Glanz
verloren hatte.
»Rowan«, sagte sie sanft, »ich glaube, dass es
Ihnen schon länger nicht gut geht. Sie brauchen ärztliche
Hilfe.«
»Sie wissen genau, dass das nicht geht.« Rowan
setzte sich auf und packte Annies Arm mit unvermuteter Kraft.
»Keine Ärzte. Keine Krankenhäuser. Ich will nicht wieder riskieren,
meine Kinder zu verlieren.«
Annie legte die Hand sanft auf die Finger der
anderen Frau, bis sie spürte, wie Rowan ihren Griff lockerte. »Es
gibt keinen Grund, weshalb man Ihnen die Kinder wegnehmen sollte,
wenn Sie einen Arzt aufsuchen. Man sieht, dass den beiden nichts
fehlt. Sie müssen …«
»Sie wissen, was in meinen Akten steht.« Rowans
Stimme nahm einen beschwörenden Ton an. »So etwas wird nie gelöscht
– das haben Sie mir selbst gesagt -, obwohl ich damals
freigesprochen wurde. Es wird jemand kommen und bei uns
rumschnüffeln – und diesmal werden nicht Sie es sein.«
Annie schloss die Augen und atmete tief durch,
übermannt von der Erinnerung. Der Fall war auf ihrem Schreibtisch
gelandet, einer von vielen; und sie hatte in ihrer jahrelangen
Tätigkeit als Sozialarbeiterin so viele Fälle von
Kindesmisshandlung gesehen, dass sie anfangs dazu geneigt hatte,
dem Bericht unbesehen zu glauben – wofür sie sich heute schämte.
Sie hatte zu viel Macht über das Schicksal von Menschen gehabt, um
solche Entscheidungen auf die leichte Schulter nehmen zu können.
Hätte ihr Urteil das der Ärzte bestätigt, dann wäre der Fall der
Wains vor ein Zivilgericht gekommen. Und dort wäre das Paar, das
nur über eine sehr dürftige Schulbildung verfügte und sich keinen
Anwalt leisten konnte, der Staatsgewalt und den Aussagen ihrer so
genannten Gutachter hilflos ausgeliefert gewesen. Mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit wären Joseph und die kleine Marie in
eine Pflegefamilie gekommen, und möglicherweise hätten ein oder
beide Elternteile sich vor dem Strafrichter verantworten
müssen.
Ihr erstes Gespräch mit den Wains hatte sie an Bord
der Daphne geführt. Das Boot hatte ihr gleich gefallen, und
sie war angenehm überrascht von Rowans schüchterner
Gastfreundschaft. Die ersten leisen Zweifel waren ihr gekommen, als
sie eine Mutter gesehen hatte, deren aufopfernde Sorge um ihren
Sohn in keiner Weise darauf abzuzielen schien, die Aufmerksamkeit
auf sich selbst zu lenken, und einen Vater, der ihr zwar recht
schroff begegnete, zu dem kleinen Jungen aber stets liebevoll und
zärtlich war. Damals schienen die plötzlichen Anfälle von Joseph
und seine Magenprobleme vorüber zu sein, und seine Eltern wirkten
unendlich erleichtert
Je öfter Annie die Eltern besuchte, je öfter sie
beobachtete, wie sie mit ihrem Kind umgingen, desto mehr war sie
davon überzeugt, dass die Anschuldigungen gegen sie
ungerechtfertigt waren. Sie hatte sich letztlich auf ihren Instinkt
verlassen, doch ehe sie beweisen konnte, dass die Wains und sie
selbst recht hatten, waren monatelange Nachforschungen vonnöten.
Sie musste zahllose Gespräche führen und Stapel von Arztberichten
und Krankenhausunterlagen durchforsten.
Die unstete Lebensweise der Wains hatte den Prozess
erheblich erschwert. Sie blieben immer nur kurze Zeit an einem Ort
und hatten keine Angehörigen oder engen Bekannten, die ihre Angaben
zur Krankheit des kleinen Joseph hätten bestätigen können. Aber in
einem ihrer Gespräche hatte Rowan Annie von Josephs erstem Anfall
erzählt.
Sie waren auf dem Grand Union Canal gewesen und
hatten unterhalb von Birmingham neben einigen anderen Booten
festgemacht. Gabriel war an Deck gewesen, Rowan in der Kabine bei
dem schlafenden Kind, als Joseph sich urplötzlich verkrampfte, den
Rücken durchbog und mit Armen und Beinen um sich zu schlagen
begann. Dann wurde er mit einem Mal schlaff, und seine Haut lief
blau an. Rowan hob ihn aus dem Bettchen und schüttelte ihn voller
Panik, während sie nach Gabriel rief.
Gabe kam sofort die Treppe heruntergeeilt, bei ihm
Charlie, ein stiller, schlaksiger junger Mann, der mit einem alten
Motorboot – einem »Josher« – von Liegeplatz zu Liegeplatz tuckerte.
Doch kaum hatte Charlie das leblose Kind in Rowans Armen erblickt,
war seine Trägheit wie weggeblasen. »Sanitäter-Ausbildung«, sagte
er nur. Er nahm Rowan den Jungen ab und legte ihn auf den Boden,
und nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Atemwege frei
waren, blies er ihm Luft in die Lungen und drückte ihm anschließend
die Hände auf die Brust. Einmal, zweimal, dreimal – dann
durchzuckte
ein Krampf den kleinen Körper, und Joseph fing an zu
schreien.
Charlie aber hatten sie nie wiedergesehen, und
Rowan wusste nicht einmal, ob er immer noch auf dem Kanal unterwegs
war.
Doch Annie war entschlossen, Beweise für Rowans
Geschichte beizubringen, und ihre Suche nach dem geheimnisvollen
Charlie sollte sich als ihre wahre Einführung in die Welt der
Kanalschifffahrt erweisen. Anfangs war sie noch mit dem Wagen
unterwegs gewesen, hatte sich von Cheshire aus immer weiter
vorgearbeitet und schließlich ganz Mittelengland der Länge und der
Breite nach durchquert. Sie hatte die Bootshäfen und Liegeplätze
abgeklappert, die Geschäfte und Kneipen entlang der Kanäle
aufgesucht, und sie hatte jeden gefragt, der mit den Wains Kontakt
gehabt hatte und vielleicht wissen könnte, was aus Charlie geworden
war.
Bald schon war ihr nicht nur klar geworden, dass
sie sich eine nahezu unlösbare Aufgabe vorgenommen hatte, sondern
auch, dass manche der Orte, an denen die Schiffer zusammenkamen,
mit dem Auto schlicht nicht zu erreichen waren. Sie war schon der
Verzweiflung nahe gewesen, als ihr ein Schiffer erzählte, dass er
Charlie nicht nur kenne, sondern ihn sogar noch vor kurzem auf dem
Staff and Worcs Canal unterhalb von Stoke gesehen habe.
Am nächsten Tag hatte Annie mit ihrem eigenen Geld
ein Boot gemietet. Sie wusste, dass ihre Abteilung die Bootsmiete
niemals als angemessene Auslage anerkannt hätte. Aber ihr war auch
klar, dass sie irgendwann in den letzten Wochen die Grenze dessen,
was noch als angemessener Einsatz gelten konnte, überschritten
hatte.
Als Bootsführerin war sie natürlich ein absolutes
Greenhorn gewesen. Allein die Erinnerung daran, wie unmöglich sie
sich bei den ersten Schleusen angestellt hatte, jagte ihr heute
noch
einen Schauer über den Rücken. Nur schieres Glück und die
freundliche Hilfe anderer Schiffer hatten sie davor bewahrt, das
Boot durch ihre panischen und ungeschickten Manöver zum Kentern zu
bringen oder von einem Schleusentor zu stürzen. Aber sie hatte
nicht aufgegeben, und von Tag zu Tag hatte der Kanal sie mehr in
seinen Bann gezogen, während sie sich auf dem Shropshire Union
südwärts Richtung Birmingham vorgearbeitet hatte. Sie lernte, die
»Joshers« zu identifizieren – die restaurierten Boote, die früher
für die Frachtgesellschaft Fellows, Morton & Clayton gefahren
waren, und als sie eines Abends die charakteristische Silhouette
eines Joshers entdeckte, der unterhalb der Schleuse Wolverhampton
21 festgemacht hatte, begann ihr Herz höher zu schlagen. Sie fuhr
näher heran, bis sie die verblasste Schrift auf dem Bootsrumpf
entziffern konnte. Caroline. Das war der Name, den sowohl
die Wains als auch ihr Informant, der Schiffer, ihr genannt hatten.
Es gab Charlie wirklich, und sie hatte ihn gefunden. Ein
berauschendes Gefühl des Triumphs durchfuhr sie.
Er war genau so, wie die Wains ihn beschrieben
hatten, nur nicht mehr ganz so jung; ein dünner Mann mit
Sommersprossen und einem strohblonden Pferdeschwanz. Nachdem er
begriffen hatte, was Annie von ihm wollte, lud er sie auf ein Bier
in seine kleine Kabine ein und schilderte ihr den Vorfall beinahe
haargenau so, wie sie ihn von Rowan Wain gehört hatte. Annie, die
ihre Erregung nur mühsam unterdrücken konnte, protokollierte seine
Aussage und bat ihn, sie zu unterschreiben.
»Armer kleiner Wurm«, sagte er, als sie fertig
waren. »Es war eindeutig eine Art von Anfall. Hat man irgendwann
festgestellt, was ihm fehlt? Die Mutter sagte, er sei schon als
Kind immer krank gewesen. Irgendwas mit Reflux und Ösophagitis. Ich
weiß noch, dass ich mich gewundert habe, dass sie so ein
kompliziertes Wort kennt.«
Zurück auf ihrem gemieteten Boot, hatte Annie sich
zur
Feier des Tages zuerst einmal ein Glas Wein eingeschenkt und dann
über ihr weiteres Vorgehen nachgedacht. Wenn Joseph tatsächlich
unter Anfällen litt, wieso hatte der Arzt dann die Angaben der
Eltern so schnell verworfen? Und gab es irgendeine Verbindung
zwischen den Problemen, die der Junge als Säugling gehabt hatte,
und seinen späteren Anfällen?
Mit einigem Bedauern war sie nach Nantwich
zurückgekehrt und hatte das Boot zurückgegeben, um sich wieder in
den Papierkram zu stürzen. Und endlich zahlte sich ihre Fleißarbeit
aus. Sie stieß auf eine Unregelmäßigkeit in den Unterlagen des
Krankenhauses in Manchester, wo Joseph zuvor behandelt worden war.
Ein Bericht erwähnte eine frühere Einlieferung in ein Krankenhaus
in Leeds, wo ihm Medikamente gegen die Refluxkrankheit verschrieben
worden waren. Und doch hatte der Arzt in seinem Bericht an das
Jugendamt behauptet, Joseph sei nie wegen irgendeiner der
Beschwerden, die seine Eltern beschrieben hatten, behandelt worden.
Wie konnte er das übersehen haben?
Oder vielleicht, dachte Annie, sollte man lieber
fragen: Warum hatte er es übersehen? Sie wusste, dass das
System nicht immun gegen Fehler war, dass Ärzte und Pflegepersonal
oft überarbeitet und übermüdet waren, aber eine so schwerwiegende
Anschuldigung hätte doch gewiss eine gründliche Überprüfung der
Krankengeschichte des kleinen Jungen nach sich ziehen müssen.
Nachdem ihr Argwohn geweckt war, begann sie, das
Krankenhauspersonal zu befragen und die Referenzen des behandelnden
Arztes zu überprüfen. Sie fand heraus, dass er in dem Ruf stand,
wenig Geduld mit Eltern zu haben, die sein Urteil in Frage stellten
oder zu viel von seiner Zeit in Anspruch nahmen. Und in nicht
weniger als drei anderen Fällen hatte er die Diagnose
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gestellt. Selbst wenn man
annahm, dass dies eine seriöse Diagnose war,
blieb die Tatsache, dass eine solche Häufung von Fällen
statistisch gesehen absurd war. Alle betroffenen Familien kamen aus
den unteren Einkommensschichten, alle hatten ihre Kinder in
Pflegefamilien geben müssen.
Annie hatte natürlich empfohlen, Joseph und Marie
Wain nicht auf die Liste der »gefährdeten« Kinder zu setzen oder
sie zu Pflegeeltern zu geben. Josephs Zustand verbesserte sich
darüber hinaus zusehends, und andere Ärzte, die Annie befragt
hatte, versicherten ihr, dass dies nicht ungewöhnlich sei – bei
Kindern würden oft ungeahnte Selbstheilungskräfte während ihrer
natürlichen Entwicklung wirken.
Sie hatte auch gegen den betreffenden Arzt
offiziell Beschwerde eingelegt, doch die Krankenhausleitung hatte
nichts unternommen. Und allen Bemühungen Annies zum Trotz stand in
Rowan Wains Patientenunterlagen immer noch die Diagnose MSS. Das
Stigma der Kindesmisshandlung und der psychischen Störung hing ihr
nach wie vor an, ein unauslöschliches Kainsmal.
Jetzt tätschelte Annie beschwichtigend Rowans Hand.
»Es gibt keinen Grund, weshalb irgendjemand sich für die Kinder
interessieren sollte«, sagte sie, doch im Geiste ging sie schon die
möglichen Szenarien durch. Was, wenn Rowan ernsthaft, ja unheilbar
krank war? Was, wenn irgendein übereifriger Arzt oder eine
Krankenschwester sich ihre Akte ansah und entschied, dass Rowan –
oder Gabriel, falls Rowan stürbe – nicht in angemessener Weise für
die Kinder sorgen könnte? Dann könnte alles wieder von vorne
losgehen, und diesmal wäre sie nicht in der Lage, die Familie zu
schützen.
Rowan schüttelte nur den Kopf, als hätte das Reden
sie zu sehr erschöpft.
Mit wachsender Panik wandte Annie sich zu Gabriel
um. »Sie müssen doch sehen, dass es nicht so weitergehen kann. Sie
müssen etwas unternehmen.« Der Anblick der zwei verängstigten
Kindergesichter hatte sie davon abgehalten, hinzuzufügen: »Sonst
muss sie vielleicht sterben.« Doch Gabriels Blick sagte ihr, dass
er Bescheid wusste. Er wusste Bescheid, aber er konnte nicht
riskieren, seine Kinder zu verlieren, und das Dilemma drohte ihn zu
zerreißen.
»Keine Krankenhäuser«, wiederholte er, doch er
klang längst nicht mehr so entschlossen, und sein wettergegerbtes
Gesicht war von Angst gezeichnet.
Keine Krankenhäuser. Eine Idee setzte sich
in Annies Kopf fest. Es könnte funktionieren – zumindest würden sie
dann wissen, womit sie es zu tun hatten.
Sie drückte Rowans Hand, dann wandte sie sich zu
Gabriel um. »Und wenn … wenn ich jemanden finden würde, der
herkommen und sich Rowan anschauen kann? Ganz inoffiziell und
vertraulich?«
»Ich bin mir sicher, dass es keinen Grund zur
Sorge gibt«, sagte Kincaid. »Du kennst doch Jules und ihr
Temperament – nach gestern Abend überrascht es mich gar nicht, dass
sie das Weihnachtsessen mit Caspar nicht durchstehen konnte. Und
sie hat sich immer schon gerne irgendwo verkrochen, wenn sie
schlecht drauf war.«
Nach dem Gespräch mit Lally hatte seine Mutter
vergeblich versucht, Juliet zu Hause oder auf ihrem Handy zu
erreichen. Lallys flehentlichen Bitten zum Trotz hatte sie
anschließend Caspar angerufen, um sich von ihm bestätigen zu
lassen, was das Mädchen erzählt hatte. Rosemary hatte mit fest
zusammengepressten Lippen gelauscht und dann den Hörer unnötig
heftig auf die Gabel geknallt. »Er sagt, es stimmt«, hatte sie
vermeldet. »Juliet hat ohne ein Wort der Erklärung das Haus
verlassen, noch bevor das Essen auf dem Tisch stand. Er sagt, sie
wollte ihnen allen absichtlich den Abend verderben.«
Jetzt schüttelte sie nur den Kopf. »Das gefällt mir
ganz und
gar nicht.« Die Sorge verdüsterte ihre Augen, und zum ersten Mal
registrierte Kincaid betroffen, wie sehr sie gealtert war, seit er
sie das letzte Mal gesehen hatte.
Gemma hatte sich wieder dem Abwasch zugewandt, doch
er konnte sehen, dass sie aufmerksam zuhörte. Eine Haarsträhne
hatte sich aus der Klammer gelöst und kringelte sich feucht an
ihrer Wange, doch er stand zu weit weg, um sie mit einer
unauffälligen Handbewegung zurückstreichen zu können.
Sein Vater war in die Küche gekommen und stand
neben seiner Mutter; Toby hatte sich vom Tisch davongeschlichen und
es sich auf dem Hundeplatz bequem gemacht, wo er sich abwechselnd
mit den drei Hunden balgte und Geordies lange Ohren streichelte.
Und Kit – Kit beobachtete sie alle, und in seinen Augen flackerte
Angst.
Kincaids Job brachte es mit sich, dass er manchmal
in den alltäglichsten Situationen automatisch die potenzielle
Tragödie sah; für Kit aber war diese Möglichkeit real und stets
gegenwärtig. In Kits Welt war es eben nicht selbstverständlich,
dass eine Mutter, die ihre Kinder allein ließ, wieder zurückkam.
Und eine solche Belastung war das Letzte, was der Junge in diesem
Moment gebrauchen konnte.
Während er innerlich seine Schwester verfluchte,
sagte Kincaid: »Wir wollen doch nicht gleich die Pferde scheu
machen, Mutter. Wir wissen, dass sie den Wagen genommen hat. Sie
ist sicher nur heimgefahren und hat sich in ihren Schmollwinkel
zurückgezogen, und du tust ihr wahrscheinlich keinen großen
Gefallen, wenn du dich einmischst. Du wirst sehen, sie ruft sicher
bald an. Und jetzt gehen Gemma und ich mit den Jungs erst mal ein
bisschen spazieren, solange es noch hell ist. Auf die Queen können
wir doch gut verzichten, was?«, fügte er mit einem Zwinkern in Kits
Richtung hinzu. In der Familie waren sich alle einig, dass die
Weihnachtsansprache der Königin das perfekte Schlafmittel
war.
Gemma deutete mit dem Kopf auf Toby, der einen Arm
um den Cockerspaniel geschlungen hatte, die Augenlider schon auf
halbmast. »Geh du nur mit Kit«, sagte sie leise. »Ich bleibe mit
Toby hier und leiste deinen Eltern Gesellschaft.«
Tess, Kits kleiner Terrier, legte erwartungsvoll
den Kopf schief. »Lass sie hier«, sagte Kincaid leise, um Toby
nicht zu stören, und Kit gab der Hündin ein Zeichen, liegen zu
bleiben. Auf leisen Sohlen schlichen sie in die Diele, nahmen ihre
Jacken vom Haken und zogen vorsichtig die Haustür hinter sich zu,
wie zwei Diebe in der Nacht. Die Landschaft lag immer noch unter
einer hellen Schneedecke, aber das Licht war schon weicher, ein
Vorbote der früh hereinbrechenden Dunkelheit. Der süßlich-herbe
Geruch von Holzrauch lag in der Luft und kratzte Kincaid im
Hals.
Wortlos ging er voraus, um das Haus herum und
weiter über den Fußpfad, der die Wiese seiner Eltern durchquerte.
Auch nach all den Jahren noch schienen seine Füße jede Erhebung und
jede Senke auf diesem Grundstück zu kennen, und er fand es
erstaunlich, wie wenig sich hier auf dem Land verändert hatte, seit
er nach London gegangen war. Einmal blickte er sich um, doch das
Haus war schon hinter seinem Schutzwall aus Bäumen
verschwunden.
Kit stapfte neben ihm durch den Schnee und setzte
bedächtig einen Fuß vor den anderen, als wäre jeder einzelne
Stiefelabdruck von enormer Bedeutung. Und er schien ebenso
entschlossen, jeden Blickkontakt mit seinem Vater zu vermeiden.
Nach einer Weile aber sagte er: »Willst du mir denn keine
Standpauke halten?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor.« Kincaid schlug
bewusst einen lockeren Ton an. Nach der lautstarken
Auseinandersetzung von gestern Morgen war ihm klar geworden, dass
es jetzt erst einmal darum ging, wieder mit seinem Sohn ins
Gespräch zu kommen. »Willst du denn eine hören?«
Damit erntete er einen verblüfften Blick. »Äh, nee,
eigentlich nicht.«
»Magst du mir denn stattdessen vielleicht erzählen,
was da in der Schule los ist?«, fragte Kincaid immer noch ganz
beiläuf ig.
Kit zögerte so lange, dass Kincaid schon glaubte,
er werde gar nicht antworten, doch endlich sagte er: »Nicht jetzt.
Heute jedenfalls nicht mehr.«
Kincaid nickte. Er verstand, was Kit nicht in Worte
fassen konnte. Nach einer Weile tätschelte er die Schulter des
Jungen. »Waren doch schöne Weihnachten.«
»Super«, bestätigte Kit. Jetzt beschleunigte der
Junge seinen Schritt und schwang die Arme, als hätte er endlich die
Erlaubnis bekommen, den Spaziergang zu genießen. Die Anspannung war
von ihm abgefallen, und plötzlich wirkte er wie ein ganz normaler
Junge, auf dessen Schultern nicht das ganze Gewicht der Welt
lastete – so normal, wie ein Dreizehnjähriger eben sein konnte,
dachte Kincaid.
Sie gingen weiter, und das Schweigen war jetzt
beinahe wie ein Band, das sie beide verknüpfte. Die Kälte und die
körperliche Anstrengung ließen kreisrunde rote Flecken auf Kits
Wangen aufblühen. Schließlich erreichten sie den höchsten Punkt
einer kleinen Erhebung und erblickten vor sich den gewundenen Lauf
des Kanals wie ein versunkenes Riesenhalsband, das jemand achtlos
über die liebliche Landschaft von Cheshire geworfen hatte.
Kit blieb stehen. Er schien verwirrt und suchte den
Horizont ab, als wolle er sich orientieren. »Komisch, ich dachte –
gestern Abend hat es so ausgesehen, als würde der Kanal an der
Hauptstraße entlang verlaufen.«
»Tut er auch.« Kincaid bückte sich und zeichnete
zur Erläuterung eine Skizze in den Schnee. »Das war der Hauptarm
des Shropshire Union, der grob in nördlicher Richtung nach
Chester und Ellsmere Port verläuft.« Dann zeichnete er eine andere
Linie, welche die erste im rechten Winkel schnitt, und deutete mit
dem Kopf auf den Kanal vor ihnen. »Das da ist der Middlewich-Arm,
der sich von hier nach Nordwesten schlängelt, in Richtung
Manchester. Die zwei kreuzen sich bei Barbridge, wo wir gestern
Abend von der Hauptstraße abgebogen sind. Ist eine ganz schöne
Herausforderung, ein Boot an der Barbridge Junction um die Kurve zu
manövrieren, das kann ich dir sagen.«
»Können wir uns das mal anschauen?«, fragte Kit mit
einer unverfälschten Begeisterung, die Kincaid überraschte.
»Wüsste nicht, was dagegen spricht.« Er hatte
sowieso in diese Richtung gehen wollen und freute sich, dass er
etwas gefunden hatte, wofür sein Sohn sich interessierte. Sie
gingen weiter durch das Gatter im Grundstückszaun und hinunter zum
Leinpfad. Hier war der Schnee von vielen Menschenfüßen und
Hundepfoten festgetrampelt. Kahle Bäume zeichneten sich wie dürre
Skelette vor dem Schnee ab, und in der Ferne kreisten drei schwarze
Vögel. Krähen, dachte Kincaid, auf der Suche nach Aas – und das,
wenn er sich nicht täuschte, ganz in der Nähe des Schauplatzes von
Juliets grausigem Fund.
Nicht, dass sie dort noch irgendetwas hätten finden
können, aber die Beobachtung hatte ihm den gestrigen Vorfall in
Erinnerung gebracht, und er fragte sich, wie weit die Ermittlungen
wohl gediehen waren. Hatten sie das Kind inzwischen identifiziert?
Solche »kalten« Fälle, bei denen die Tat schon sehr lange
zurücklag, waren immer die schwierigsten. Da brauchte er seinen
ehemaligen Schulfreund Ronnie nicht zu beneiden – das versuchte er
sich jedenfalls einzureden, doch die Neugier ließ sich nicht so
leicht unterdrücken.
Er dachte an Juliet und fragte sich, ob das Bild
des toten Kindes sie wohl verfolgte. Hatte es sie vielleicht dazu
getrieben, den Bauplatz noch einmal aufzusuchen – das und die Sorge
um die Zukunft ihres Projekts? Und überhaupt, was lief da
eigentlich zwischen Juliet und Caspar ab?
»Denkst du, dass mit Tante Juliet alles in Ordnung
ist?«, fragte Kit, als hätte er seine Gedanken gelesen.
»Natürlich. Deine Tante Jules ist zäher, als sie
aussieht, und sie kann durchaus auf sich selbst aufpassen. Ich bin
sicher, dass sie einen guten Grund hatte, für eine Weile zu
verduften«, antwortete er, aber während er dies sagte, wurde ihm
klar, wie wenig er tatsächlich über seine Schwester wusste.
Es ging nur ein schwacher Wind, und in dem
strahlenden Sonnenschein hatte er zunächst gar nicht gefroren.
Jetzt aber stellte er fest, dass er seine Nase und seine
Ohrmuscheln kaum noch spürte, und selbst in den Handschuhen wurden
seine Finger allmählich steif. Er vergrub die Hände tief in den
Manteltaschen und sagte: »Juliet hat diesen Spaziergang als Kind
geliebt. Sie konnte von morgens bis abends durch die Gegend
streifen und das bei jedem Wetter. Sie hat immer gesagt, wenn sie
mal groß wäre, wollte sie Entdeckerin werden, so wie Ranulph
Fiennes.« Sie war so voller Träume gewesen, seine Schwester. Hatte
irgendetwas in ihrem Leben sich so entwickelt, wie sie es sich
ausgemalt hatte?
»Aber jetzt hat sie stattdessen eine Baufirma. Ist
das nicht ein komischer Beruf für eine Frau?«
Kincaid lächelte. »Lass dich mal lieber nicht von
Gemma bei so einer Bemerkung erwischen. Das ist auch nicht
komischer, als wenn eine Frau Kriminalbeamtin wird. Und Jules war
immer schon handwerklich begabt. Mein Vater hat uns früher oft
Bühnenbilder gebaut, und Jules hat ihm dabei geholfen.«
»Ihr habt Theaterstücke aufgeführt?«, fragte Kit
mit einem sehnsüchtigen Unterton.
Schon meldete sich Kincaids schlechtes Gewissen.
War er nicht ständig zu beschäftigt? Ließ ihm seine Arbeit
genug Zeit für seinen Sohn?
»Meistens Shakespeare«, antwortete er mit
erzwungener Munterkeit. »Für den hatte mein Papa eine besondere
Schwäche. Früher konnte ich ganze Passagen aus Hamlet
auswendig deklamieren, aber inzwischen habe ich alles
vergessen.«
Plötzlich stand ihm das Bild eines strahlenden
Sommernachmittags vor Augen, und er sah Juliet als Ophelia,
ausgestreckt auf einer blauen Plastikplane, die sie als Bach
zweckentfremdet hatten. »Kannst du nicht ein bisschen anmutiger
sterben?«, hatte er genörgelt, und sie hatte sich aufgesetzt und
ihn finster angestarrt.
»Tote sehen nun mal nicht anmutig aus«, hatte sie
ihm entgegengeschleudert, und er hatte seither reichlich
Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie recht sie hatte. Er
verdrängte die Erinnerung und suchte nach einer Ablenkung.
Kit lieferte sie ihm: »Sieh mal, da ist ein
Boot!«
Sie waren schon fast in Barbridge, und es lag wohl
nur an der stillen Jahreszeit, dass sie bis jetzt noch keine Boote
an den Liegeplätzen gesehen hatten, vermutete Kincaid. »Und sogar
ein besonders schönes«, meinte er bewundernd, als sie näher kamen.
Der Rumpf glänzte in dunklem Saphirblau, abgesetzt mit himmelblauen
Streifen. Die Ruderpinne war in den gleichen Farben gestreift, und
alles an dem Boot, bis hin zur Messingeinfassung des Schornsteins,
war blitzsauber und zeugte von liebevoller Pflege. Der Name prangte
in gestochen scharfen weißen Buchstaben am Bug: Lost
Horizon. Rauch quoll in einem steten Strom aus dem Schornstein,
und er hörte das leise Summen des Generators. Offenbar war jemand
an Bord.
Als sie auf Höhe des Boots waren, ging die Bugtür
auf, und eine Frau trat auf das Deck hinaus. Sie war groß
gewachsen, und auch die dick gefütterte Jacke konnte ihre schlanke
Gestalt nicht verbergen. Ihr kurzes blondes Haar glänzte in der
Sonne. Als sie die beiden erblickte, nickte sie ihnen zu, und
Kincaid wurde plötzlich bewusst, dass er sie kannte.
Gestern Abend in der Kirche war sie ihm wie eine
Außenseiterin erschienen, die sich von der Welt abschirmte und nur
aus sich herausging, wenn sie sang. Hier aber strahlte jede ihrer
Bewegungen Sicherheit und Selbstbewusstsein aus. Hier sah er sie in
ihrem Element.