24
Er wusste sofort, dass es ein Vorwand war, als Gemma sagte, sie müssten die Kinder abholen. Er starrte sie fragend an, doch sie schüttelte nur kaum merklich den Kopf.
Frustration packte ihn. Er wollte nicht gehen, bevor er selbst mit Babcock gesprochen und gehört hatte, was dieser aus Piers Dutton herausbekommen hatte. Bis jetzt sah es zumindest nicht so aus, als hätte Dutton Caspar in die Betrügereien hineingezogen, aber wenn Caspar doch in die Sache verwickelt war … Das wäre eine Katastrophe für Juliet, und es wäre seine Schuld.
Und wenn Dutton vom Verdacht des Mordes an Annie Lebow freigesprochen würde, bedeutete das, dass er, Kincaid, diese Katastrophe vollkommen unnötig heraufbeschworen hatte? Gewiss hatte Dutton eine fette Haftstrafe verdient, weil er seine Kunden systematisch betrogen hatte, aber war das den Schaden wert, den Juliet dadurch erlitten hatte? Vielleicht hatte seine Schwester von Anfang an recht gehabt – er war ein selbstgerechter Scheißkerl, allein an seinem eigenen tugendhaften Image interessiert. Die Tatsache, dass Caspar Newcombe ein Idiot war, machte die Sache auch nicht viel besser.
Gemma hatte schon ihre Jacke übergezogen und warf ihm nervöse Blicke zu, während sie mit Sheila Larkin plauderte. Was hatte sie herausgefunden, das sie nicht vor …
Der Gedanke, der ihn durchzuckte, ließ das Blut aus seinem Kopf weichen. Warum hatte Caspar Piers Dutton ein Alibi liefern wollen? Was, wenn es gar nicht Dutton war, der ein Alibi brauchte, sondern Caspar selbst?
Was, wenn Caspar herausgefunden hatte, dass Annie Lebow vorhatte, Dutton zu verpfeifen, weil er sie betrogen hatte, und beschlossen hatte, dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kam? Es stand nicht nur ihre Firma auf dem Spiel – Kincaid gewann allmählich den Eindruck, dass Caspar für Piers Dutton alles tun würde. Es war offensichtlich, dass Dutton keineswegs bereit gewesen war, das Gleiche für ihn zu tun.
Plötzlich hatte er es ebenso eilig wie Gemma, hier wegzukommen. Er schnappte sich seine Jacke und unterbrach Gemmas Unterhaltung mit Larkin. »Sagen Sie Ihrem Chef, er soll uns anrufen, wenn es etwas Neues gibt«, sagte er zu der jungen Frau, und sie nickte, wenngleich sie über seine Schroffheit ein wenig überrascht schien.
»Wird gemacht.«
Er nahm Gemmas Arm, eilte mit ihr die Treppe hinauf und hinaus in die frühe Abenddämmerung. Die dicken grauen Wolken schienen direkt über den Dächern zu hängen und mit einem ungeheuren Gewicht darauf zu lasten, und feine Schneeflocken prickelten auf Kincaids Wangen wie mikroskopisch kleine Glassplitter.
»Ist es wegen Caspar?«, fragte er. »Was hast du herausgefunden?«
»Caspar?« Gemma sah zu ihm auf und schirmte ihre Augen mit der Hand vor dem Schnee ab. »Wovon redest du?«
Erleichterung durchflutete ihn. Er hatte Gespenster gesehen, sonst nichts, und es widerstrebte ihm plötzlich, über seinen unsinnigen Verdacht zu sprechen. »Was ist es dann?«, fragte er, doch sie hatte sich schon von ihm gelöst und lief zu ihrem Wagen, wo sie die Tür aufriss und sich auf den Fahrersitz fallen ließ.
Sie hatte den Motor schon angelassen, ehe er seine Tür zugeschlagen hatte, und den Gang eingelegt, bevor er sich anschnallen konnte. »Gemma, sagst du mir vielleicht mal, wo’s brennt?«
Gemma lenkte den Wagen in den dichten Spätnachmittagsverkehr im Zentrum von Crewe, ohne ihn anzusehen, und sagte nur: »Marie Wain.« Als er sie verständnislos anstarrte, fügte sie hinzu. »Es war ein offenes Geheimnis. Annie Lebow war öfter bei den Kindern, als sie die ärztliche Versorgung für Rowan organisierte. Sie hätte es sehen müssen.«
»Gemma.« Er legte seine Hand auf ihre. »Würdest du mir bitte endlich sagen, wovon du die ganze Zeit redest?«
Diesmal sah sie ihn kurz an, als sie vor einer Ampel herunterschaltete. »Marie Wain – das kleine Mädchen, das ich getroffen habe – ist nicht Marie Wain. Es steht schwarz auf weiß in Annies Aufzeichnungen zu ihrem damaligen Fall. Das Baby von Gabriel und Rowan Wain hatte braune Augen, wie ihr Bruder, wie ihre Eltern. Die Augen des Mädchens, das sie Marie nennen, sind blau wie Rittersporn.«
Er ließ ihre Worte auf sich wirken. »Aber … das Mädchen war doch noch ein Baby, als Annie es zuletzt sah, nach Abschluss ihres Falles. Sie könnte sich geirrt haben …«
»Nein. Die Augen von Babys sind in den ersten Wochen manchmal ein wenig milchig, von undefinierbarer Farbe. Aber danach ist es ganz klar. Und bei blauäugigen Kindern ist es noch leichter. Bei Toby konnte man nach ein oder zwei Tagen schon erkennen, dass er eindeutig blaue Augen hatte.«
»Willst du damit sagen, die Wains hätten ihr Kind mit einem anderen vertauscht? Ohne dass jemand etwas merkte?« Allmählich wurde ihm klar, was das bedeutete. »Wenn das so ist, dann ist das Baby aus dem Stall möglicherweise …«
»Ich weiß es nicht.« Sie beschleunigte ein wenig zu stark, und die Hinterreifen des Escort schlitterten ein Stück über den vereisten Asphalt. »Aber wir werden es herausfinden.«
»Gemma, wenn du recht hast, hätten wir Babcock Bescheid sagen müssen.«
»Erst, nachdem wir mit Gabriel Wain geredet haben.«
 
Quietschsauber, in Jeans und einen flauschigen Wollpulli gehüllt, ging Juliet nach unten und traf dort ihre Mutter, die inzwischen vom Buchladen zurück war und wie ein Wirbelwind in der Küche herumsauste.
»Ich habe ein paar Sachen zum Abendessen für die Kinder rausgestellt«, sagte Rosemary. »Da ist ein Blumenkohlauflauf, den ich noch im Tiefkühlfach hatte, und Zutaten für einen Salat. Wenn du dann vielleicht noch …«
»Mama, bitte. Ich krieg das schon hin«, unterbrach Juliet sie, jedoch ohne Schärfe. Ihre Eltern waren bei Freunden in Barbridge zum Essen eingeladen, ein Termin, der schon sehr lange feststand, und Juliet wusste, dass Rosemary ihre Fürsorge übertrieb. »Geht nur und amüsiert euch schön. Wir werden schon nicht verhungern.« Spontan umarmte sie ihre Mutter. Der vertraute Duft des Maiglöckchenparfüms stieg ihr in die Nase, und sofort fühlte sie sich irgendwie getröstet.
Welche Düfte ihre Kinder wohl mit ihr assoziieren würden, wenn sie erwachsen waren? Schweiß, Ziegelstaub und Sägemehl?
»Bist du sicher?«, fragte Rosemary und strich ihr über die Wange. »Duncan und Gemma dürften bald hier sein.«
»Ja. Und wenn du Papa nicht endlich mal vor die Tür schleppst, wird er sich doch wieder nur in den Monopoly-Marathon reinziehen lassen. Aber ich bin ganz froh, dass ihr nicht so weit fahren müsst. Sieht aus, als ob es eine ziemlich scheußliche Nacht wird.«
Sie hatte Rosemary gerade in den Mantel geholfen und ihren Eltern an der Haustür nachgewinkt wie eine Mutter, die ihre Kinder in die Schule schickt, als das Telefon klingelte. Sie wollte schon ihr Handy aus der Tasche ziehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie es oben bei ihren Arbeitsklamotten hatte liegen lassen. Es war das Haustelefon.
Die Kinder waren alle im Wohnzimmer versammelt, und nachdem weder Lally noch Sam auftauchten – obwohl ihr Sohn normalerweise mit der Promptheit eines Pawlowschen Hundes auf ein läutendes Telefon reagierte -, schlurfte sie selbst in die Küche. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich mit der Nummer ihrer Eltern.
»Juliet? Bist du’s?«
Überrascht erkannte sie die Stimme ihrer Freundin Gill, die in Nantwich in der Nähe des Marktplatzes eine Kunsthandlung hatte.
»Gill?«
»Ich hab’s immer wieder bei euch zu Hause und auf deinem Handy versucht«, fuhr Gill fort. »Und da dachte ich mir, ich probier’s mal bei deinen Eltern.«
Juliet war sofort ein wenig beunruhigt. Gill würde sie nie so hartnäckig zu erreichen versuchen, wenn sie bloß plaudern wollte, und um diese Uhrzeit hätte sie ihren Laden längst geschlossen haben und auf dem Weg zu ihrem Cottage in der Nähe von Whitchurch sein müssen.
»Was gibt’s? Ist was passiert?«
»Das Büro von deinem Mann, Newcombe & Dutton – da brennt’s. Die Feuerwehr ist schon da, aber sie haben es noch nicht unter Kontrolle. Ich glaube nicht, dass jemand drin ist, aber nachdem ich weder dich noch Caspar erreichen konnte …«
»Caspar? Du hast es auch auf seinem Handy versucht?«
»Ja. Soll das heißen, er ist nicht bei dir?«
»Nein. Gill, sei mir nicht böse, aber ich muss sofort los. Ich ruf dich später zurück.« Juliet legte auf, bevor ihre Freundin etwas erwidern konnte. Sie konnte jetzt keine neugierigen Fragen beantworten. Ihre Knie zitterten vor Panik. Jack, der die Angst in ihrer Stimme registriert hatte, stand von seinem Hundeplatz am Ofen auf, kam auf sie zugetapst und wedelte mit seinem buschigen Schwanz, während er aufmerksam zu ihr aufschaute.
»Alles in Ordnung, Junge«, sagte sie, womit sie sich selbst ebenso sehr zu beruhigen suchte wie den Hund. Dennoch musste sie sich für einen Moment am Küchentisch festhalten. Was, wenn Caspar irgendetwas Dummes angestellt hatte? Was, wenn Caspar noch in dem brennenden Haus war?
Sie musste hinfahren, musste mit eigenen Augen sehen, was passiert war.
Wie elektrisiert von ihrem Entschluss, gab sie sich ganz dem Fluchtinstinkt hin. Erst als sie schon den Mantel anhatte und halb zur Tür hinaus war, fielen ihr die Kinder ein.
 
»Ich muss noch mal weg. In der Stadt brennt’s.« Kits Tante Juliet war ins Wohnzimmer geplatzt und hatte die Tür so laut knallen lassen, dass alle Kinder zusammengezuckt waren. »Lally«, sagte sie atemlos, »Kit, ihr zwei passt auf die Jungen auf. Sammy, du tust, was deine Schwester sagt. Ich bin so bald wie möglich wieder da.«
Und damit war sie verschwunden. Die Kinder saßen wie angewurzelt da und starrten einander erschrocken an, bis Sam schließlich sagte: »Es brennt? Was soll das denn heißen? Warum muss sie deswegen weg? Meint ihr, es ist unser Haus?«
»Natürlich nicht, du Dussel«, antwortete Lally. »Das hätte sie doch gesagt.« Sie fing Kits Blick auf, deutete zur Tür und schälte sich schon aus der Sofaecke, in die sie sich gekuschelt hatte. »Ich muss auch noch mal weg. Sam und Kit, ihr passt auf Toby auf.«
»Aber ich will nicht …«
»Mama hat gesagt, du sollst tun, was ich sage, und ich sage dir, dass du auf Toby aufpassen sollst. Keine Widerrede. Und wehe, du petzt, dann kannst du dich auf was gefasst machen.«
Ohne die kleinen Jungen eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie hinaus ins Treppenhaus und begann in ihre Stiefel zu schlüpfen.
»Lally, das ist doch Wahnsinn«, protestierte Kit, der ihr gefolgt war. »Es ist dunkel, und es schneit. Was kann so dringend sein, dass du wegmusst?«
Lally nahm eine Fleecemütze vom Garderobenhaken und sagte: »Ich muss mich unbedingt mit Leo treffen. Ich hab’s ihm versprochen. Ich … ach, ist ja auch egal. Ich brauch dir doch nicht zu sagen, warum.«
In ihrem Blick lag etwas, was ihm Angst machte, eine tollkühne Entschlossenheit – nein, mehr als das, eine Art Verzweiflung. Er fürchtete, wenn er sie jetzt allein gehen ließe, würde sie vielleicht nie wiederkommen.
Und das hieß, dass er keine Wahl hatte. »Warte«, sagte er. »Ich komme mit.«
 
Gemma hatte die Taschenlampe aus der Türablage mitgenommen, doch nachdem sie von der Brücke zum Leinpfad hinuntergestiegen waren, mussten sie feststellen, dass sie damit noch weniger sehen konnten, gefangen in einem gleißenden Kegel aus wirbelnden Schneeflocken. Sie stellten sich im Brückenbogen unter, und Gemma schaltete die Taschenlampe aus. Sie war froh um Kincaids beruhigende Nähe, als sie dort warteten, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Der Schnee bildete einen dichten Vorhang zu beiden Seiten des steinernen Bogens, doch die Flocken waren größer und weicher geworden, seit sie in Crewe losgefahren waren, und als Gemma ins Freie trat, konnte sie schon die Uferlinie des Kanals und die Umrisse der vertäuten Boote ausmachen. Dann sah sie einen schmalen Lichtstreifen – den Schein einer Lampe, der durch einen Schlitz in den Vorhängen hinter einem Bullauge drang, und sie wusste, dass die Daphne noch dort lag, wo sie sie zuletzt gesehen hatte.
Sie ging darauf zu, Kincaid so dicht hinter ihr, dass sie sein unterdrücktes Fluchen hören konnte, als der Schnee in seine Schuhe drang. Auf Höhe des Boots angelangt, blieb sie stehen und spürte die Wärme seines Körpers in ihrem Rücken, als er zu ihr aufschloss und ihr flüchtig die Schulter tätschelte.
Diesmal rief sie nicht, sondern tastete nach der Bootswand und stieg vorsichtig an Deck, um dann sogleich Platz für Kincaid zu machen. Sie wusste, dass das leichte Schaukeln des Bootes, verursacht durch ihr vereintes Körpergewicht, ihre Anwesenheit bereits verraten haben musste, und klopfte sogleich kräftig an die Kabinentür. »Mr. Wain, ich bin’s, Gemma James. Wir müssen mit Ihnen reden.«
Zu Gemmas Überraschung wurde die Tür unmittelbar darauf geöffnet, und Gabriel Wain starrte schweigend zu ihnen hinaus. Nach einer Weile trat er ein paar Schritte zurück, und Gemma sah, dass drei Stufen in die Kabine führten. Sie hielt überrascht den Atem an, als sie hineinspähte, und glaubte im ersten Moment, sich in eine Puppenstube verirrt zu haben – so winzig war der Raum, so raffiniert eingeteilt und so einladend, mit seinen dunkel getäfelten Wänden, die mit glänzenden Messinggeräten und Tellern mit fein ziselierten Rändern geschmückt waren. Die Vorhänge, rot gemustert wie die Kissen auf den zwei Sitzbänken, schufen eine heimelige Atmosphäre, und ein Feuer brannte in dem gusseisernen Herd, der geschickt in die Ecke nahe den Eingangsstufen eingepasst war. Von der schrägen, ebenfalls vertäfelten Decke hing eine Laterne herab.
Aber alles lenkte den Blick auf das Gemälde auf der Unterseite eines an der Wand befestigten Klapptischs. Ein heller, gewundener Weg führte hinauf zu einem verwunschenen Schloss hoch oben auf einem Hügel. Die Farben waren leuchtend, das Gras märchenhaft grün, der Himmel strahlend blau, die Wolken schimmerten weiß. Details und Perspektive verrieten die Hand eines wahren Künstlers.
»Hat meine Frau gemalt«, sagte Gabriel Wain mit unerwartetem Stolz in der Stimme. »Niemand auf dem ganzen Cut beherrscht den alten Stil so wie meine Rowan.«
Jetzt entdeckte Gemma noch andere Stücke, die Rowans Signatur trugen – einen blauen Metallbecher, bemalt mit roten und gelben Rosen, eine Wasserkanne, eine Schale.
»Sie lassen die kalte Luft rein«, meinte Wain und deutete mit einem Nicken auf die Tür hinter Gemma.
Sie schreckte auf und merkte, dass sie wie angewurzelt dagestanden und Kincaid den Weg versperrt hatte. Rasch trat sie einen Schritt vor.
»Sie haben die Kabine im Originalzustand erhalten«, sagte Kincaid, als er hinter ihr die Stufen hinunterstieg. Er deutete auf den Durchgang zum Bug. »Aber Sie haben den ehemaligen Laderaum wahrscheinlich auch zu Wohnräumen umgebaut?«
»Dieses Boot war ursprünglich als Butty konstruiert – es hatte keinen eigenen Motor und wurde von einem anderen geschleppt; deshalb war die Kabine größer«, erklärte Wain. »Aber Sie sind sicher nicht bei diesem Wetter hier rausgekommen, um mein Boot zu bewundern, Mr. … Kincaid, nicht wahr?« Er forderte sie nicht auf, sich zu setzen.
Sie rückte ein Stück weiter in die Mitte der Kabine vor. Kincaid blieb hinter ihr stehen und signalisierte ihr damit, dass sie den Anfang machen sollte. Gemma sammelte sich und sagte: »Mr. Wain, wir müssen wissen, was mit Marie passiert ist.«
Wain starrte sie an, und seine Augen weiteten sich. Er war auf alles vorbereitet gewesen, dachte sie, nur darauf nicht. »Marie? Sie ist mit Joseph bei der Ärztin. Die wird Ihnen ja wohl gesagt haben …«
»Nein«, sagte Gemma, und obwohl sie ihre Stimme nicht erhoben hatte, brach Wain ab, als hätte sie ihn geschlagen. »Ich will, dass Sie uns sagen, was mit Marie passiert ist.«
Die Stille dehnte sich in dem beengten Raum aus. Endlich hatte Wain sich wieder gefangen und polterte empört los: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Marie ist bei Dr. Elsworthy, nur für ein paar …«
Im Gang bewegte sich etwas, und gleich darauf betrat eine Frau die Kabine. Sie stellte sich neben Gabriel und legte ihm ihre mageren Finger auf den Arm. Die Geste genügte, um ihn verstummen zu lassen.
Sie war einmal hübsch gewesen, dachte Gemma, aber jetzt lag der Schatten des Todes auf ihr. Die Kleider hingen lose an ihrem abgemagerten Körper, das matte Haar war achtlos im Nacken zusammengebunden, und ihre Haut war fahlgrau. Im Arm hielt sie ein Sauerstoffgerät, wie ein monströses Roboterbaby, mit ihr verbunden durch eine Nabelschnur aus Plastik, die sich am Ende zu einer Nasenkanüle verzweigte.
»Sie müssen Rowan sein«, sagte Gemma sanft. »Ich bin Gemma James, und das ist Duncan Kincaid.«
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte Rowan Wain.
»Wir sind Polizeibeamte aus London, ja«, wich Gemma aus und wünschte sich, sie und Kincaid hätten ihre Taktik vorher besser abgesprochen. »Aber wir sind nicht in offiziellem Auftrag hier.«
»Dann haben Sie kein Recht, uns zu fragen …«
»Gabriel, bitte.« Rowan stützte sich auf seinen Arm, um sich auf eine Bank niederzulassen. »Es hat keinen Sinn. Begreifst du das denn nicht?« Sie blickte beschwörend zu ihm auf. »Und ich muss es erzählen. Jetzt, solange ich noch kann.«
Gabriel Wain schien vor Gemmas Augen in sich zusammenzufallen, als ob ihm das Ziel, das ihm Kraft gegeben hatte, plötzlich genommen worden wäre. Er setzte sich neben seine Frau und nahm ihre Hand, sagte jedoch nichts. Das einzige Geräusch in dem kleinen Raum war das rhythmische Zischen des Sauerstoffs, der aus dem Behälter gepumpt wurde.
»Sie war so vollkommen.« Die Erinnerung formte Rowans Lippen zu einem Lächeln. »Nach der schweren Zeit mit Joseph hatten wir befürchtet, es würde wieder von vorne losgehen, das Erbrechen, die Anfälle. Und es war eine schwierige Schwangerschaft gewesen, mit dem ganzen Ärger, den wir damals hatten.« Sie hielt inne und ließ den Sauerstoff seine Wirkung tun. Nachdem sie eine Weile die Augen geschlossen hatte, um ihre Kräfte zu sammeln, fuhr sie fort: »Aber sie hat ganz normal gegessen und geschlafen, ein hübsches, gesundes Kind mit rosigen Wangen, und sie hat uns überhaupt keinen Kummer gemacht.
Und dann eines Tages, sie war gerade acht Monate alt geworden, habe ich sie da drüben hingelegt, für ihr Nachmittagsschläfchen.« Sie deutete auf den Durchgang, und Gemma sah, dass in der einen Wand eine Aussparung für ein Bettchen war, gerade groß genug für einen Säugling oder ein Kleinkind. »Ich habe Hackfleisch fürs Abendessen gekocht«, fuhr Rowan fort. »Es war ein kalter Tag, und ich wusste, dass Gabriel schwer gearbeitet hatte.« Ihr Blick schweifte in die Ferne, ihre Stimme wurde zu einem kaum vernehmlichen Hauchen. »Gabe hatte Joseph mitgenommen. Joseph war damals fast drei, und es ging ihm schon viel besser, sodass wir uns nicht mehr solche Sorgen gemacht haben. Er half seinem Papa gerne bei der Arbeit, und ich genoss es, mal ein paar Stunden für mich allein zu haben.
Ich habe gesungen. Zu der Musik im Radio. Ein Mann, für den Gabriel gearbeitet hatte, hatte ihm ein Radio geschenkt, das nur mit Batterien lief, deshalb habe ich es nur eingeschaltet, wenn ich mir was Besonderes gönnen wollte. Es war ein albernes Lied. Ich weiß nicht, wie es hieß, aber es hat mich fröhlich gemacht.« Sie summte mit heiserer Stimme ein paar Takte, und Gemma erkannte die Melodie: »Dancing Queen« von ABBA.
»Ich weiß, welches Sie meinen«, sagte sie, und Rowan lächelte, als hätten sie etwas Verbindendes entdeckt.
»Ich habe mir überlegt, was ich malen würde, am Abend, wenn die Kinder im Bett wären.« Rowan brach ab. Ihr Gesicht wurde noch blasser, ihr Atem ging schwerer.
Gemma trat näher zu ihr und sagte: »Ist alles in Ordnung? Soll ich …« Doch Rowan ließ die Hand ihres Mannes los und winkte sie zurück.
»Nein. Bitte. Lassen Sie mich ausreden. Ich hatte das Hackfleisch fast fertig. Es wurde allmählich dunkel draußen, und ich merkte plötzlich, dass Marie schon längst hätte wach sein müssen. Ich wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging zu ihr rein. Dabei habe ich immer noch gesungen.«
Gabriel schüttelte den Kopf, als wolle er sie anflehen, alles abzuleugnen, doch dann schien er einzusehen, dass er sie nicht aufhalten konnte. Er senkte den Kopf, ergriff wieder ihre Hand, und sie alle warteten. Gemma spürte Kincaids Atem warm im Nacken.
»Ich wusste sofort Bescheid. In den Gedichten, die ich als Kind gelernt habe, wurde der Tod immer mit einem Schlaf verglichen, aber das kann man gar nicht verwechseln. Sie war einfach zu still, das habe ich gleich gesehen, obwohl sie mit ihrer kleinen rosa Decke zugedeckt war. Als ich sie anfasste, war sie ganz kalt, und ihre Haut war blau.«
Niemand sagte ein Wort. Das hypnotisierende Zischen des Sauerstoffreglers füllte den Raum, bis Gemma glaubte, ihr Herz schlüge im gleichen Rhythmus. Sie merkte, dass ihre Wangen feucht waren, und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
Sie hatte ihr eigenes Kind in den Armen gehalten – so winzig, so vollkommen -, und sie wusste, dass kein Irrtum möglich war, wenn das Leben einen solchen kleinen Körper verlassen hatte. »Es tut mir leid. Das muss furchtbar für Sie gewesen sein«, sagte sie, und ihre Worte schienen Rowan die Kraft für einen letzten Anlauf zu verleihen.
»Ich habe es versucht. Weiß Gott, ich habe es versucht. Ich habe alles getan, was man uns bei Joseph beigebracht hatte. Ich habe ihr meinen eigenen Atem in die Lungen geblasen, bis ich fühlen konnte, wie ihre Brust sich unter meiner Hand hob und senkte, aber es half alles nichts mehr. Wir lagen unten bei Huddleston, und es war kein Boot in der Nähe, wo ich hätte Hilfe holen können. Als dann Gabriel zurückkam …«
»Ich habe sie gefunden«, sagte Gabriel mit heiserer Stimme. »Rowan mit der kleinen Marie im Arm. Es war zu spät. Zu spät«, wiederholte er, mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Und dann ist mir klar geworden, was passieren würde, wenn irgendjemand davon erfuhr. Wir hätten Joseph auch noch verloren, und Rowan hätte vielleicht ins Gefängnis gemusst. Das konnte ich nicht zulassen.
Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte. Rowan hat sie gewaschen und ihr ihren schönsten Strampelanzug angezogen.«
»Keine Windel. Deshalb hatte sie keine Windel an«, sagte Kincaid leise, als sei ihm plötzlich wieder eingefallen, was ihm die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte. Gabriel nickte.
»Inzwischen war es ganz dunkel. Ich wickelte sie in ihre Decke und trug sie zu dem alten Viehstall. Ich konnte es nicht riskieren, Rowan mitzunehmen, und außerdem musste sie ja auf Joseph aufpassen.« Nachdem er einmal begonnen hatte, schien Gabriel die gleiche Erleichterung zu empfinden wie seine Frau, als die lange angestauten Worte aus ihm hervorbrachen.
»Ich hatte in dieser Woche für den alten Mr. Smith gearbeitet. Der Viehstall war schon seit Jahren nicht mehr als Stall benutzt worden, aber Mr. Smith hatte vor, ihn zu verkaufen, und der Mörtel bröckelte an vielen Stellen. Ich war noch nicht ganz fertig mit den Ausbesserungsarbeiten und hatte deswegen mein Werkzeug dort gelassen. Alles lag griffbereit. Da war diese Futterkrippe, halb versteckt hinter alten Möbeln und einer ausrangierten Melkmaschine – sie war mir aufgefallen, als ich das Gebäude nach Schäden abgesucht hatte. Ich machte … ich habe für Marie getan, was ich konnte …« Er brach ab und schluckte; sein Gesicht war jetzt beinahe so aschfahl wie das seiner Frau. »Und dann habe ich alles dicht gemacht, damit nichts und niemand ihren Frieden stören sollte, und habe alles wieder so hingestellt, wie es vorher gewesen war.
Am nächsten Tag habe ich mich von Mr. Smith auszahlen lassen. Ich wollte nicht, dass geredet wird, es sollte alles ganz normal aussehen. Dann haben wir den Shroppie verlassen, sind die meiste Zeit im Norden geblieben, wo uns niemand kannte. Aber irgendwie fiel es uns immer schwerer und schwerer, nicht hinzufahren. Vielleicht sollte es einfach so sein, dass wir hier waren, als sie gefunden wurde.«
»Aber ich verstehe nicht ganz«, sagte Gemma. »Ihre Tochter, das Mädchen, das Sie Marie nennen … Wer ist sie?«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wer sie ist«, antwortete Gabriel. Etwas in Kincaids Miene musste ihn bewogen haben, rasch hinzuzufügen: »Das soll nicht heißen, dass ich es Ihnen nicht sagen will. Ich meinte, ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Aber ich kann Ihnen sagen, wo sie herkam. Das erste Jahr oder so, da haben wir in ständiger Angst gelebt, weil wir dachten, es könnte jemand unser Baby finden und es irgendwie mit uns in Verbindung bringen. Aber wir konnten das Boot nicht aufgeben – es war alles, was wir hatten -, also schien es uns das Beste, in den großen Städten unterzutauchen. Die Kanäle führen durch die übelsten Viertel, an den alten Lagerhäusern und Slums vorbei, und damals war noch nicht so viel die Rede von ›bevorzugter Lage am Wasser‹.« Es lag ein Anflug von Spott in seiner Stimme.
»Wir waren in Manchester – ich hatte einen Aushilfsjob in einer Fabrik gefunden -, aber in den leer stehenden Lagerhäusern in der Nähe von unserem Liegeplatz, da hatten Drogensüchtige Unterschlupf gefunden, Prostituierte, Jugendliche, die von zu Hause weggelaufen waren und ein Dach überm Kopf brauchten. Rowan hat einige von den Frauen näher kennengelernt; sie hat ihnen geholfen, wo es ging. Eines Tages erzählten sie ihr, sie hätten dieses Mädchen tot aufgefunden – eine Überdosis, wie’s schien. Und ihr kleines Töchterchen hatte noch neben der Leiche gekauert.«
»Das Mädchen war selbst fast noch ein Kind«, warf Rowan ein, und in ihren Augen schien Mitleid auf. »Und die Kleine … es sah aus, als hätte ihre Mutter sich Mühe gegeben, gut für sie zu sorgen, trotz allem. Sie war gut genährt und so sauber, wie man es unter den Umständen erwarten konnte. Aber sie war so verängstigt, das arme kleine Würmchen, und niemand wollte Hilfe holen. Nichts hätte diese Hausbesetzer dazu gebracht, einen Polizisten oder eine Sozialarbeiterin über ihre Schwelle zu lassen, und niemand wollte sie zu sich nehmen. Also haben wir sie genommen.« Rowan sagte es, als wäre es die klarste Sache der Welt, und die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Sie war ungefähr so alt, wie unsere Marie gewesen wäre, und jetzt … Sie ist Marie. Sie erinnert sich an nichts anderes. Dieses Leben ist alles, was sie kennt. Und wir … Sie ist unsere Tochter, gerade so, als hätte ich sie selbst zur Welt gebracht.«
Alle möglichen Einwände schossen Gemma durch den Kopf. Wäre die Mutter identifiziert worden, dann hätte sich vielleicht auch der Vater gefunden, der das Kind zu sich genommen hätte, oder die Großeltern, alle mit größerem Anrecht als Gabriel und Rowan Wain. Und doch … hätte irgendjemand sie mehr lieben können?
Gemma wurde aus ihrer Grübelei gerissen, als Rowan leise fragte: »Woher haben Sie es gewusst? Das mit Marie?«
»Es waren ihre Augen. Annie Constantine hat in ihren Aufzeichnungen festgehalten, dass Marie braune Augen hatte.«
Rowan seufzte. »Mein Gott. Das hätte ich nie gedacht. Ich wusste gar nicht, dass sie solche Sachen über die Kinder aufgeschrieben hatte.«
Kincaid schob Gemma zur Seite und wandte sich an Gabriel. Seine Stimme war streng. »Hat sie es auch gesehen? Annie Constantine – als Sie ihr an Heiligabend wieder begegneten? Sie hat die Kinder an diesem Tag gesehen, und dann noch einmal, als sie mit Dr. Elsworthy wiederkam. Kam es deswegen zum Streit, weil sie erkannt hatte, dass Marie nicht Ihre Tochter war? Und wenn sie von dem toten Kind im Viehstall erfahren hätte, hätte sie nur noch eins und eins zusammenzählen müssen. Das mussten Sie verhindern, mit allen Mitteln.«
Gabriel löste seine Hand von der seiner Frau und stand auf. Die beiden Männer standen einander in der engen Kabine Auge in Auge gegenüber, und Gemma spürte eine plötzliche Beklemmung, als ob die Luft in dem kleinen Raum knapp würde.
Aber Gabriel Wains Haltung war nicht aggressiv, und als er sprach, lag nur Verzweiflung in seiner Stimme. »Nein. Ich könnte schwören, dass sie es nicht gewusst hat. Und wenn sie gehört hatte, dass die kleine Marie gefunden worden war, hätte sie nie etwas gesagt.« Er legte die Hand auf die Schulter seiner Frau und fuhr fort, jedes Wort ein Appell. »Und selbst wenn, ich hätte ihr niemals etwas zuleide getan.«
Blitzschnell ging Gemma im Kopf die Möglichkeiten durch. Annie hatte vielleicht nicht sofort erkannt, dass das Kind nicht von den Wains war, aber hatte vielleicht am Morgen des zweiten Weihnachtstages, als sie Dr. Elsworthy zu Rowan brachte, irgendetwas eine Erinnerung in ihr ausgelöst? War sie später am selben Tag wiedergekommen, um das Paar zur Rede zu stellen?
Nein. Nicht Rowan. Rowan hätte ihr die Wahrheit gesagt – das war sie Annie Constantine schuldig, und sie war bereit gewesen, alles zu beichten. Aber wenn Annie mit Gabriel allein gesprochen hatte … Wie weit wäre Gabriel Wain gegangen, um seine Familie zu schützen?
Doch sie hatten keine Beweise. Und wenn sie Gabriel jetzt beschuldigten, würde es für diese Familie keine Gnadenfrist geben – auch nicht für Rowan, der nur noch so wenig Zeit blieb.
Gabriel betrachtete Gemma und Kincaid schweigend. Er hatte sich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; jetzt konnte er nur warten. Doch Rowan fragte: »Was werden Sie tun?«, und es schwang Hoffnung in ihrer Stimme – für ihre Kinder, wenn schon nicht für sie selbst.
»Ich …« Gemma zögerte; die Risiken jeder der beiden Alternativen waren ihr quälend bewusst. Aber dann war ihr mit einem Mal vollkommen klar, dass sie diese Familie nicht opfern würde, ohne einen Beweis für Gabriels Schuld zu haben. Und das bedeutete, dass sie herausfinden mussten, wer Annie Constantine ermordet hatte.
 
Das Feuer war schon fast erloschen, als Juliet in Nantwich ankam und ihren Lieferwagen außerhalb des Rings aus Löschfahrzeugen und einem Gewirr von Schläuchen abstellte. Zwei Feuerwehrleute standen noch vor dem Haus und richteten dicke Wasserstrahlen auf die bereits völlig überfluteten Geschäftsräume von Newcombe & Dutton. Juliet schob sich durch die Menge der Schaulustigen, bis sie ein bekanntes Gesicht entdeckte.
»Chief Inspector! Was ist passiert? Haben Sie … war irgendjemand …?«
»Es war niemand im Gebäude, Mrs. Newcombe«, beeilte sich Babcock, sie zu beruhigen. »Und was passiert ist – nun, wir haben den Partner Ihres Mannes ungefähr eine Stunde vor Ausbruch des Feuers auf freien Fuß gesetzt. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, da wir noch nicht alle Akten entfernt hatten, aber jemand hat sich mit einem Bolzenschneider Zugang verschafft.« Er begutachtete mit angewiderter Miene den Schaden. »Wir können von Glück sagen, dass nicht der ganze Monk’s Walk in Flammen aufgegangen ist.«
»Sie glauben, dass Piers das getan hat?« Juliets anfängliche Erleichterung mischte sich mit Beunruhigung.
»Das wäre die logische Schlussfolgerung, ja. Auch ein noch so teurer Anwalt kann keine Wunder vollbringen, wenn ausreichend Beweise für eine Straftat vorliegen. Es dürfte das Risiko wert gewesen sein, sie zu vernichten. Ein Kanister Benzin, versteckt unter einem Mantel …« Er zuckte mit den Achseln.
»Dann sind Sie sich also sicher, dass es Brandstiftung war?«
»Man konnte das Benzin noch riechen. Ich habe eine Streife zu Mr. Duttons Haus geschickt. Falls er nicht dort ist – wissen Sie, wo man ihn finden könnte?«
»Ich … Seine Eltern wohnen in Chester. Ich wüsste nicht, wo er sonst hingehen sollte«, antwortete Juliet, doch ihre Gedanken überschlugen sich schon. Ein so offenkundiger Versuch, Beweise zu vernichten, passte nicht zu Piers. Er war jemand, der im Hintergrund manipulierte und die Fäden zog. Direkte Aktionen waren nicht sein Stil. Und wenn sie sich das rauchende, geschwärzte Gerippe der ehemaligen Geschäftsräume von Newcombe & Dutton anschaute, hatte sie das Gefühl, dass es hier um mehr gegangen war als nur um das Vertuschen eines Betrugs.
»… sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte Babcock gerade. »Auch wenn ein Teil der Papiere über das ganze Büro verstreut war, Sie würden staunen, was wir alles re…«
Doch den Rest hörte Juliet schon nicht mehr. »Entschuldigen Sie mich«, murmelte sie, bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und verschwand in dem laubüberwucherten Tunnel von Monk’s Walk. Nur eine dünne Schicht Pulverschnee war durch das Blattwerk herabgerieselt und knirschte unter ihren Sohlen, während sie rannte.
Nachdem sie schlitternd in die North Crofts eingebogen und die letzten Meter bis zu ihrem Haus gerannt war, bekam sie plötzlich solches Seitenstechen, dass sie stehen bleiben und sich schwer atmend auf den Knien abstützen musste, bis es vorbei war. Und dann sah sie, dass die Haustür nur angelehnt war. Angst schnürte ihr das Herz zusammen, als sie sie ganz aufstieß und ihr Haus betrat.
Es dauerte einen Moment, bis sie den ungewöhnlichen Geruch identifizieren konnte. Benzin. Großer Gott … Ihre Beine waren plötzlich bleischwer, als sie dem Geruch und den nassen Fußspuren nachging, den Flur entlang bis in die Küche.
Noch im Mantel stand Caspar am Spülbecken und schrubbte sich die Hände. Als sie eintrat, blickte er auf, schien aber nicht überrascht, sie zu sehen. »Es geht nicht ab«, sagte er. »Ich krieg es einfach nicht ab.«
»Caspar, was hast du getan?«
Er wandte sich wieder zur Spüle um, und das Plätschern des Wassers übertönte fast seine Worte. »Sie haben mich zuschauen lassen, als sie die Akten hinausgetragen haben. Aber sie haben sie nicht alle geholt, also haben sie ein Vorhängeschloss an der Tür angebracht und gesagt, sie würden den Rest am nächsten Morgen holen.
Ein paar von Piers’ Sachen waren auch noch da. Ich wollte selbst nachsehen. Um zu beweisen, dass du unrecht hattest. Also bin ich noch mal hin, als es dunkel war. Und als gerade niemand hingeschaut hat, habe ich das Vorhängeschloss geknackt.«
»Du hast das Schloss geknackt?« Juliet konnte es kaum glauben – das war derselbe Mann, den es bekanntermaßen schon überforderte, eine Glühbirne zu wechseln.
Caspar, der offenbar den ungläubigen Ton ihrer Stimme nicht registriert hatte, fuhr fort: »Ich habe deinen Bolzenschneider in der Garage gefunden und ihn unter meinem Mantel versteckt. Ein billiges Teil, dieses Schloss. Es war kinderleicht, als ob man Butter schneidet. Als ich drin war, habe ich als Erstes die Jalousien dicht geschlossen und dann mit einer Taschenlampe Piers’ Akten durchgesehen.« Er drehte sich zu ihr um, ohne auf das Seifenwasser zu achten, das von seinen Händen auf seinen Mantel und den Boden tropfte.
»Er hat sie betrogen. Fast alle.« Seine Pupillen waren vor Entsetzen geweitet. »Ich konnte es nicht glauben … Ich konnte … Ich bin noch mal ins Haus gegangen und habe einen Kanister Benzin geholt. Dann habe ich den Inhalt seiner Akten auf dem Boden verstreut. Ich dachte, wenn ich alles anzünde …«
»Mein Gott, Caspar, du hättest dich umbringen können!«, schrie Juliet ihn an. »Benzin verschütten und in Brand stecken! Bist du denn vollkommen wahnsinnig geworden?« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Und das alles für nichts und wieder nichts. Du hättest ihn nicht retten können. Die Polizei hat schon genug Beweismaterial, um Piers den Prozess machen zu können – der Rest wäre nur noch Beiwerk gewesen. Du wärst vielleicht ungeschoren davongekommen, aber jetzt kriegen sie dich wegen Brandstiftung und Vernichtung von Beweismaterial dran, und alles, was du noch aus der Firma hättest retten können, ist verloren. Was um alles in der Welt hast du dir bloß dabei gedacht?«
Caspar sackte auf dem nächstbesten Stuhl zusammen, wie eine Vogelscheuche in einem Kaschmirmantel. Der Wasserhahn tropfte noch, ein Echo der Tränen, die in Strömen über seine Wangen flossen.
»Ich wollte ihn nicht retten. Ich dachte, wir wären … Ich dachte, er würde alles für mich tun. Aber jetzt … Alles, was wir aufgebaut haben, liegt in Trümmern – und er hat mich belogen.« Er schien erstaunt über seine eigenen Gefühle. »Ich wollte ihm wehtun, Jules, das ist alles. Er sollte nur am eigenen Leib spüren, was er mir angetan hat.«
 
Kit lief hinter Lally den Feldweg entlang. Sie schien im Dunkeln sehen zu können, während er sich blind und orientierungslos vorkam und mühsam mit ihr Schritt zu halten versuchte.
»Wo sind wir eigentlich?«, fragte er keuchend, als er es geschafft hatte, für ein paar Schritte mit ihr gleichzuziehen. Sie hatten sich am Ende des Zufahrtswegs nach rechts gewandt und nicht nach links, wie sie sonst immer mit dem Auto fuhren.
»Abkürzung nach Barbridge. Du wirst schon sehen – wir kommen bei der Brücke über den Kanal raus.«
»Lally, du hast gesagt, du musst dich mit Leo treffen, aber ich dachte, du hättest noch gar nicht mit ihm geredet. Ich meine, gestern, da hatte ich den Eindruck, dass du … na ja … irgendwie sauer warst. Und du hast nicht telefonieren dürfen …«
»Na und?«, erwiderte sie knapp. »Weißt du noch, wie er gestern Mittag gesagt hat, wir sollen uns mit ihm treffen? Er hat gestern Abend sicher auf uns gewartet. Und heute Abend wird er auch da sein.«
»Aber das versteh ich n…«
»Ich habe ein paar Sachen, die ihm gehören. Jedenfalls sollte ich sie haben. Das Problem ist, dass ich sie nicht habe.« Sie kicherte; es klang wie zerspringendes Glas. »Und Leo lässt nicht locker, bis er bekommen hat, was er will.«
»Wie meinst du das, du hast Sachen, die ihm gehören? Was für Sachen denn?«
Lally verlangsamte ihren Schritt ein wenig und sah ihn an. »Mensch, Kit, bist du vielleicht schwer von Begriff. Pillen. Und anderes Zeug. Du klingst genau wie Peter.«
»Peter?« Kit brauchte einen Moment, um den Namen einzuordnen. »Dein Freund, der gestorben ist?«
»Ertrunken. Er ist ertrunken«, erwiderte Lally mit einer Heftigkeit, die er nicht verstand. »Du gleichst ihm sogar ein bisschen – er hatte auch so was Unschuldiges, Schuljungenhaftes.«
Kit spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, doch ehe er protestieren konnte, fuhr sie fort: »Leo hat ihn eine Schwuchtel genannt, aber das war er nicht. Er war einfach nur … sehr sanft. Er war intelligent, und er war witzig, und er hat immer gespürt, wie es mir gerade ging, verstehst du? Ohne dass ich was sagen musste.« Lally wurde immer langsamer, bis Kit selbst seinen Schritt zügeln musste. »Und er wusste, wie er mich berühren musste. Nicht, dass er schon was mit anderen Mädchen gehabt hätte – er schien einfach immer zu wissen, was ich gerade dachte, jede Minute, und er …«
»Da ist die Brücke«, sagte Kit. Er wusste, wie idiotisch es war, aber er wollte einfach nur, dass sie aufhörte. Es war ihm nicht klar gewesen, dass Peter diese Art von Freund gewesen war, und er wollte nicht darüber nachdenken, was Lally mit ihm gemacht hatte – aber andererseits hatte sie gesagt, dass er, Kit, sie an Peter erinnerte …
Plötzlich war ihm gar nicht mehr kalt, und er war froh, dass Lally nicht sehen konnte, wie er rot wurde. »Um auf Leo zurückzukommen«, sagte er und versuchte, seine Gedanken auf Lallys andere Bemerkung zu konzentrieren. Irgendwie überraschte es ihn nicht, dass Lally Drogen versteckt hatte oder dass Leo sie ihr gegeben hatte. »Du hast gesagt, du hättest Leos Sachen gehabt, aber jetzt hättest du sie nicht mehr. Wie kommt das?«
»Weil irgendjemand an meinem Scheißrucksack war und sie geklaut hat.« Das Gezeter konnte die Angst in ihrer Stimme nicht ganz kaschieren. Sie hatten den Steinbogen der Brücke erreicht, und anstatt hinüberzugehen, sprang Lally gewandt wie eine Gämse auf den Leinpfad hinunter. »Es muss meine Mutter gewesen sein, aber wieso hat sie dann nichts gesagt?«, fuhr sie fort. »Ich hätte gedacht, sie bringt mich um oder gibt mir lebenslänglich Hausarrest oder was weiß ich.«
Kit sah sich wieder gezwungen, hinter ihr dreinzutrotten, und ihre Worte drangen nur stoßweise an sein Ohr, getragen vom Wind.
»Wird Leo keine Angst haben, dass es Ärger gibt?«
»Nein. Es weiß ja keiner, dass er dahintersteckt. Er wird verlangen, dass ich ihm die Sachen wieder besorge oder ihn dafür entschädige …«
»Wie meinst du das, ihn dafür entschädigen?«, fragte Kit, dem die Formulierung gar nicht gefiel.
Aber Lally murmelte nur: »Das würdest du sowieso nicht verstehen«, und ging mit gesenktem Kopf weiter, als ob sie plötzlich fürchtete, zu viel gesagt zu haben.
Es war dunkel, so dunkel, dass Kit das Wasser zu seiner Linken nur anhand der noch etwas tieferen Schwärze erkennen konnte. Als etwas Weißes ihnen aus dem Nichts entgegenflatterte, fuhr er zusammen, packte Lallys Schulter und brachte sie abrupt zum Stehen. »Was zum …« Als er genauer hinsah, erkannte er plötzlich, wo er war und was er da vor sich sah. Durch das Rauschen des Windes hindurch vernahm er das leise Knarren von Halteleinen, sah die Umrisse von Buchstaben, die sich schwach leuchtend vor dem Hintergrund des schwarzen Rumpfs abhoben. Es war die Lost Horizon, und was da im Wind flatterte, war das lose Ende eines blau-weißen Polizei-Absperrbandes, mit dem das Boot umwickelt war. Er stand nur einen Schritt von der Stelle entfernt, wo Annie Lebows Leiche gelegen hatte.
»Um Gottes willen, Lally.« Kit glaubte, sich übergeben zu müssen. »Was hast du dir dabei gedacht, mich hierher zu bringen?«, schrie er sie an. »Weißt du denn nicht …«
»He, es tut mir leid, ja?« Lally zog an seinem Jackenärmel. »Wir bleiben nicht hier, aber wir müssen nun mal hier lang. Ich hab nicht dran gedacht. Komm schon, wir müssen uns beeilen.« Sie zerrte an ihm, bis er schließlich hinter ihr herstolperte und unterdessen verzweifelt die Bilder zu verdrängen suchte, die ihn bestürmten. Annie im smaragdgrünen Gras neben dem Leinpfad … seine Mutter auf den weißen Fliesen in ihrer Küche …
Dann war er wieder in dem rauschenden Tunnel seiner Albträume gefangen. Er rannte und rannte, versuchte Hilfe zu holen, während das Zimmer, in dem seine Mutter lag, endlos vor seinen Augen zurückwich.
Lally packte ihn an den Schultern und riss ihn aus seinem Tagtraum.
»Kit! Was ist denn los mit dir, Mensch? Wir müssen über den Zauntritt hier klettern. Los, komm.« Lally wandte sich ab und schwang ein Bein über den Zaun, und für Kit sah es so aus, als verschwände sie in der Hecke. Er folgte ihr und stieg unbeholfen hinüber. Die Dornen zerkratzten seine Hände, und als er auf der anderen Seite hinuntersprang, versanken seine Füße im Schnee, der im Windschatten der Hecke liegen geblieben war.
Lally lief schon den Hang hinauf, öffnete ein Gatter und winkte ihn durch. Der Boden unter seinen Füßen wurde fester, und er erkannte, dass sie auf einer Brücke waren und erneut den Kanal überquerten. »Wo sind wir?«
»An der Baustelle meiner Mutter – dem alten Viehstall. Willst du nicht sehen, wo sie das tote Baby gefunden hat?«
»Nein!«, rief Kit und ergänzte rasch: »Es ist ein Tatort.«
»Na und? Lässt du dich etwa von so einem blöden Absperrband abschrecken?« Ihre Zähne blitzten, als sie sich zu ihm umdrehte. »Außerdem ist es nur ein paar Minuten von Leos Haus, und er hat gesagt, wir sollen dorthin kommen.«
Während Kit zu den Umrissen eines spitzen Dachs aufblickte, das sich vor dem helleren Hintergrund des Himmels abzeichnete, sah er plötzlich weiter unten ein kleines Licht aufflackern, ein Streichholz oder ein Feuerzeug oder eine hastig abgedeckte Taschenlampe.
»Er ist hier«, sagte Lally, ihre Stimme plötzlich tonlos. Sie stieg über das Absperrband, das zwischen den Pflöcken schlaff herabhing.
»Hast dir aber reichlich Zeit gelassen«, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. Leo trat aus dem Eingang des Stalls. Er zog an einer Zigarette, und im Schein der kurz aufleuchtenden Spitze wirkte sein Gesicht wie eine groteske Fratze, ein kubistisches Porträt.
»Gehen wir nicht rein?«, fragte Lally mit gespieltem Desinteresse, wie Kit jetzt erkannte.
»Da ist nichts zu sehen, nur bröckelnder Mörtel. Enttäuschend.« Leo zuckte mit den Achseln. »Ich muss es ja wissen. Ich hab gestern schon den ganzen Abend hier gewartet.«
»Meine Mutter hat mich gestern Abend nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Wir konnten heute nur kommen, weil sie noch mal wegmusste.«
»Hast du es dabei?«, fragte Leo, als wären ihre Entschuldigungen nur inhaltslose Floskeln, und Kit spürte, wie Lally jäh erstarrte.
»Nein. Es ist in unserem Haus. Meine Mutter lässt Sam und mich nicht dorthin zurückgehen. Sie will nicht, dass wir unserem Dad begegnen.«
»Dann haben sie sich also noch nicht wieder versöhnt, deine Eltern?« Irgendetwas in Leos Stimme jagte Kit einen Schauer über den Rücken.
Kit hörte Lallys stockenden Atem – es klang fast wie ein Schluchzen. Instinktiv streckte er die Hand aus und legte sie beschützend auf ihre Schulter.
Sie wich ihm aus, doch nicht schnell genug. Leo hatte es gesehen. Seine Haltung wurde angespannter, doch sein Ton blieb lässig, als er fragte: »Ist er vielleicht deine Geisel?«
»Wie meinst du das?«, fragte Lally.
»He, kleiner Cousin, hör mal. Heute ist ein guter Tag für einen zünftigen Männerabend. Was sagst du dazu, kleiner Cousin? Ich hab’ne Flasche Wodka drüben in meinem Clubhaus – bei dem Wetter kann man es sich ja wohl sparen, sie auf Eis zu legen.«
»Leo…«
»Du nicht, Lally.« Seine Stimme war plötzlich schneidend. »Ich sagte ›Männerabend‹. Geh heim. Geh heim und denk lieber darüber nach, wie du deine Mutter dazu bringst, dich wieder ins Haus zu lassen.«
»Leo, ich …«
»Das ist das Dumme daran, wenn man andere in seine Geheimnisse einweiht, Lal.« Leo lächelte, während er es sagte, aber Kit wusste, dass es eine Drohung war. »Du kannst dir nie sicher sein, dass sie den Mund halten.«
»Geh nur, Lally«, sagte Kit. Er wollte nur, dass sie sich in Sicherheit brachte, und er war entschlossen, herauszufinden, womit Leo sie in der Hand hatte. Wenn es die Drogen waren, würde Leo sich doch selbst belasten, wenn er sie verriete. Aber hatte er vielleicht die Narben an ihren Armen gesehen?
»Aber …«
»Du hast gehört, was der junge Mann gesagt hat«, höhnte Leo. »Nun lauf schon. Sei ein braves Mädchen.«
»Du bist ein Schwein, Leo«, sagte Lally. Ihre Stimme bebte, doch dann drehte sie sich um, ohne Kit noch einmal anzusehen, und einen Augenblick später hatte die Dunkelheit sie schon verschluckt.
Kits Mund wurde trocken, als ihm bewusst wurde, dass er keineswegs sicher war, ob er den Weg zurück allein finden würde. Er musste nur dem Leinpfad folgen, das war alles. Er hatte es einmal gemacht, er würde es auch ein zweites Mal schaffen.
»Du hast doch nicht etwa plötzlich Bedenken, Kit?« Leo betonte bewusst seinen Namen, jetzt, da Lally weg war. »Komm, wir amüsieren uns ein bisschen. Ich dachte immer, ihr Jungs aus der Großstadt wisst am besten, wie das geht.«
»Ich weiß nicht …«
Doch Leo legte ihm den Arm um die Schultern und trieb ihn vom Viehstall weg. Kit merkte jetzt, dass der andere Junge nicht nur einen guten Kopf größer war als er selbst, sondern auch stärker, als er aussah. »Es ist nicht sehr weit. Nur übers Feld und dann ein Stück durch den Wald. Ich weiß da eine ganz besondere Stelle. Die hab ich gefunden, kurz nachdem wir hierher gezogen sind. Konnte ja nie verstehen, was mein Dad an dem alten Gemäuer findet, aber das Grundstück hat durchaus seine versteckten Reize«, fuhr er im Plauderton fort, ohne jedoch seinen Griff um Kits Schultern zu lockern.
»Warum hat Lally Angst vor dir?«, fragte Kit, entschlossen, Herr der Lage zu bleiben, trotz der Hand in seinem Nacken.
»Angst vor mir?« Leo klang verletzt. »Lally hat keine Angst vor mir. Wir passen bloß aufeinander auf, das ist alles. Sie hat ein paar schlechte Angewohnheiten, die man unter Kontrolle halten muss. Und ich sorge dafür, dass sie sich nicht mit Leuten einlässt, die einen schlechten Einfluss auf sie haben könnten. Sie ist ein bisschen anfällig für so was. Ich will nicht, dass irgendjemand sie ausnutzt.«
»Ich werde sie nicht ausnutzen«, entgegnete Kit wütend. Er versuchte sich loszureißen, doch Leos Finger waren wie Stahl.
»Aber du magst sie. Gib’s zu!«
Sie tauchten in den Wald ein. Die Dunkelheit umschloss sie, bis Kits Welt nur noch aus Leos Hand und Leos Stimme zu bestehen schien.
Als er keine Antwort gab, sagte Leo: »Das ist zu dumm. Peter hat sie nämlich auch gemocht.«