24
Er wusste sofort, dass es ein Vorwand war, als
Gemma sagte, sie müssten die Kinder abholen. Er starrte sie fragend
an, doch sie schüttelte nur kaum merklich den Kopf.
Frustration packte ihn. Er wollte nicht gehen,
bevor er selbst mit Babcock gesprochen und gehört hatte, was dieser
aus Piers Dutton herausbekommen hatte. Bis jetzt sah es zumindest
nicht so aus, als hätte Dutton Caspar in die Betrügereien
hineingezogen, aber wenn Caspar doch in die Sache verwickelt war …
Das wäre eine Katastrophe für Juliet, und es wäre seine
Schuld.
Und wenn Dutton vom Verdacht des Mordes an Annie
Lebow freigesprochen würde, bedeutete das, dass er, Kincaid, diese
Katastrophe vollkommen unnötig heraufbeschworen hatte? Gewiss hatte
Dutton eine fette Haftstrafe verdient, weil er seine Kunden
systematisch betrogen hatte, aber war das den Schaden wert, den
Juliet dadurch erlitten hatte? Vielleicht hatte seine Schwester von
Anfang an recht gehabt – er war ein selbstgerechter Scheißkerl,
allein an seinem eigenen tugendhaften Image interessiert. Die
Tatsache, dass Caspar Newcombe ein Idiot war, machte die Sache auch
nicht viel besser.
Gemma hatte schon ihre Jacke übergezogen und warf
ihm nervöse Blicke zu, während sie mit Sheila Larkin plauderte. Was
hatte sie herausgefunden, das sie nicht vor …
Der Gedanke, der ihn durchzuckte, ließ das Blut aus
seinem Kopf weichen. Warum hatte Caspar Piers Dutton ein Alibi
liefern
wollen? Was, wenn es gar nicht Dutton war, der ein Alibi brauchte,
sondern Caspar selbst?
Was, wenn Caspar herausgefunden hatte, dass Annie
Lebow vorhatte, Dutton zu verpfeifen, weil er sie betrogen hatte,
und beschlossen hatte, dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kam? Es
stand nicht nur ihre Firma auf dem Spiel – Kincaid gewann
allmählich den Eindruck, dass Caspar für Piers Dutton alles tun
würde. Es war offensichtlich, dass Dutton keineswegs bereit gewesen
war, das Gleiche für ihn zu tun.
Plötzlich hatte er es ebenso eilig wie Gemma, hier
wegzukommen. Er schnappte sich seine Jacke und unterbrach Gemmas
Unterhaltung mit Larkin. »Sagen Sie Ihrem Chef, er soll uns
anrufen, wenn es etwas Neues gibt«, sagte er zu der jungen Frau,
und sie nickte, wenngleich sie über seine Schroffheit ein wenig
überrascht schien.
»Wird gemacht.«
Er nahm Gemmas Arm, eilte mit ihr die Treppe hinauf
und hinaus in die frühe Abenddämmerung. Die dicken grauen Wolken
schienen direkt über den Dächern zu hängen und mit einem ungeheuren
Gewicht darauf zu lasten, und feine Schneeflocken prickelten auf
Kincaids Wangen wie mikroskopisch kleine Glassplitter.
»Ist es wegen Caspar?«, fragte er. »Was hast du
herausgefunden?«
»Caspar?« Gemma sah zu ihm auf und schirmte ihre
Augen mit der Hand vor dem Schnee ab. »Wovon redest du?«
Erleichterung durchflutete ihn. Er hatte Gespenster
gesehen, sonst nichts, und es widerstrebte ihm plötzlich, über
seinen unsinnigen Verdacht zu sprechen. »Was ist es dann?«, fragte
er, doch sie hatte sich schon von ihm gelöst und lief zu ihrem
Wagen, wo sie die Tür aufriss und sich auf den Fahrersitz fallen
ließ.
Sie hatte den Motor schon angelassen, ehe er seine
Tür zugeschlagen
hatte, und den Gang eingelegt, bevor er sich anschnallen konnte.
»Gemma, sagst du mir vielleicht mal, wo’s brennt?«
Gemma lenkte den Wagen in den dichten
Spätnachmittagsverkehr im Zentrum von Crewe, ohne ihn anzusehen,
und sagte nur: »Marie Wain.« Als er sie verständnislos anstarrte,
fügte sie hinzu. »Es war ein offenes Geheimnis. Annie Lebow war
öfter bei den Kindern, als sie die ärztliche Versorgung für Rowan
organisierte. Sie hätte es sehen müssen.«
»Gemma.« Er legte seine Hand auf ihre. »Würdest du
mir bitte endlich sagen, wovon du die ganze Zeit redest?«
Diesmal sah sie ihn kurz an, als sie vor einer
Ampel herunterschaltete. »Marie Wain – das kleine Mädchen, das ich
getroffen habe – ist nicht Marie Wain. Es steht schwarz auf weiß in
Annies Aufzeichnungen zu ihrem damaligen Fall. Das Baby von Gabriel
und Rowan Wain hatte braune Augen, wie ihr Bruder, wie ihre Eltern.
Die Augen des Mädchens, das sie Marie nennen, sind blau wie
Rittersporn.«
Er ließ ihre Worte auf sich wirken. »Aber … das
Mädchen war doch noch ein Baby, als Annie es zuletzt sah, nach
Abschluss ihres Falles. Sie könnte sich geirrt haben …«
»Nein. Die Augen von Babys sind in den ersten
Wochen manchmal ein wenig milchig, von undefinierbarer Farbe. Aber
danach ist es ganz klar. Und bei blauäugigen Kindern ist es noch
leichter. Bei Toby konnte man nach ein oder zwei Tagen schon
erkennen, dass er eindeutig blaue Augen hatte.«
»Willst du damit sagen, die Wains hätten ihr Kind
mit einem anderen vertauscht? Ohne dass jemand etwas merkte?«
Allmählich wurde ihm klar, was das bedeutete. »Wenn das so ist,
dann ist das Baby aus dem Stall möglicherweise …«
»Ich weiß es nicht.« Sie beschleunigte ein wenig zu
stark, und die Hinterreifen des Escort schlitterten ein Stück über
den vereisten Asphalt. »Aber wir werden es herausfinden.«
»Gemma, wenn du recht hast, hätten wir Babcock
Bescheid sagen müssen.«
»Erst, nachdem wir mit Gabriel Wain geredet
haben.«
Quietschsauber, in Jeans und einen flauschigen
Wollpulli gehüllt, ging Juliet nach unten und traf dort ihre
Mutter, die inzwischen vom Buchladen zurück war und wie ein
Wirbelwind in der Küche herumsauste.
»Ich habe ein paar Sachen zum Abendessen für die
Kinder rausgestellt«, sagte Rosemary. »Da ist ein
Blumenkohlauflauf, den ich noch im Tiefkühlfach hatte, und Zutaten
für einen Salat. Wenn du dann vielleicht noch …«
»Mama, bitte. Ich krieg das schon hin«, unterbrach
Juliet sie, jedoch ohne Schärfe. Ihre Eltern waren bei Freunden in
Barbridge zum Essen eingeladen, ein Termin, der schon sehr lange
feststand, und Juliet wusste, dass Rosemary ihre Fürsorge
übertrieb. »Geht nur und amüsiert euch schön. Wir werden schon
nicht verhungern.« Spontan umarmte sie ihre Mutter. Der vertraute
Duft des Maiglöckchenparfüms stieg ihr in die Nase, und sofort
fühlte sie sich irgendwie getröstet.
Welche Düfte ihre Kinder wohl mit ihr assoziieren
würden, wenn sie erwachsen waren? Schweiß, Ziegelstaub und
Sägemehl?
»Bist du sicher?«, fragte Rosemary und strich ihr
über die Wange. »Duncan und Gemma dürften bald hier sein.«
»Ja. Und wenn du Papa nicht endlich mal vor die Tür
schleppst, wird er sich doch wieder nur in den Monopoly-Marathon
reinziehen lassen. Aber ich bin ganz froh, dass ihr nicht so weit
fahren müsst. Sieht aus, als ob es eine ziemlich scheußliche Nacht
wird.«
Sie hatte Rosemary gerade in den Mantel geholfen
und ihren Eltern an der Haustür nachgewinkt wie eine Mutter, die
ihre Kinder in die Schule schickt, als das Telefon klingelte. Sie
wollte schon ihr Handy aus der Tasche ziehen, doch dann fiel ihr
ein, dass sie es oben bei ihren Arbeitsklamotten hatte liegen
lassen. Es war das Haustelefon.
Die Kinder waren alle im Wohnzimmer versammelt, und
nachdem weder Lally noch Sam auftauchten – obwohl ihr Sohn
normalerweise mit der Promptheit eines Pawlowschen Hundes auf ein
läutendes Telefon reagierte -, schlurfte sie selbst in die Küche.
Sie nahm den Hörer ab und meldete sich mit der Nummer ihrer
Eltern.
»Juliet? Bist du’s?«
Überrascht erkannte sie die Stimme ihrer Freundin
Gill, die in Nantwich in der Nähe des Marktplatzes eine
Kunsthandlung hatte.
»Gill?«
»Ich hab’s immer wieder bei euch zu Hause und auf
deinem Handy versucht«, fuhr Gill fort. »Und da dachte ich mir, ich
probier’s mal bei deinen Eltern.«
Juliet war sofort ein wenig beunruhigt. Gill würde
sie nie so hartnäckig zu erreichen versuchen, wenn sie bloß
plaudern wollte, und um diese Uhrzeit hätte sie ihren Laden längst
geschlossen haben und auf dem Weg zu ihrem Cottage in der Nähe von
Whitchurch sein müssen.
»Was gibt’s? Ist was passiert?«
»Das Büro von deinem Mann, Newcombe & Dutton –
da brennt’s. Die Feuerwehr ist schon da, aber sie haben es noch
nicht unter Kontrolle. Ich glaube nicht, dass jemand drin ist, aber
nachdem ich weder dich noch Caspar erreichen konnte …«
»Caspar? Du hast es auch auf seinem Handy
versucht?«
»Ja. Soll das heißen, er ist nicht bei dir?«
»Nein. Gill, sei mir nicht böse, aber ich muss
sofort los. Ich ruf dich später zurück.« Juliet legte auf, bevor
ihre Freundin etwas erwidern konnte. Sie konnte jetzt keine
neugierigen Fragen
beantworten. Ihre Knie zitterten vor Panik. Jack, der die Angst in
ihrer Stimme registriert hatte, stand von seinem Hundeplatz am Ofen
auf, kam auf sie zugetapst und wedelte mit seinem buschigen
Schwanz, während er aufmerksam zu ihr aufschaute.
»Alles in Ordnung, Junge«, sagte sie, womit sie
sich selbst ebenso sehr zu beruhigen suchte wie den Hund. Dennoch
musste sie sich für einen Moment am Küchentisch festhalten. Was,
wenn Caspar irgendetwas Dummes angestellt hatte? Was, wenn Caspar
noch in dem brennenden Haus war?
Sie musste hinfahren, musste mit eigenen Augen
sehen, was passiert war.
Wie elektrisiert von ihrem Entschluss, gab sie sich
ganz dem Fluchtinstinkt hin. Erst als sie schon den Mantel anhatte
und halb zur Tür hinaus war, fielen ihr die Kinder ein.
»Ich muss noch mal weg. In der Stadt brennt’s.«
Kits Tante Juliet war ins Wohnzimmer geplatzt und hatte die Tür so
laut knallen lassen, dass alle Kinder zusammengezuckt waren.
»Lally«, sagte sie atemlos, »Kit, ihr zwei passt auf die Jungen
auf. Sammy, du tust, was deine Schwester sagt. Ich bin so bald wie
möglich wieder da.«
Und damit war sie verschwunden. Die Kinder saßen
wie angewurzelt da und starrten einander erschrocken an, bis Sam
schließlich sagte: »Es brennt? Was soll das denn heißen? Warum muss
sie deswegen weg? Meint ihr, es ist unser Haus?«
»Natürlich nicht, du Dussel«, antwortete Lally.
»Das hätte sie doch gesagt.« Sie fing Kits Blick auf, deutete zur
Tür und schälte sich schon aus der Sofaecke, in die sie sich
gekuschelt hatte. »Ich muss auch noch mal weg. Sam und Kit, ihr
passt auf Toby auf.«
»Aber ich will nicht …«
»Mama hat gesagt, du sollst tun, was ich sage, und
ich sage
dir, dass du auf Toby aufpassen sollst. Keine Widerrede. Und wehe,
du petzt, dann kannst du dich auf was gefasst machen.«
Ohne die kleinen Jungen eines weiteren Blickes zu
würdigen, ging sie hinaus ins Treppenhaus und begann in ihre
Stiefel zu schlüpfen.
»Lally, das ist doch Wahnsinn«, protestierte Kit,
der ihr gefolgt war. »Es ist dunkel, und es schneit. Was kann so
dringend sein, dass du wegmusst?«
Lally nahm eine Fleecemütze vom Garderobenhaken und
sagte: »Ich muss mich unbedingt mit Leo treffen. Ich hab’s ihm
versprochen. Ich … ach, ist ja auch egal. Ich brauch dir doch nicht
zu sagen, warum.«
In ihrem Blick lag etwas, was ihm Angst machte,
eine tollkühne Entschlossenheit – nein, mehr als das, eine Art
Verzweiflung. Er fürchtete, wenn er sie jetzt allein gehen ließe,
würde sie vielleicht nie wiederkommen.
Und das hieß, dass er keine Wahl hatte. »Warte«,
sagte er. »Ich komme mit.«
Gemma hatte die Taschenlampe aus der Türablage
mitgenommen, doch nachdem sie von der Brücke zum Leinpfad
hinuntergestiegen waren, mussten sie feststellen, dass sie damit
noch weniger sehen konnten, gefangen in einem gleißenden Kegel aus
wirbelnden Schneeflocken. Sie stellten sich im Brückenbogen unter,
und Gemma schaltete die Taschenlampe aus. Sie war froh um Kincaids
beruhigende Nähe, als sie dort warteten, bis ihre Augen sich an die
Dunkelheit gewöhnt hatten.
Der Schnee bildete einen dichten Vorhang zu beiden
Seiten des steinernen Bogens, doch die Flocken waren größer und
weicher geworden, seit sie in Crewe losgefahren waren, und als
Gemma ins Freie trat, konnte sie schon die Uferlinie des Kanals und
die Umrisse der vertäuten Boote ausmachen. Dann sah sie einen
schmalen Lichtstreifen – den Schein einer Lampe,
der durch einen Schlitz in den Vorhängen hinter einem Bullauge
drang, und sie wusste, dass die Daphne noch dort lag, wo sie
sie zuletzt gesehen hatte.
Sie ging darauf zu, Kincaid so dicht hinter ihr,
dass sie sein unterdrücktes Fluchen hören konnte, als der Schnee in
seine Schuhe drang. Auf Höhe des Boots angelangt, blieb sie stehen
und spürte die Wärme seines Körpers in ihrem Rücken, als er zu ihr
aufschloss und ihr flüchtig die Schulter tätschelte.
Diesmal rief sie nicht, sondern tastete nach der
Bootswand und stieg vorsichtig an Deck, um dann sogleich Platz für
Kincaid zu machen. Sie wusste, dass das leichte Schaukeln des
Bootes, verursacht durch ihr vereintes Körpergewicht, ihre
Anwesenheit bereits verraten haben musste, und klopfte sogleich
kräftig an die Kabinentür. »Mr. Wain, ich bin’s, Gemma James. Wir
müssen mit Ihnen reden.«
Zu Gemmas Überraschung wurde die Tür unmittelbar
darauf geöffnet, und Gabriel Wain starrte schweigend zu ihnen
hinaus. Nach einer Weile trat er ein paar Schritte zurück, und
Gemma sah, dass drei Stufen in die Kabine führten. Sie hielt
überrascht den Atem an, als sie hineinspähte, und glaubte im ersten
Moment, sich in eine Puppenstube verirrt zu haben – so winzig war
der Raum, so raffiniert eingeteilt und so einladend, mit seinen
dunkel getäfelten Wänden, die mit glänzenden Messinggeräten und
Tellern mit fein ziselierten Rändern geschmückt waren. Die
Vorhänge, rot gemustert wie die Kissen auf den zwei Sitzbänken,
schufen eine heimelige Atmosphäre, und ein Feuer brannte in dem
gusseisernen Herd, der geschickt in die Ecke nahe den
Eingangsstufen eingepasst war. Von der schrägen, ebenfalls
vertäfelten Decke hing eine Laterne herab.
Aber alles lenkte den Blick auf das Gemälde auf der
Unterseite eines an der Wand befestigten Klapptischs. Ein heller,
gewundener Weg führte hinauf zu einem verwunschenen
Schloss hoch oben auf einem Hügel. Die Farben waren leuchtend, das
Gras märchenhaft grün, der Himmel strahlend blau, die Wolken
schimmerten weiß. Details und Perspektive verrieten die Hand eines
wahren Künstlers.
»Hat meine Frau gemalt«, sagte Gabriel Wain mit
unerwartetem Stolz in der Stimme. »Niemand auf dem ganzen Cut
beherrscht den alten Stil so wie meine Rowan.«
Jetzt entdeckte Gemma noch andere Stücke, die
Rowans Signatur trugen – einen blauen Metallbecher, bemalt mit
roten und gelben Rosen, eine Wasserkanne, eine Schale.
»Sie lassen die kalte Luft rein«, meinte Wain und
deutete mit einem Nicken auf die Tür hinter Gemma.
Sie schreckte auf und merkte, dass sie wie
angewurzelt dagestanden und Kincaid den Weg versperrt hatte. Rasch
trat sie einen Schritt vor.
»Sie haben die Kabine im Originalzustand erhalten«,
sagte Kincaid, als er hinter ihr die Stufen hinunterstieg. Er
deutete auf den Durchgang zum Bug. »Aber Sie haben den ehemaligen
Laderaum wahrscheinlich auch zu Wohnräumen umgebaut?«
»Dieses Boot war ursprünglich als Butty
konstruiert – es hatte keinen eigenen Motor und wurde von einem
anderen geschleppt; deshalb war die Kabine größer«, erklärte Wain.
»Aber Sie sind sicher nicht bei diesem Wetter hier rausgekommen, um
mein Boot zu bewundern, Mr. … Kincaid, nicht wahr?« Er forderte sie
nicht auf, sich zu setzen.
Sie rückte ein Stück weiter in die Mitte der Kabine
vor. Kincaid blieb hinter ihr stehen und signalisierte ihr damit,
dass sie den Anfang machen sollte. Gemma sammelte sich und sagte:
»Mr. Wain, wir müssen wissen, was mit Marie passiert ist.«
Wain starrte sie an, und seine Augen weiteten sich.
Er war auf alles vorbereitet gewesen, dachte sie, nur darauf nicht.
»Marie? Sie ist mit Joseph bei der Ärztin. Die wird Ihnen ja wohl
gesagt haben …«
»Nein«, sagte Gemma, und obwohl sie ihre Stimme
nicht erhoben hatte, brach Wain ab, als hätte sie ihn geschlagen.
»Ich will, dass Sie uns sagen, was mit Marie passiert
ist.«
Die Stille dehnte sich in dem beengten Raum aus.
Endlich hatte Wain sich wieder gefangen und polterte empört los:
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Marie ist bei Dr. Elsworthy, nur
für ein paar …«
Im Gang bewegte sich etwas, und gleich darauf
betrat eine Frau die Kabine. Sie stellte sich neben Gabriel und
legte ihm ihre mageren Finger auf den Arm. Die Geste genügte, um
ihn verstummen zu lassen.
Sie war einmal hübsch gewesen, dachte Gemma, aber
jetzt lag der Schatten des Todes auf ihr. Die Kleider hingen lose
an ihrem abgemagerten Körper, das matte Haar war achtlos im Nacken
zusammengebunden, und ihre Haut war fahlgrau. Im Arm hielt sie ein
Sauerstoffgerät, wie ein monströses Roboterbaby, mit ihr verbunden
durch eine Nabelschnur aus Plastik, die sich am Ende zu einer
Nasenkanüle verzweigte.
»Sie müssen Rowan sein«, sagte Gemma sanft. »Ich
bin Gemma James, und das ist Duncan Kincaid.«
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte Rowan
Wain.
»Wir sind Polizeibeamte aus London, ja«, wich Gemma
aus und wünschte sich, sie und Kincaid hätten ihre Taktik vorher
besser abgesprochen. »Aber wir sind nicht in offiziellem Auftrag
hier.«
»Dann haben Sie kein Recht, uns zu fragen …«
»Gabriel, bitte.« Rowan stützte sich auf seinen
Arm, um sich auf eine Bank niederzulassen. »Es hat keinen Sinn.
Begreifst du das denn nicht?« Sie blickte beschwörend zu ihm auf.
»Und ich muss es erzählen. Jetzt, solange ich noch
kann.«
Gabriel Wain schien vor Gemmas Augen in sich
zusammenzufallen, als ob ihm das Ziel, das ihm Kraft gegeben hatte,
plötzlich genommen worden wäre. Er setzte sich neben seine
Frau und nahm ihre Hand, sagte jedoch nichts. Das einzige Geräusch
in dem kleinen Raum war das rhythmische Zischen des Sauerstoffs,
der aus dem Behälter gepumpt wurde.
»Sie war so vollkommen.« Die Erinnerung formte
Rowans Lippen zu einem Lächeln. »Nach der schweren Zeit mit Joseph
hatten wir befürchtet, es würde wieder von vorne losgehen, das
Erbrechen, die Anfälle. Und es war eine schwierige Schwangerschaft
gewesen, mit dem ganzen Ärger, den wir damals hatten.« Sie hielt
inne und ließ den Sauerstoff seine Wirkung tun. Nachdem sie eine
Weile die Augen geschlossen hatte, um ihre Kräfte zu sammeln, fuhr
sie fort: »Aber sie hat ganz normal gegessen und geschlafen, ein
hübsches, gesundes Kind mit rosigen Wangen, und sie hat uns
überhaupt keinen Kummer gemacht.
Und dann eines Tages, sie war gerade acht Monate
alt geworden, habe ich sie da drüben hingelegt, für ihr
Nachmittagsschläfchen.« Sie deutete auf den Durchgang, und Gemma
sah, dass in der einen Wand eine Aussparung für ein Bettchen war,
gerade groß genug für einen Säugling oder ein Kleinkind. »Ich habe
Hackfleisch fürs Abendessen gekocht«, fuhr Rowan fort. »Es war ein
kalter Tag, und ich wusste, dass Gabriel schwer gearbeitet hatte.«
Ihr Blick schweifte in die Ferne, ihre Stimme wurde zu einem kaum
vernehmlichen Hauchen. »Gabe hatte Joseph mitgenommen. Joseph war
damals fast drei, und es ging ihm schon viel besser, sodass wir uns
nicht mehr solche Sorgen gemacht haben. Er half seinem Papa gerne
bei der Arbeit, und ich genoss es, mal ein paar Stunden für mich
allein zu haben.
Ich habe gesungen. Zu der Musik im Radio. Ein Mann,
für den Gabriel gearbeitet hatte, hatte ihm ein Radio geschenkt,
das nur mit Batterien lief, deshalb habe ich es nur eingeschaltet,
wenn ich mir was Besonderes gönnen wollte. Es war ein albernes
Lied. Ich weiß nicht, wie es hieß, aber es hat mich fröhlich
gemacht.« Sie summte mit heiserer Stimme ein paar Takte, und Gemma
erkannte die Melodie: »Dancing Queen« von ABBA.
»Ich weiß, welches Sie meinen«, sagte sie, und
Rowan lächelte, als hätten sie etwas Verbindendes entdeckt.
»Ich habe mir überlegt, was ich malen würde, am
Abend, wenn die Kinder im Bett wären.« Rowan brach ab. Ihr Gesicht
wurde noch blasser, ihr Atem ging schwerer.
Gemma trat näher zu ihr und sagte: »Ist alles in
Ordnung? Soll ich …« Doch Rowan ließ die Hand ihres Mannes los und
winkte sie zurück.
»Nein. Bitte. Lassen Sie mich ausreden. Ich hatte
das Hackfleisch fast fertig. Es wurde allmählich dunkel draußen,
und ich merkte plötzlich, dass Marie schon längst hätte wach sein
müssen. Ich wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging
zu ihr rein. Dabei habe ich immer noch gesungen.«
Gabriel schüttelte den Kopf, als wolle er sie
anflehen, alles abzuleugnen, doch dann schien er einzusehen, dass
er sie nicht aufhalten konnte. Er senkte den Kopf, ergriff wieder
ihre Hand, und sie alle warteten. Gemma spürte Kincaids Atem warm
im Nacken.
»Ich wusste sofort Bescheid. In den Gedichten, die
ich als Kind gelernt habe, wurde der Tod immer mit einem Schlaf
verglichen, aber das kann man gar nicht verwechseln. Sie war
einfach zu still, das habe ich gleich gesehen, obwohl sie mit ihrer
kleinen rosa Decke zugedeckt war. Als ich sie anfasste, war sie
ganz kalt, und ihre Haut war blau.«
Niemand sagte ein Wort. Das hypnotisierende Zischen
des Sauerstoffreglers füllte den Raum, bis Gemma glaubte, ihr Herz
schlüge im gleichen Rhythmus. Sie merkte, dass ihre Wangen feucht
waren, und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
Sie hatte ihr eigenes Kind in den Armen gehalten –
so winzig, so vollkommen -, und sie wusste, dass kein Irrtum
möglich war, wenn das Leben einen solchen kleinen Körper verlassen
hatte. »Es tut mir leid. Das muss furchtbar für Sie gewesen
sein«, sagte sie, und ihre Worte schienen Rowan die Kraft für
einen letzten Anlauf zu verleihen.
»Ich habe es versucht. Weiß Gott, ich habe es
versucht. Ich habe alles getan, was man uns bei Joseph beigebracht
hatte. Ich habe ihr meinen eigenen Atem in die Lungen geblasen, bis
ich fühlen konnte, wie ihre Brust sich unter meiner Hand hob und
senkte, aber es half alles nichts mehr. Wir lagen unten bei
Huddleston, und es war kein Boot in der Nähe, wo ich hätte Hilfe
holen können. Als dann Gabriel zurückkam …«
»Ich habe sie gefunden«, sagte Gabriel mit heiserer
Stimme. »Rowan mit der kleinen Marie im Arm. Es war zu spät. Zu
spät«, wiederholte er, mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Und dann ist
mir klar geworden, was passieren würde, wenn irgendjemand davon
erfuhr. Wir hätten Joseph auch noch verloren, und Rowan hätte
vielleicht ins Gefängnis gemusst. Das konnte ich nicht
zulassen.
Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte. Rowan
hat sie gewaschen und ihr ihren schönsten Strampelanzug
angezogen.«
»Keine Windel. Deshalb hatte sie keine Windel an«,
sagte Kincaid leise, als sei ihm plötzlich wieder eingefallen, was
ihm die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte. Gabriel nickte.
»Inzwischen war es ganz dunkel. Ich wickelte sie in
ihre Decke und trug sie zu dem alten Viehstall. Ich konnte es nicht
riskieren, Rowan mitzunehmen, und außerdem musste sie ja auf Joseph
aufpassen.« Nachdem er einmal begonnen hatte, schien Gabriel die
gleiche Erleichterung zu empfinden wie seine Frau, als die lange
angestauten Worte aus ihm hervorbrachen.
»Ich hatte in dieser Woche für den alten Mr. Smith
gearbeitet. Der Viehstall war schon seit Jahren nicht mehr als
Stall benutzt worden, aber Mr. Smith hatte vor, ihn zu verkaufen,
und der Mörtel bröckelte an vielen Stellen. Ich war noch nicht ganz
fertig mit den Ausbesserungsarbeiten und hatte deswegen
mein Werkzeug dort gelassen. Alles lag griffbereit. Da war diese
Futterkrippe, halb versteckt hinter alten Möbeln und einer
ausrangierten Melkmaschine – sie war mir aufgefallen, als ich das
Gebäude nach Schäden abgesucht hatte. Ich machte … ich habe für
Marie getan, was ich konnte …« Er brach ab und schluckte; sein
Gesicht war jetzt beinahe so aschfahl wie das seiner Frau. »Und
dann habe ich alles dicht gemacht, damit nichts und niemand ihren
Frieden stören sollte, und habe alles wieder so hingestellt, wie es
vorher gewesen war.
Am nächsten Tag habe ich mich von Mr. Smith
auszahlen lassen. Ich wollte nicht, dass geredet wird, es sollte
alles ganz normal aussehen. Dann haben wir den Shroppie verlassen,
sind die meiste Zeit im Norden geblieben, wo uns niemand kannte.
Aber irgendwie fiel es uns immer schwerer und schwerer, nicht
hinzufahren. Vielleicht sollte es einfach so sein, dass wir hier
waren, als sie gefunden wurde.«
»Aber ich verstehe nicht ganz«, sagte Gemma. »Ihre
Tochter, das Mädchen, das Sie Marie nennen … Wer ist sie?«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wer sie ist«,
antwortete Gabriel. Etwas in Kincaids Miene musste ihn bewogen
haben, rasch hinzuzufügen: »Das soll nicht heißen, dass ich es
Ihnen nicht sagen will. Ich meinte, ich kann es Ihnen
nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Aber ich kann Ihnen sagen, wo
sie herkam. Das erste Jahr oder so, da haben wir in ständiger Angst
gelebt, weil wir dachten, es könnte jemand unser Baby finden und es
irgendwie mit uns in Verbindung bringen. Aber wir konnten das Boot
nicht aufgeben – es war alles, was wir hatten -, also schien es uns
das Beste, in den großen Städten unterzutauchen. Die Kanäle führen
durch die übelsten Viertel, an den alten Lagerhäusern und Slums
vorbei, und damals war noch nicht so viel die Rede von ›bevorzugter
Lage am Wasser‹.« Es lag ein Anflug von Spott in seiner
Stimme.
»Wir waren in Manchester – ich hatte einen
Aushilfsjob in
einer Fabrik gefunden -, aber in den leer stehenden Lagerhäusern
in der Nähe von unserem Liegeplatz, da hatten Drogensüchtige
Unterschlupf gefunden, Prostituierte, Jugendliche, die von zu Hause
weggelaufen waren und ein Dach überm Kopf brauchten. Rowan hat
einige von den Frauen näher kennengelernt; sie hat ihnen geholfen,
wo es ging. Eines Tages erzählten sie ihr, sie hätten dieses
Mädchen tot aufgefunden – eine Überdosis, wie’s schien. Und ihr
kleines Töchterchen hatte noch neben der Leiche gekauert.«
»Das Mädchen war selbst fast noch ein Kind«, warf
Rowan ein, und in ihren Augen schien Mitleid auf. »Und die Kleine …
es sah aus, als hätte ihre Mutter sich Mühe gegeben, gut für sie zu
sorgen, trotz allem. Sie war gut genährt und so sauber, wie man es
unter den Umständen erwarten konnte. Aber sie war so verängstigt,
das arme kleine Würmchen, und niemand wollte Hilfe holen. Nichts
hätte diese Hausbesetzer dazu gebracht, einen Polizisten oder eine
Sozialarbeiterin über ihre Schwelle zu lassen, und niemand wollte
sie zu sich nehmen. Also haben wir sie genommen.« Rowan sagte es,
als wäre es die klarste Sache der Welt, und die Erinnerung
entlockte ihr ein Lächeln. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Sie war
ungefähr so alt, wie unsere Marie gewesen wäre, und jetzt … Sie
ist Marie. Sie erinnert sich an nichts anderes. Dieses Leben
ist alles, was sie kennt. Und wir … Sie ist unsere Tochter, gerade
so, als hätte ich sie selbst zur Welt gebracht.«
Alle möglichen Einwände schossen Gemma durch den
Kopf. Wäre die Mutter identifiziert worden, dann hätte sich
vielleicht auch der Vater gefunden, der das Kind zu sich genommen
hätte, oder die Großeltern, alle mit größerem Anrecht als Gabriel
und Rowan Wain. Und doch … hätte irgendjemand sie mehr lieben
können?
Gemma wurde aus ihrer Grübelei gerissen, als Rowan
leise fragte: »Woher haben Sie es gewusst? Das mit Marie?«
»Es waren ihre Augen. Annie Constantine hat in
ihren Aufzeichnungen festgehalten, dass Marie braune Augen
hatte.«
Rowan seufzte. »Mein Gott. Das hätte ich nie
gedacht. Ich wusste gar nicht, dass sie solche Sachen über die
Kinder aufgeschrieben hatte.«
Kincaid schob Gemma zur Seite und wandte sich an
Gabriel. Seine Stimme war streng. »Hat sie es auch gesehen? Annie
Constantine – als Sie ihr an Heiligabend wieder begegneten? Sie hat
die Kinder an diesem Tag gesehen, und dann noch einmal, als sie mit
Dr. Elsworthy wiederkam. Kam es deswegen zum Streit, weil sie
erkannt hatte, dass Marie nicht Ihre Tochter war? Und wenn sie von
dem toten Kind im Viehstall erfahren hätte, hätte sie nur noch eins
und eins zusammenzählen müssen. Das mussten Sie verhindern, mit
allen Mitteln.«
Gabriel löste seine Hand von der seiner Frau und
stand auf. Die beiden Männer standen einander in der engen Kabine
Auge in Auge gegenüber, und Gemma spürte eine plötzliche
Beklemmung, als ob die Luft in dem kleinen Raum knapp würde.
Aber Gabriel Wains Haltung war nicht aggressiv, und
als er sprach, lag nur Verzweiflung in seiner Stimme. »Nein. Ich
könnte schwören, dass sie es nicht gewusst hat. Und wenn sie gehört
hatte, dass die kleine Marie gefunden worden war, hätte sie nie
etwas gesagt.« Er legte die Hand auf die Schulter seiner Frau und
fuhr fort, jedes Wort ein Appell. »Und selbst wenn, ich hätte ihr
niemals etwas zuleide getan.«
Blitzschnell ging Gemma im Kopf die Möglichkeiten
durch. Annie hatte vielleicht nicht sofort erkannt, dass das Kind
nicht von den Wains war, aber hatte vielleicht am Morgen des
zweiten Weihnachtstages, als sie Dr. Elsworthy zu Rowan brachte,
irgendetwas eine Erinnerung in ihr ausgelöst? War sie später am
selben Tag wiedergekommen, um das Paar zur Rede zu stellen?
Nein. Nicht Rowan. Rowan hätte ihr die Wahrheit
gesagt – das war sie Annie Constantine schuldig, und sie war bereit
gewesen, alles zu beichten. Aber wenn Annie mit Gabriel allein
gesprochen hatte … Wie weit wäre Gabriel Wain gegangen, um seine
Familie zu schützen?
Doch sie hatten keine Beweise. Und wenn sie Gabriel
jetzt beschuldigten, würde es für diese Familie keine Gnadenfrist
geben – auch nicht für Rowan, der nur noch so wenig Zeit
blieb.
Gabriel betrachtete Gemma und Kincaid schweigend.
Er hatte sich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; jetzt
konnte er nur warten. Doch Rowan fragte: »Was werden Sie tun?«, und
es schwang Hoffnung in ihrer Stimme – für ihre Kinder, wenn schon
nicht für sie selbst.
»Ich …« Gemma zögerte; die Risiken jeder der beiden
Alternativen waren ihr quälend bewusst. Aber dann war ihr mit einem
Mal vollkommen klar, dass sie diese Familie nicht opfern würde,
ohne einen Beweis für Gabriels Schuld zu haben. Und das bedeutete,
dass sie herausfinden mussten, wer Annie Constantine ermordet
hatte.
Das Feuer war schon fast erloschen, als Juliet in
Nantwich ankam und ihren Lieferwagen außerhalb des Rings aus
Löschfahrzeugen und einem Gewirr von Schläuchen abstellte. Zwei
Feuerwehrleute standen noch vor dem Haus und richteten dicke
Wasserstrahlen auf die bereits völlig überfluteten Geschäftsräume
von Newcombe & Dutton. Juliet schob sich durch die Menge der
Schaulustigen, bis sie ein bekanntes Gesicht entdeckte.
»Chief Inspector! Was ist passiert? Haben Sie … war
irgendjemand …?«
»Es war niemand im Gebäude, Mrs. Newcombe«, beeilte
sich Babcock, sie zu beruhigen. »Und was passiert ist – nun,
wir haben den Partner Ihres Mannes ungefähr eine Stunde vor
Ausbruch des Feuers auf freien Fuß gesetzt. Die Tür war mit einem
Vorhängeschloss gesichert, da wir noch nicht alle Akten entfernt
hatten, aber jemand hat sich mit einem Bolzenschneider Zugang
verschafft.« Er begutachtete mit angewiderter Miene den Schaden.
»Wir können von Glück sagen, dass nicht der ganze Monk’s Walk in
Flammen aufgegangen ist.«
»Sie glauben, dass Piers das getan hat?« Juliets
anfängliche Erleichterung mischte sich mit Beunruhigung.
»Das wäre die logische Schlussfolgerung, ja. Auch
ein noch so teurer Anwalt kann keine Wunder vollbringen, wenn
ausreichend Beweise für eine Straftat vorliegen. Es dürfte das
Risiko wert gewesen sein, sie zu vernichten. Ein Kanister Benzin,
versteckt unter einem Mantel …« Er zuckte mit den Achseln.
»Dann sind Sie sich also sicher, dass es
Brandstiftung war?«
»Man konnte das Benzin noch riechen. Ich habe eine
Streife zu Mr. Duttons Haus geschickt. Falls er nicht dort ist –
wissen Sie, wo man ihn finden könnte?«
»Ich … Seine Eltern wohnen in Chester. Ich wüsste
nicht, wo er sonst hingehen sollte«, antwortete Juliet, doch ihre
Gedanken überschlugen sich schon. Ein so offenkundiger Versuch,
Beweise zu vernichten, passte nicht zu Piers. Er war jemand, der im
Hintergrund manipulierte und die Fäden zog. Direkte Aktionen waren
nicht sein Stil. Und wenn sie sich das rauchende, geschwärzte
Gerippe der ehemaligen Geschäftsräume von Newcombe & Dutton
anschaute, hatte sie das Gefühl, dass es hier um mehr gegangen war
als nur um das Vertuschen eines Betrugs.
»… sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte Babcock
gerade. »Auch wenn ein Teil der Papiere über das ganze Büro
verstreut war, Sie würden staunen, was wir alles re…«
Doch den Rest hörte Juliet schon nicht mehr.
»Entschuldigen
Sie mich«, murmelte sie, bahnte sich einen Weg durch das Gedränge
und verschwand in dem laubüberwucherten Tunnel von Monk’s Walk. Nur
eine dünne Schicht Pulverschnee war durch das Blattwerk
herabgerieselt und knirschte unter ihren Sohlen, während sie
rannte.
Nachdem sie schlitternd in die North Crofts
eingebogen und die letzten Meter bis zu ihrem Haus gerannt war,
bekam sie plötzlich solches Seitenstechen, dass sie stehen bleiben
und sich schwer atmend auf den Knien abstützen musste, bis es
vorbei war. Und dann sah sie, dass die Haustür nur angelehnt war.
Angst schnürte ihr das Herz zusammen, als sie sie ganz aufstieß und
ihr Haus betrat.
Es dauerte einen Moment, bis sie den ungewöhnlichen
Geruch identifizieren konnte. Benzin. Großer Gott … Ihre Beine
waren plötzlich bleischwer, als sie dem Geruch und den nassen
Fußspuren nachging, den Flur entlang bis in die Küche.
Noch im Mantel stand Caspar am Spülbecken und
schrubbte sich die Hände. Als sie eintrat, blickte er auf, schien
aber nicht überrascht, sie zu sehen. »Es geht nicht ab«, sagte er.
»Ich krieg es einfach nicht ab.«
»Caspar, was hast du getan?«
Er wandte sich wieder zur Spüle um, und das
Plätschern des Wassers übertönte fast seine Worte. »Sie haben mich
zuschauen lassen, als sie die Akten hinausgetragen haben. Aber sie
haben sie nicht alle geholt, also haben sie ein Vorhängeschloss an
der Tür angebracht und gesagt, sie würden den Rest am nächsten
Morgen holen.
Ein paar von Piers’ Sachen waren auch noch da. Ich
wollte selbst nachsehen. Um zu beweisen, dass du unrecht hattest.
Also bin ich noch mal hin, als es dunkel war. Und als gerade
niemand hingeschaut hat, habe ich das Vorhängeschloss
geknackt.«
»Du hast das Schloss geknackt?« Juliet
konnte es kaum glauben
– das war derselbe Mann, den es bekanntermaßen schon überforderte,
eine Glühbirne zu wechseln.
Caspar, der offenbar den ungläubigen Ton ihrer
Stimme nicht registriert hatte, fuhr fort: »Ich habe deinen
Bolzenschneider in der Garage gefunden und ihn unter meinem Mantel
versteckt. Ein billiges Teil, dieses Schloss. Es war kinderleicht,
als ob man Butter schneidet. Als ich drin war, habe ich als Erstes
die Jalousien dicht geschlossen und dann mit einer Taschenlampe
Piers’ Akten durchgesehen.« Er drehte sich zu ihr um, ohne auf das
Seifenwasser zu achten, das von seinen Händen auf seinen Mantel und
den Boden tropfte.
»Er hat sie betrogen. Fast alle.« Seine Pupillen
waren vor Entsetzen geweitet. »Ich konnte es nicht glauben … Ich
konnte … Ich bin noch mal ins Haus gegangen und habe einen Kanister
Benzin geholt. Dann habe ich den Inhalt seiner Akten auf dem Boden
verstreut. Ich dachte, wenn ich alles anzünde …«
»Mein Gott, Caspar, du hättest dich umbringen
können!«, schrie Juliet ihn an. »Benzin verschütten und in Brand
stecken! Bist du denn vollkommen wahnsinnig geworden?« Sie
schüttelte angewidert den Kopf. »Und das alles für nichts und
wieder nichts. Du hättest ihn nicht retten können. Die Polizei hat
schon genug Beweismaterial, um Piers den Prozess machen zu können –
der Rest wäre nur noch Beiwerk gewesen. Du wärst vielleicht
ungeschoren davongekommen, aber jetzt kriegen sie dich wegen
Brandstiftung und Vernichtung von Beweismaterial dran, und alles,
was du noch aus der Firma hättest retten können, ist verloren. Was
um alles in der Welt hast du dir bloß dabei gedacht?«
Caspar sackte auf dem nächstbesten Stuhl zusammen,
wie eine Vogelscheuche in einem Kaschmirmantel. Der Wasserhahn
tropfte noch, ein Echo der Tränen, die in Strömen über seine Wangen
flossen.
»Ich wollte ihn nicht retten. Ich dachte, wir wären
… Ich dachte, er würde alles für mich tun. Aber jetzt … Alles, was
wir aufgebaut haben, liegt in Trümmern – und er hat mich belogen.«
Er schien erstaunt über seine eigenen Gefühle. »Ich wollte ihm
wehtun, Jules, das ist alles. Er sollte nur am eigenen Leib spüren,
was er mir angetan hat.«
Kit lief hinter Lally den Feldweg entlang. Sie
schien im Dunkeln sehen zu können, während er sich blind und
orientierungslos vorkam und mühsam mit ihr Schritt zu halten
versuchte.
»Wo sind wir eigentlich?«, fragte er keuchend, als
er es geschafft hatte, für ein paar Schritte mit ihr
gleichzuziehen. Sie hatten sich am Ende des Zufahrtswegs nach
rechts gewandt und nicht nach links, wie sie sonst immer mit dem
Auto fuhren.
»Abkürzung nach Barbridge. Du wirst schon sehen –
wir kommen bei der Brücke über den Kanal raus.«
»Lally, du hast gesagt, du musst dich mit Leo
treffen, aber ich dachte, du hättest noch gar nicht mit ihm
geredet. Ich meine, gestern, da hatte ich den Eindruck, dass du …
na ja … irgendwie sauer warst. Und du hast nicht telefonieren
dürfen …«
»Na und?«, erwiderte sie knapp. »Weißt du noch, wie
er gestern Mittag gesagt hat, wir sollen uns mit ihm treffen? Er
hat gestern Abend sicher auf uns gewartet. Und heute Abend wird er
auch da sein.«
»Aber das versteh ich n…«
»Ich habe ein paar Sachen, die ihm gehören.
Jedenfalls sollte ich sie haben. Das Problem ist, dass ich sie
nicht habe.« Sie kicherte; es klang wie zerspringendes Glas. »Und
Leo lässt nicht locker, bis er bekommen hat, was er will.«
»Wie meinst du das, du hast Sachen, die ihm
gehören? Was für Sachen denn?«
Lally verlangsamte ihren Schritt ein wenig und sah
ihn an.
»Mensch, Kit, bist du vielleicht schwer von Begriff. Pillen. Und
anderes Zeug. Du klingst genau wie Peter.«
»Peter?« Kit brauchte einen Moment, um den Namen
einzuordnen. »Dein Freund, der gestorben ist?«
»Ertrunken. Er ist ertrunken«, erwiderte Lally mit
einer Heftigkeit, die er nicht verstand. »Du gleichst ihm sogar ein
bisschen – er hatte auch so was Unschuldiges,
Schuljungenhaftes.«
Kit spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss,
doch ehe er protestieren konnte, fuhr sie fort: »Leo hat ihn eine
Schwuchtel genannt, aber das war er nicht. Er war einfach nur …
sehr sanft. Er war intelligent, und er war witzig, und er hat immer
gespürt, wie es mir gerade ging, verstehst du? Ohne dass ich was
sagen musste.« Lally wurde immer langsamer, bis Kit selbst seinen
Schritt zügeln musste. »Und er wusste, wie er mich berühren musste.
Nicht, dass er schon was mit anderen Mädchen gehabt hätte – er
schien einfach immer zu wissen, was ich gerade dachte, jede Minute,
und er …«
»Da ist die Brücke«, sagte Kit. Er wusste, wie
idiotisch es war, aber er wollte einfach nur, dass sie aufhörte. Es
war ihm nicht klar gewesen, dass Peter diese Art von Freund
gewesen war, und er wollte nicht darüber nachdenken, was Lally mit
ihm gemacht hatte – aber andererseits hatte sie gesagt, dass er,
Kit, sie an Peter erinnerte …
Plötzlich war ihm gar nicht mehr kalt, und er war
froh, dass Lally nicht sehen konnte, wie er rot wurde. »Um auf Leo
zurückzukommen«, sagte er und versuchte, seine Gedanken auf Lallys
andere Bemerkung zu konzentrieren. Irgendwie überraschte es ihn
nicht, dass Lally Drogen versteckt hatte oder dass Leo sie ihr
gegeben hatte. »Du hast gesagt, du hättest Leos Sachen gehabt, aber
jetzt hättest du sie nicht mehr. Wie kommt das?«
»Weil irgendjemand an meinem Scheißrucksack war und
sie
geklaut hat.« Das Gezeter konnte die Angst in ihrer Stimme nicht
ganz kaschieren. Sie hatten den Steinbogen der Brücke erreicht, und
anstatt hinüberzugehen, sprang Lally gewandt wie eine Gämse auf den
Leinpfad hinunter. »Es muss meine Mutter gewesen sein, aber wieso
hat sie dann nichts gesagt?«, fuhr sie fort. »Ich hätte gedacht,
sie bringt mich um oder gibt mir lebenslänglich Hausarrest oder was
weiß ich.«
Kit sah sich wieder gezwungen, hinter ihr
dreinzutrotten, und ihre Worte drangen nur stoßweise an sein Ohr,
getragen vom Wind.
»Wird Leo keine Angst haben, dass es Ärger
gibt?«
»Nein. Es weiß ja keiner, dass er dahintersteckt.
Er wird verlangen, dass ich ihm die Sachen wieder besorge oder ihn
dafür entschädige …«
»Wie meinst du das, ihn dafür entschädigen?«,
fragte Kit, dem die Formulierung gar nicht gefiel.
Aber Lally murmelte nur: »Das würdest du sowieso
nicht verstehen«, und ging mit gesenktem Kopf weiter, als ob sie
plötzlich fürchtete, zu viel gesagt zu haben.
Es war dunkel, so dunkel, dass Kit das Wasser zu
seiner Linken nur anhand der noch etwas tieferen Schwärze erkennen
konnte. Als etwas Weißes ihnen aus dem Nichts entgegenflatterte,
fuhr er zusammen, packte Lallys Schulter und brachte sie abrupt zum
Stehen. »Was zum …« Als er genauer hinsah, erkannte er plötzlich,
wo er war und was er da vor sich sah. Durch das Rauschen des Windes
hindurch vernahm er das leise Knarren von Halteleinen, sah die
Umrisse von Buchstaben, die sich schwach leuchtend vor dem
Hintergrund des schwarzen Rumpfs abhoben. Es war die Lost
Horizon, und was da im Wind flatterte, war das lose Ende eines
blau-weißen Polizei-Absperrbandes, mit dem das Boot umwickelt war.
Er stand nur einen Schritt von der Stelle entfernt, wo Annie Lebows
Leiche gelegen hatte.
»Um Gottes willen, Lally.« Kit glaubte, sich
übergeben zu müssen. »Was hast du dir dabei gedacht, mich hierher
zu bringen?«, schrie er sie an. »Weißt du denn nicht …«
»He, es tut mir leid, ja?« Lally zog an seinem
Jackenärmel. »Wir bleiben nicht hier, aber wir müssen nun mal hier
lang. Ich hab nicht dran gedacht. Komm schon, wir müssen uns
beeilen.« Sie zerrte an ihm, bis er schließlich hinter ihr
herstolperte und unterdessen verzweifelt die Bilder zu verdrängen
suchte, die ihn bestürmten. Annie im smaragdgrünen Gras neben dem
Leinpfad … seine Mutter auf den weißen Fliesen in ihrer Küche
…
Dann war er wieder in dem rauschenden Tunnel seiner
Albträume gefangen. Er rannte und rannte, versuchte Hilfe zu holen,
während das Zimmer, in dem seine Mutter lag, endlos vor seinen
Augen zurückwich.
Lally packte ihn an den Schultern und riss ihn aus
seinem Tagtraum.
»Kit! Was ist denn los mit dir, Mensch? Wir müssen
über den Zauntritt hier klettern. Los, komm.« Lally wandte sich ab
und schwang ein Bein über den Zaun, und für Kit sah es so aus, als
verschwände sie in der Hecke. Er folgte ihr und stieg unbeholfen
hinüber. Die Dornen zerkratzten seine Hände, und als er auf der
anderen Seite hinuntersprang, versanken seine Füße im Schnee, der
im Windschatten der Hecke liegen geblieben war.
Lally lief schon den Hang hinauf, öffnete ein
Gatter und winkte ihn durch. Der Boden unter seinen Füßen wurde
fester, und er erkannte, dass sie auf einer Brücke waren und erneut
den Kanal überquerten. »Wo sind wir?«
»An der Baustelle meiner Mutter – dem alten
Viehstall. Willst du nicht sehen, wo sie das tote Baby gefunden
hat?«
»Nein!«, rief Kit und ergänzte rasch: »Es ist ein
Tatort.«
»Na und? Lässt du dich etwa von so einem blöden
Absperrband abschrecken?« Ihre Zähne blitzten, als sie sich zu ihm
umdrehte. »Außerdem ist es nur ein paar Minuten von Leos Haus, und
er hat gesagt, wir sollen dorthin kommen.«
Während Kit zu den Umrissen eines spitzen Dachs
aufblickte, das sich vor dem helleren Hintergrund des Himmels
abzeichnete, sah er plötzlich weiter unten ein kleines Licht
aufflackern, ein Streichholz oder ein Feuerzeug oder eine hastig
abgedeckte Taschenlampe.
»Er ist hier«, sagte Lally, ihre Stimme plötzlich
tonlos. Sie stieg über das Absperrband, das zwischen den Pflöcken
schlaff herabhing.
»Hast dir aber reichlich Zeit gelassen«, ertönte
eine Stimme aus der Dunkelheit. Leo trat aus dem Eingang des
Stalls. Er zog an einer Zigarette, und im Schein der kurz
aufleuchtenden Spitze wirkte sein Gesicht wie eine groteske Fratze,
ein kubistisches Porträt.
»Gehen wir nicht rein?«, fragte Lally mit
gespieltem Desinteresse, wie Kit jetzt erkannte.
»Da ist nichts zu sehen, nur bröckelnder Mörtel.
Enttäuschend.« Leo zuckte mit den Achseln. »Ich muss es ja wissen.
Ich hab gestern schon den ganzen Abend hier gewartet.«
»Meine Mutter hat mich gestern Abend nicht eine
Sekunde aus den Augen gelassen. Wir konnten heute nur kommen, weil
sie noch mal wegmusste.«
»Hast du es dabei?«, fragte Leo, als wären ihre
Entschuldigungen nur inhaltslose Floskeln, und Kit spürte, wie
Lally jäh erstarrte.
»Nein. Es ist in unserem Haus. Meine Mutter lässt
Sam und mich nicht dorthin zurückgehen. Sie will nicht, dass wir
unserem Dad begegnen.«
»Dann haben sie sich also noch nicht wieder
versöhnt, deine Eltern?« Irgendetwas in Leos Stimme jagte Kit einen
Schauer über den Rücken.
Kit hörte Lallys stockenden Atem – es klang fast
wie ein
Schluchzen. Instinktiv streckte er die Hand aus und legte sie
beschützend auf ihre Schulter.
Sie wich ihm aus, doch nicht schnell genug. Leo
hatte es gesehen. Seine Haltung wurde angespannter, doch sein Ton
blieb lässig, als er fragte: »Ist er vielleicht deine
Geisel?«
»Wie meinst du das?«, fragte Lally.
»He, kleiner Cousin, hör mal. Heute ist ein guter
Tag für einen zünftigen Männerabend. Was sagst du dazu, kleiner
Cousin? Ich hab’ne Flasche Wodka drüben in meinem Clubhaus – bei
dem Wetter kann man es sich ja wohl sparen, sie auf Eis zu
legen.«
»Leo…«
»Du nicht, Lally.« Seine Stimme war plötzlich
schneidend. »Ich sagte ›Männerabend‹. Geh heim. Geh heim und denk
lieber darüber nach, wie du deine Mutter dazu bringst, dich wieder
ins Haus zu lassen.«
»Leo, ich …«
»Das ist das Dumme daran, wenn man andere in seine
Geheimnisse einweiht, Lal.« Leo lächelte, während er es sagte, aber
Kit wusste, dass es eine Drohung war. »Du kannst dir nie sicher
sein, dass sie den Mund halten.«
»Geh nur, Lally«, sagte Kit. Er wollte nur, dass
sie sich in Sicherheit brachte, und er war entschlossen,
herauszufinden, womit Leo sie in der Hand hatte. Wenn es die Drogen
waren, würde Leo sich doch selbst belasten, wenn er sie verriete.
Aber hatte er vielleicht die Narben an ihren Armen gesehen?
»Aber …«
»Du hast gehört, was der junge Mann gesagt hat«,
höhnte Leo. »Nun lauf schon. Sei ein braves Mädchen.«
»Du bist ein Schwein, Leo«, sagte Lally. Ihre
Stimme bebte, doch dann drehte sie sich um, ohne Kit noch einmal
anzusehen, und einen Augenblick später hatte die Dunkelheit sie
schon verschluckt.
Kits Mund wurde trocken, als ihm bewusst wurde,
dass er keineswegs sicher war, ob er den Weg zurück allein finden
würde. Er musste nur dem Leinpfad folgen, das war alles. Er hatte
es einmal gemacht, er würde es auch ein zweites Mal schaffen.
»Du hast doch nicht etwa plötzlich Bedenken, Kit?«
Leo betonte bewusst seinen Namen, jetzt, da Lally weg war. »Komm,
wir amüsieren uns ein bisschen. Ich dachte immer, ihr Jungs aus der
Großstadt wisst am besten, wie das geht.«
»Ich weiß nicht …«
Doch Leo legte ihm den Arm um die Schultern und
trieb ihn vom Viehstall weg. Kit merkte jetzt, dass der andere
Junge nicht nur einen guten Kopf größer war als er selbst, sondern
auch stärker, als er aussah. »Es ist nicht sehr weit. Nur übers
Feld und dann ein Stück durch den Wald. Ich weiß da eine ganz
besondere Stelle. Die hab ich gefunden, kurz nachdem wir hierher
gezogen sind. Konnte ja nie verstehen, was mein Dad an dem alten
Gemäuer findet, aber das Grundstück hat durchaus seine versteckten
Reize«, fuhr er im Plauderton fort, ohne jedoch seinen Griff um
Kits Schultern zu lockern.
»Warum hat Lally Angst vor dir?«, fragte Kit,
entschlossen, Herr der Lage zu bleiben, trotz der Hand in seinem
Nacken.
»Angst vor mir?« Leo klang verletzt. »Lally hat
keine Angst vor mir. Wir passen bloß aufeinander auf, das ist
alles. Sie hat ein paar schlechte Angewohnheiten, die man unter
Kontrolle halten muss. Und ich sorge dafür, dass sie sich nicht mit
Leuten einlässt, die einen schlechten Einfluss auf sie haben
könnten. Sie ist ein bisschen anfällig für so was. Ich will nicht,
dass irgendjemand sie ausnutzt.«
»Ich werde sie nicht ausnutzen«, entgegnete Kit
wütend. Er versuchte sich loszureißen, doch Leos Finger waren wie
Stahl.
»Aber du magst sie. Gib’s zu!«
Sie tauchten in den Wald ein. Die Dunkelheit
umschloss sie,
bis Kits Welt nur noch aus Leos Hand und Leos Stimme zu bestehen
schien.
Als er keine Antwort gab, sagte Leo: »Das ist zu
dumm. Peter hat sie nämlich auch gemocht.«