11
Anfangs schien die Dunkelheit undurchdringlich. Der Himmel hatte sich mit marmorierten Wolken überzogen, deren Ränder im Schein der verdeckten Mondsichel dunkelviolett leuchteten, und kaum ein Lichtstrahl drang durch das Geäst der Bäume, die sich über das Ufer neigten.
Doch als seine Augen sich an das Halbdunkel zu gewöhnen begannen, konnte er hier und da helle Flecken ausmachen, Reste des Schnees der vergangenen Nacht, die wie fremdartige Pilze auf dem matschigen Untergrund des Leinpfads wucherten.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er unter sich den Kanal selbst erblickte. Es war windstill, und er sah kein Spiegelbild – er hätte ebenso gut in einen bodenlosen, tiefschwarzen Abgrund blicken können. Das Gefühl war auf merkwürdige Weise erregend, wie ein flüchtiger Blick in ein anderes Universum, und eine Art Besitzerstolz ergriff ihn. Dies hier war sein Geheimplatz – hier hatte er Macht, und das Wissen darum beruhigte ihn.
Es geschahen Dinge, die er nicht vorhergesehen hatte, und wenngleich er nicht glaubte, dass von irgendwoher echte Gefahr drohte, machte es ihn nervös, wenn die Ereignisse seiner Kontrolle entglitten. Er griff in die Innentasche seines Mantels, zog die gewölbte silberne Flasche hervor und nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen. Alkohol, das hatte er bald herausgefunden, war eine geniale Erfindung. Die richtige Dosis machte ihn locker, versetzte ihn in einen Zustand traumwandlerischer Überlegenheit, in dem er Zeit und Geschehnisse nach Belieben manipulieren konnte. Ein Dahinfließen, so empfand er es, in dem die Ideen, die in seinem Kopf entstanden, mit seinen Emotionen zu einer vollkommenen Einheit verschmolzen.
Aber er trank nie zu viel. Langsam und bedächtig setzte er den Deckel wieder auf die Flasche und schraubte sie fest zu. Er konnte es sich nicht leisten, benebelt zu sein, gerade jetzt, wo er vielleicht unverhofft zu einer Entscheidung gezwungen würde. Und er wollte auch kein Jota von dieser intensiven Erfahrung einbüßen, wollte sie in aller Klarheit und Deutlichkeit im Gedächtnis bewahren. Seine Erinnerungen waren wie die Perlen, die er in seiner Tasche aufbewahrte, kostbare Schätze, die er immer wieder hervorholen konnte, um sich daran zu weiden.
Und so beherrschte er sich und bemaß seine Rationen sorgfältig, als wäre es Medizin. Nur ein Mal hatte er kurz die Kontrolle verloren, und das nur, weil er nicht geahnt hatte, wie berauschend es sein konnte, einen Menschen zu töten.
 
Gemma hatte beobachtet, wie Rosemary in der halben Stunde, seit Kincaid und Kit zu ihrem Spaziergang aufgebrochen waren, immer nervöser geworden war. Sie hatten rasch das restliche Geschirr gespült, während Hugh sich zur Hintertür hinausgeschlichen und irgendetwas von Holzhacken gemurmelt hatte. »Das ist sein Refugium, wenn ihn irgendetwas bedrückt«, hatte Rosemary ihr zugeflüstert, »der Holzschuppen.«
Jetzt saßen sie am Küchentisch, vor sich ihre unberührten Teetassen, während Toby immer noch auf dem Hundeplatz vor dem Ofen schlief. Er sah wirklich aus wie ein kleiner Engel, mit seinen rosigen Backen und dem zerzausten strohblonden Haarschopf, einen Arm über den Rücken des duldsamen Cockerspaniels gelegt. Der Border Collie und der Terrier waren ein Stück zur Seite gerückt und schienen ein wenig indigniert angesichts der Beschlagnahme ihres warmen Ruhekissens.
»Nur gut, dass er nicht allergisch gegen Hundehaare ist«, meinte Rosemary, während sie den Jungen betrachtete. »Sind sie nicht süß, wenn sie schlafen? Als Duncan und Juliet klein waren, bin ich immer zu ihnen ins Zimmer gegangen, wenn sie gerade eingeschlafen waren, und habe ihnen eine Weile zugesehen – jeden Abend, ganz egal, wie schwierig sie gewesen waren oder wie erschöpft ich selbst war. Das hat mir geholfen, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken. Damit war natürlich Schluss, als sie anfingen, ihre Schlafzimmertüren abzuschließen«, fügte sie trocken hinzu. »Und auch dann sagst du dir noch, wenn sie erst einmal groß sind, musst du dir keine Sorgen mehr um sie machen.« Sie sah blass aus, und Gemma hatte den Eindruck, dass die Falten um ihre Nase und ihren Mund tiefer geworden waren.
»Das ist sonst nicht Juliets Art, oder?«, fragte Gemma leise. »Einfach zu verschwinden, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Und die Kinder zurückzulassen.« Es hatte ihr gar nicht gefallen, wie Duncan das unerklärliche Verschwinden seiner Schwester abgetan hatte, und auch nicht, wie er von seinen Eltern verlangt hatte, es einfach zu ignorieren. Natürlich kannte sie Juliet längst nicht so gut wie er, doch sie schien ihr eine verantwortungsbewusste Mutter zu sein – und eine verantwortungsbewusste Mutter ließ ihre Kinder nicht einfach während des Weihnachtsessens sitzen.
»Nein.« Rosemary hielt ihren Teebecher so fest umklammert, dass ihre Knöchel sich weiß färbten. »Aber ich hätte auch nie geglaubt, dass Caspar solche Dinge sagen könnte, wie ich sie gestern aus seinem Mund gehört habe. Wenn ich mir überlege, dass ich ihn einmal ganz charmant gefunden habe … Er war immer so ernst. Ich kann nicht genau sagen, wann aus dieser Ernsthaftigkeit pure Selbstgefälligkeit geworden ist.«
Was Gemma am Abend zuvor von Caspar Newcombe gesehen hatte, war mehr als nur selbstgefällig gewesen – es war boshaft und gemein. Sie musste wieder an den hysterischen Unterton in Lallys Stimme denken und fragte vorsichtig: »Rosemary, du denkst doch nicht, dass Caspar den Kindern etwas antun könnte? Lally schien sich große Sorgen zu machen, wie ihr Vater reagieren würde, wenn er auch nur erfahren würde, dass sie dich angerufen hatte.«
»Lally neigt in letzter Zeit ein bisschen zum Dramatisieren – ist wohl auch verständlich, denke ich.« Rosemary sah zu Gemma auf, und ihre Augen, die so sehr an ihren Sohn erinnerten, blickten schuldbewusst. »Deswegen dachte ich anfangs, dass sie vielleicht übertreibt, um sich interessant zu machen. Aber jetzt … Es ist nämlich so – als ich mit Caspar geredet habe, konnte ich hören, dass er getrunken hatte. Die Vorstellung, dass er jetzt mit den Kindern allein ist, gefällt mir ganz und gar nicht – und wenn Caspar getrunken hat, kann man davon ausgehen, dass sein Vater es auch getan hat. Ich mag gar nicht daran denken, dass Ralph auf die Idee kommen könnte, sie nach Hause zu fahren …« Sie stand auf und trug ihren Becher zur Spüle, um dann mit einem Geschirrtuch über die ohnehin schon blitzsaubere Arbeitsfläche zu wischen. Mit dem Rücken zu Gemma sagte sie: »Und Juliet … Caspar war so wütend, aber zugleich auch eiskalt, als ob er alles in sich aufgestaut hatte.«
Gemma warf einen Blick auf Toby, der immer noch friedlich schlief, trotz des rhythmischen Krachens der zersplitternden Holzscheite hinter dem Haus, und sie kam zu einem Entschluss. »Wie weit ist es bis … Wie hieß noch mal die Stadt? Audlem?«
»Von Nantwich aus eine halbe Stunde. Von hier braucht man ein bisschen länger.«
»Dann würde ich vorschlagen, dass Hugh und du die Kinder einfach abholt. Bringt sie hierher. Ihr könnt Juliet eine Nachricht hinterlassen und ihr erklären, was ihr getan habt, und ich bleibe hier, falls sie anruft. Caspar wird euch die Kinder doch wohl herausgeben?«
Rosemary runzelte die Stirn. »Ich denke schon, ja. Er wird vor seinen Eltern keine Szene machen, schon gar nicht nach allem, was passiert ist. Aber wenn Juliet zurückkommt und Caspar allein antrifft, ohne die Kinder …«
»Hat er Juliet jemals geschlagen?«, fragte Gemma behutsam und versuchte, sich ihre eigene Angst nicht anmerken zu lassen.
»Ich glaube nicht. Aber ich hatte auch angenommen, dass sie sich nur ein bisschen auseinandergelebt hätten, dass ihre Beziehung im Moment ein wenig belastet sei, nachdem Juliet im Büro aufgehört hat und die Kinder größer sind.«
»Dieser Partner – glaubst du, dass an Caspars Vorwürfen irgendwas dran ist? Könnte Juliet eine Affäre mit ihm haben?« Gemma hatte den Mann nach der Mitternachtsmesse kurz begrüßt. Er hatte neben Caspar gestanden und die Art von Charme versprüht, die augenblicklich Gemmas Argwohn weckte. Sie konnte sich schwerlich vorstellen, dass eine so geradlinige Frau wie Juliet Newcombe auf so fragwürdige Qualitäten hereinfallen würde.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Rosemary, und ihre Stimme klang bitter. »Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich meine Tochter überhaupt noch kenne.«
 
Rosemary hatte sich bald davon überzeugen lassen, dass es das Beste wäre, wenn sie Sam und Lally von Caspars Eltern abholten, doch nachdem sie das Gespräch mit ihrem Schwiegersohn beendet hatte, fiel Gemma auf, wie die Hände der älteren Frau zitterten.
»Er war abscheulich«, sagte sie, »aber er hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, er schien es nicht erwarten zu können, sie endlich los zu sein.«
»Hat er immer noch nichts von Juliet gehört?«, fragte Gemma.
»Nein. Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Lass nur.« Spontan nahm Gemma sie in den Arm. »Ich bin sicher, dass es ihr gutgeht. Wahrscheinlich brauchte sie nur ein bisschen Zeit für sich allein.«
Den Kopf an Gemmas Schulter, nickte Rosemary und sagte: »Danke. Ich bin froh, dass ihr gekommen seid.« Dann löste sie sich aus der Umarmung und begann zügig ihre Sachen zusammenzuraffen. Hugh kam von draußen herein, und nachdem seine Frau ihm erklärt hatte, was sie vorhatten, nickte er nur und war schon bereit.
Jack, der Border Collie, hob den Kopf, als er die Aufbruchsstimmung spürte, und begann heftig wedelnd zwischen Frauchen und Herrchen hin und her zu springen. »Nein, Jack«, sagte Hugh. »Du bleibst hier und bewachst das Haus.«
Mit seinem strengen Ton weckte er Toby, der sich aufsetzte, desorientiert und reizbar nach seinem ungeplanten Nickerchen. Er rieb sich die Augen und begann zu weinen. Gemma hob ihn sogleich hoch, trug ihn zum Tisch und nahm ihn auf den Schoß, während sie Rosemary und Hugh zum Aufbruch drängte. Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss, und plötzlich war es ganz still im Haus, bis auf Tobys Greinen.
»Ich wollte gar nicht schlafen«, jammerte er. »Jetzt sind alle weg.«
»Du hast auch gar nicht geschlafen«, versicherte Gemma ihm und streichelte sein Haar, das vom Liegen am warmen Ofen verschwitzt war. »Du hast nur geübt, die Augen zuzumachen.« Sie drückte ihn an sich, doch er zappelte und wollte sich nicht beruhigen lassen. »Na los, mach die Augen zu«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Versuch’s einfach.«
Toby machte ein paar Mal die Augen zu und wieder auf und vergaß dabei ganz das Schluchzen.
»Siehst du, wie gut du das kannst?«, meinte Gemma. »Das kommt vom Üben.«
Er kicherte. »Das ist doch albern, Mami.«
»Nein, du bist albern. Und außerdem sind gar nicht alle weg. Ich bin schließlich noch da, oder? Und das heißt, dass wir etwas ganz Besonderes machen können, nur wir zwei.«
Toby rutschte von ihrem Schoß. Die Tränen waren vergessen. »Können wir mein Puzzle machen?« Obwohl er noch zu klein war, um Harry Potter zu lesen, war er doch anfällig für das Produktmarketing und hellauf begeistert von dem Harry-Potter-Puzzle, das Kit ihm geschenkt hatte.
»Hm, na gut«, willigte Gemma ein. Sie beschloss, sich vorerst keine Gedanken darum zu machen, dass sie das halb fertige Puzzle wieder auseinandernehmen müssten, sobald irgendwer den Küchentisch brauchte. »Na klar, warum nicht?«
Toby flitzte sofort los, und einen Moment darauf hörte sie ihn schon die Treppe hinaufpoltern. Die Hunde, die es sich wieder auf ihrem warmen Lager vor dem Ofen bequem gemacht hatten, hoben bei dem Lärm die Köpfe. Während Jack und Tess sich gleich wieder hinlegten, kam Geordie zu Gemma getappt und legte den Kopf auf ihr Knie. Als sie ihn streichelte, wurde ihr bewusst, dass sie in diesem Moment zum ersten Mal seit ihrer Ankunft ganz allein war. Es war ein etwas sonderbares Gefühl, das Haus von Duncans Eltern quasi für sich zu haben. Sie kam sich ein bisschen vor wie ein Eindringling, war aber froh, ein wenig Zeit für sich zu haben.
Lange konnte sie die Ruhe allerdings nicht genießen. Sie hatte gerade mit Toby das Puzzle auf dem Küchentisch ausgepackt, da läutete es an der Tür. In ihrer Zeit als Streifenpolizistin hatte sie so oft Angehörige von Opfern benachrichtigen müssen, dass sie bei unangemeldeten Besuchen grundsätzlich ein ungutes Gefühl hatte. Diesmal aber erschrak sie noch heftiger als sonst.
Es könnte Juliet sein, sagte sie sich. Vielleicht hatte sie ja keinen Schlüssel. Nachdem sie Toby versichert hatte, dass sie gleich wieder da wäre, machte sie die Küchentür hinter sich zu, damit die kläffenden Hunde ihr nicht folgen konnten, und ging zur Haustür. Eine Mischung aus Hoffnung und düsteren Vorahnungen ließ ihr Herz schneller schlagen.
Doch der Mann, der vor ihr stand, als sie die Tür öffnete, war ein Fremder. Ihr erster Gedanke war, dass sein etwas zerknautschtes Gesicht so gar nicht zu seinem modisch geschnittenen blonden Haar und seinem teuer aussehenden schwarzen Wollmantel zu passen schien; der zweite, dass er auf eine leicht verwegene Art attraktiv war.
Der Fremde beäugte sie nicht minder interessiert, als er sagte: »Ich wollte zu Duncan Kincaid. Bin ich da richtig?« Sein Akzent war von den lang gezogenen Vokalen des Nordwestens geprägt, viel stärker als bei Duncan, der nur eine ganz leichte Dialektfärbung behalten hatte.
»Ja, aber er ist zurzeit nicht hier.« Sie blickte zum Himmel auf und sah, dass es schon später war, als sie gedacht hatte. Sie rang sich ein Lächeln ab und fuhr fort: »Er dürfte aber jeden Moment zurück sein – wenn Sie vielleicht warten möchten.«
Der Besucher schaute ebenfalls nach oben, als wollte er an der vorrückenden Dunkelheit die Zeit ablesen, und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich will Ihnen keine Umstände bereiten. Sagen Sie ihm einfach nur, er möchte Ronnie Babcock anrufen, wenn er wieder da ist.«
»Ronnie Babcock? Sie sind Chief Inspector Babcock?«
Er sah sie verdutzt an. »Ja, das steht zumindest in meinem Ausweis.«
Gemma errötete. »Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nicht … Es ist nur, weil Duncan von Ihnen gesprochen hat.« Spontan streckte sie die Hand aus und sagte: »Ich bin Gemma.«
Einen Moment lang schien er noch verwirrter als zuvor. Dann aber hellten sich seine Züge auf, und er schüttelte ihr herzlich die Hand, wobei er grinste, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen. »Der alte Halunke. Er hat mir gar nicht erzählt, dass er …«
Gemma fiel ihm ins Wort. »Das sind wir auch nicht. Verheiratet, meine ich. Wir leben nur zusammen.« Sie war ein wenig sauer auf Kincaid, der es offensichtlich nicht für nötig gehalten hatte, sie oder ihre Beziehung im Gespräch mit seinem alten Kumpel zu erwähnen. Und warum glaubte sie sich eigentlich für die Tatsache rechtfertigen zu müssen, dass sie nicht verheiratet waren?
»Na, er ist jedenfalls ein Glückspilz, so oder so«, meinte Babcock. Angesichts der charmanten Art und Weise, in der er die Situation gerettet hatte, war ihr Ärger gleich wieder verf logen.
»Wie gesagt, er müsste wirklich jeden Moment zurück sein. Er ist nur ein bisschen spazieren gegangen, und es ist schon fast dunkel. Wie wär’s, wenn Sie …«
»Mami«, ertönte Tobys weinerliche Stimme hinter ihr. »Jack kratzt an der Tür, aber ich hab ihn nicht rausgelassen. Können wir jetzt das Puzzle fertig machen?«
»Mein Sohn Toby«, erklärte sie Babcock. Dann tätschelte sie den Blondschopf des Jungen und sagte: »Es ist kalt, Schätzchen. Geh wieder rein, ich komme gleich nach.« Diesmal zog sie die Tür ein wenig fester hinter sich zu. Jacks schrilles Gebell wurde immer lauter, und sie sah ihn schon wie eine schwarz-weiße Kanonenkugel auf den fremden Eindringling zuschießen. Ob er wohl biss, wenn ihm der Besucher nicht ordnungsgemäß vorgestellt wurde?
»Es ist nicht weiter wichtig. Ich will Sie nicht aufhalten«, versicherte Babcock ihr. Sie war sich nicht sicher, ob es die Angst um seine körperliche Unversehrtheit war, die ihn zu dem schnellen Rückzieher veranlasst hatte, oder ob er befürchtete, zum Puzzlelegen zwangsrekrutiert zu werden.
»Geht es um das Baby? Die Leiche, die Juliet gefunden hat?«, fragte sie.
»Äh, ja. Ich dachte, er interessiert sich vielleicht für das Ergebnis der …« Er hielt inne, und Gemma nahm an, dass er nach einer taktvollen Umschreibung für »Leichenschau« suchte. Wieder flammte ihr Ärger über Kincaid auf. Da er sie offenbar überhaupt nicht erwähnt hatte, konnte Babcock wohl kaum ahnen, dass sie selbst bei der Polizei war, doch es fuchste sie, wie ein naives Frauchen behandelt zu werden.
»Hören Sie«, erwiderte sie. »Bei mir müssen Sie wirklich nicht um den heißen Brei herumreden. Ich bin …«
In diesem Moment bog ein Wagen mit quietschenden Reifen in die Einfahrt ein. Sie hatte ihn vorher schon vage registriert, als er mit überhöhter Geschwindigkeit und ohne Licht den dunklen Feldweg entlanggerast war.
Babcock drehte sich um und murmelte: »Was ist denn in den Spinner gefahren?« Doch als der Vauxhall anhielt und die Fahrertür aufging, war es Juliet Newcombe, die sie aussteigen sahen. Sie kam mit zögerlichen Schritten auf die beiden zu, wie eine Frau, die nach langer Bettlägerigkeit noch unsicher auf den Beinen ist.
Gemmas erster Gedanke war, dass Duncans Schwester betrunken sei. Der zweite, als Juliet näher kam und Gemma ihr bleiches Gesicht und die weit aufgerissenen dunklen Augen sehen konnte, war, dass sie krank sein oder unter Schock stehen müsse.
Babcock schien zum gleichen Schluss gekommen zu sein, denn er fragte: »Ist Ihnen nicht gut, Mrs. Newcombe?«
Juliet blieb stehen und starrte Babcock einen Moment lang an, als versuchte sie sich zu erinnern, wer er war. »Oh. Chief Inspector … Babcock, nicht wahr?«
»Wir haben heute Nachmittag versucht, Sie zu erreichen, Mrs. Newcombe«, sagte Babcock nicht unfreundlich, doch er musterte sie dabei kritisch. Gemma wusste, dass er routinemäßig überprüfen würde, ob ihr Atem nach Alkohol roch oder ob ihre Pupillen geweitet waren, was auf Drogenmissbrauch hätte schließen lassen. »Wir müssen Ihre Aussage zu Protokoll nehmen«, fuhr er fort, nachdem er sich offenbar davon überzeugt hatte, dass sie nüchtern war. »Wegen gestern Abend.«
»Das Baby.« Juliet klang ein wenig überrascht, als ob sie ihren Fund schon wieder vergessen hätte. Dann wurde ihre Miene besorgt. »Haben Sie irgendetwas herausgefunden? Wissen Sie schon, wer sie ist?«
»Nein, leider nicht. Aber wir brauchen die Kontaktdaten Ihrer Mitarbeiter. Wenn Sie bitte …«
Gemma trat in die Einfahrt hinaus und legte den Arm um Duncans Schwester. »Juliet, du musst ja furchtbar frieren! Komm ins Haus. Mr. Babcock, die Aussage kann sie doch sicher auch morgen früh noch machen, oder? Ich kann Juliet selbst aufs Revier bringen, wenn Sie wollen.«
Gemma sah, wie er zögerte, und sie wusste, dass Juliets Verhalten seine Neugier geweckt hatte. Die aber lag offensichtlich im Widerstreit mit dem Bewusstsein, dass er es mit der Schwester eines Freundes – und Kollegen – zu tun hatte und die Situation daher Taktgefühl erforderte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er schließlich, und sie atmete insgeheim erleichtert auf. »Wir haben in der Polizeidirektion in Crewe eine Einsatzzentrale eingerichtet. Wie wär’s gegen neun?« Er nickte ihnen zu. »Und richten Sie Duncan aus, dass er mich bitte anrufen soll, falls es ihm nichts ausmacht.«
»Duncan? Wo ist er denn?«, fragte Juliet. »Ich war … Ich muss …« Sie brach ab, als Gemma ihre Schulter kräftig drückte. Wie harmlos Juliets Aktivitäten in den letzten paar Stunden auch gewesen sein mochten, Gemma bezweifelte instinktiv, dass es klug gewesen wäre, sie in diesem Moment vor Babcock auszubreiten. Dabei schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie gerade eine Ahnung davon bekam, wie es war, auf der anderen Seite zu stehen – und es gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Gehen wir rein«, sagte Gemma und manövrierte Juliet, die sich willig von ihr führen ließ, zur Tür. »Du holst dir noch den Tod.« Über die Schulter rief sie Ronnie Babcock zu: »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich sage Duncan, dass Sie hier waren.« Dann schob sie Juliet ins Haus, machte die Tür hinter sich zu und ließ Babcock, der ihnen stumm nachstarrte, in der Einfahrt stehen.
Drinnen schnappte Gemma sich eine alte Strickjacke von der Garderobe und legte sie Juliet um die Schultern. »In die Küche«, kommandierte sie. »Da ist es wärmer.«
»Meine Eltern«, stieß Juliet mit klappernden Zähnen hervor. »Wo …«
»Sie sind zu Caspars Eltern gefahren, um Sam und Lally abzuholen. Lally hat angerufen und erzählt, du seist schon seit Stunden verschwunden. Sie haben sich Sorgen um dich gemacht – wie wir alle.«
»Das habe ich nicht gewollt … Ich dachte nicht …«
»Ich weiß, ich weiß.« Gemma führte Juliet über den Flur zur Küche. »Jetzt kriegst du erst mal was Heißes zu trinken.«
Die Hunde scharten sich um sie, als sie die Küche betraten – Tess und Geordie beschnüffelten aufgeregt die neue Person, während Jack mit dem Schwanz wedelte und unterwürfig die Ohren anlegte. Juliet bückte sich und vergrub die Hand im dichten Fell an seinem Hals, als empfände sie die Berührung als tröstlich.
Toby saß hinten am Tisch und zappelte mit den Füßen, die ein gutes Stück über dem Boden hingen. Er blickte auf und rief: »Tante Juliet!« – mit einer Begeisterung, als kenne er sie schon sein ganzes Leben. »Ich hab ein Harry-Potter-Puzzle! Auf dem Bild spielen sie Quidditch.«
»Hallo, Schatz.« Juliet brachte ein Lächeln zustande, doch Gemma konnte sehen, wie viel Mühe es sie kostete. »Das ist ja toll.«
»Komm, setz dich.« Sie führte Juliet zu einem Stuhl. Als sie sich umdrehte, um den Wasserkocher einzuschalten, fiel ihr Blick auf die Uhr über dem Herd. Erschrocken stellte sie fest, dass es schon nach fünf war. Draußen war es inzwischen stockdunkel. Sie ließ die Jalousien herunter und legte noch ein Scheit in den Ofen, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte. Das geschäftige Tun war vor allem ein Gegenmittel gegen das mulmige Gefühl in ihrem Magen. Duncan und Kit hätten doch schon längst zurück sein müssen.
Dann schalt sie sich selbst wegen ihrer unnötigen Sorgen. Duncan kannte die Gegend schließlich wie seine Westentasche. Er wusste, was er tat, und war gewiss in der Lage, im Dunkeln nach Hause zu finden. Diese ländliche Gegend war nur ihr völlig fremd.
Sie hatten bestimmt irgendwo Halt gemacht, um Dachse zu beobachten, dachte sie, als ihr eine Szene aus einer Fernsehserie über das Leben auf dem Land einfiel, die sie einmal gesehen hatte. Aber nein – Dachse hielten Winterschlaf, da war sie sich ganz sicher. Und sie gab sich hier mit banalen Überlegungen ab, um ihre Nerven zu beruhigen.
Juliet schien Toby zuzuhören, der gerade eine ziemlich verwirrende Version der Quidditch-Regeln zum Besten gab, doch sie blickte auf, als Gemma die Teebeutel aus dem Schrank nahm. »Nein, warte«, sagte sie. »Unter der Spüle. Dad bewahrt da immer eine Flasche Schnaps auf.«
Als Gemma die untere Schranktür aufmachte, sah sie, dass da tatsächlich eine halb volle Flasche Calvados stand, versteckt hinter dem Spülmittel. »Sehr praktisch«, bemerkte sie, während sie einen großzügig bemessenen Schuss in die Tasse goss, der für Juliets Tee gedacht war.
»Sein Notvorrat. Rein für medizinische Zwecke, sagt er. Er hat uns immer Schnaps mit Zitrone und Honig eingeflößt, wenn wir als Kinder Halsweh hatten.« Juliet packte den Becher wie einen Rettungsring und nahm einen kräftigen Schluck. Im nächsten Moment rang sie nach Luft und verzog das Gesicht wie ein Kind, dem man Hustensaft einflößt, um dann noch einmal wesentlich vorsichtiger an der Tasse zu nippen. Allmählich kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück. »Du sagst, Mama und Papa sind die Kinder abholen gefahren? Aber Caspar wird toben. Er lässt sie sicher nicht …«
»Doch. Deine Mutter hat mit ihm gesprochen, und er war einverstanden.« Mehr sagte Gemma dazu nicht. Nachdem sie neben dem Calvados eine Tüte Kauknochen entdeckt hatte, fischte sie drei davon heraus und verteilte sie an die Hunde. Jack fletschte die Zähne, als Geordie und Tess ihm zu nahe kamen, doch nachdem sie einander eine Weile umkreist hatten, fand schließlich jeder der drei ein ruhiges Plätzchen, wo er sich über seine Beute hermachen konnte.
»Mama hat gesagt, dass sie sie hierher bringt?« Juliet wirkte zugleich erleichtert und entsetzt. »Es ist ja nicht so, als ob ich nicht wollte, dass sie mit ihm heimfahren«, beeilte sie sich zu erklären. »Aber wie soll ich Lally und Tom erklären, dass ich einfach weggefahren bin? Ich kann doch nicht … Niemand wird mir …« Sie brach ab.
Gemma ließ sich neben ihr auf einen Stuhl sinken und goss sich eine wesentlich geringere Menge von dem Calvados in ihre Tasse. Irgendjemand würde sicher bald zurückkommen, entweder Duncan und Kit oder Rosemary und Hugh mit den Kindern, und wenn sie noch irgendetwas aus Juliet herausbringen wollte, würde sie sich beeilen müssen. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Warum erzählst du es nicht erst mal mir?«
 
Widerwillig stieg Babcock in seinen BMW und wartete noch einen Moment bei laufendem Motor, bis die Lüftung die Restwärme des Motors in das frostige Wageninnere geblasen hatte. Er zog seine Handschuhe an und trommelte mit den ledergepolsterten Fingerspitzen auf dem Lenkrad herum.
Irgendetwas war faul bei dieser Juliet Newcombe, und die Sache gefiel ihm ganz und gar nicht. Und genauso wenig mochte er es, wenn man ihn abblitzen ließ, auch nicht auf so elegante Weise, wie es Duncans höchst attraktive rothaarige Freundin eben getan hatte. Sie hatte unbedingt verhindern wollen, dass Juliet ihm verriet, wo sie gewesen war und warum sie so durcheinander war.
Seine Gedanken schweiften zu Duncan ab. Was hatte er denn erwartet? Dass sein alter Kumpel eine konventionelle Spießbürgerehe führte, mit einer gelangweilten, aber gut erhaltenen Gattin und verzogenen Teenagern, die ins Internat abgeschoben wurden? Stattdessen musste er feststellen, dass Duncan offenbar Tisch und Bett mit dieser hübschen jungen Frau teilte – jung genug, um ihn in die Kategorie »verdammter Glückspilz« einordnen zu können, und zudem blitzgescheit und von sympathischer Direktheit. Allerdings war ihm aufgefallen, dass sie »mein Sohn« gesagt hatte und nicht »unser Sohn«, als sie ihm den Kleinen mit dem flachsblonden Schopf vorgestellt hatte. Nichts war je so einfach, wie es im ersten Moment schien.
Zum Beispiel diese Geschichte mit Juliet Newcombe. Sie war die Frau eines angesehenen hiesigen Finanzberaters. Den Auftrag, den alten Viehstall zu renovieren, hatte sie durch eine Empfehlung des Kompagnons ihres Mannes bekommen, der rein zufällig an der Straße wohnte, die zu besagtem Viehstall führte, und der zufällig nicht zu Hause gewesen war, als die Uniformierten ihn als Zeugen hatten befragen wollen.
Babcock hatte seine Beamten angewiesen, es weiter bei Dutton zu versuchen. Aber vielleicht sollte er sich diesen Dutton einmal persönlich vorknöpfen. Der Mann war schließlich der ideale Ansprechpartner, wenn man an unvoreingenommenen Erklärungen für Juliet Newcombes Verhalten interessiert war.
»Du darfst niemandem etwas davon sagen, okay? Was ich getan habe, war nicht ganz sauber.« Juliet wartete, bis Gemma Einverständnis signalisierte, dann fuhr sie zögerlich fort. »Ich war im Büro«, sagte sie. »Im Büro von Caspar und Piers. Ich hatte das ursprünglich gar nicht vorgehabt, aber irgendwie bin ich in Nantwich gelandet, und da kam mir der Gedanke, dass das die Gelegenheit wäre, mich ungestört im Büro umzuschauen. Und Piers’ Papiere zu durchsuchen.« Sie sah Gemma an, als erwarte sie eine Rüge, doch Gemma nickte nur.
»Hat das mit Caspars Auftritt gestern Abend zu tun?«, fragte Gemma.
Juliet blickte zu Toby hinüber, der sich wieder seinem Puzzle zugewandt hatte und leise summend die Teile auf dem Tisch herumschob. »Ja. Aber nicht, was du denkst.« Ihr Ton war bitter. »Als Caspar und Piers sich damals zusammentaten, erschien mir Piers Dutton wie der aufmerksamste und rücksichtsvollste Mann, dem ich je begegnet war. Er ließ mich nie seine Post aufmachen oder seine Ablage machen. Er sagte, er wolle mir die Arbeit abnehmen. Ich wusste natürlich, dass er vorher keine Sekretärin gehabt hatte, und es war ziemlich bald klar, dass er seine ganz bestimmten – um nicht zu sagen zwanghaften – Vorstellungen davon hatte, wie alles gemacht werden musste. Ich nahm einfach an, dass es ihm lieber war, wenn er solche Dinge selbst erledigte. Und in der ersten Zeit war ich auch noch ziemlich unsicher – ich war schließlich jahrelang zu Hause gewesen und hatte mich um die Kinder gekümmert, bis Caspar dann vorschlug, ich könnte ihnen doch im Büro zur Hand gehen.
Und ich wäre zehnmal besser zu Hause geblieben. Man glaubt es kaum, wenn man uns jetzt so sieht, aber ich dachte damals wirklich, ich hätte ein gutes Leben, eine gute Ehe.« Sie sah Gemma an und lächelte schief. »Du machst es richtig – gar nicht erst heiraten, dann kann es auch nicht in die Hose gehen.«
»So einfach ist das nicht«, protestierte Gemma. »Und was ist dann passiert?«, drängte sie Juliet, um möglichst schnell das Thema zu wechseln. »Hat Piers sich irgendwie verändert?«
Juliet starrte die ländliche Szene auf ihrem Teebecher an, als könne sie die Antwort dort finden. »Es war die Summe von vielen Kleinigkeiten – wie wenn irgendwo im Haus ein Wasserhahn tropft. Zuerst bist du dir gar nicht sicher, ob du überhaupt irgendetwas hörst, und dann wird es nach und nach immer schlimmer, bis du irgendwann glaubst, dass du den Verstand verlierst, wenn du nicht herausfindest, wo es herkommt.
Er nahm die Post immer gleich an sich, bevor ich mit dem Sortieren fertig war. Er machte seine Tür zu, wenn er mit Kunden telefonierte. Er schloss seine Akten im Schrank ein.«
»Und Caspar hat das nicht gemacht?«
»Wieso sollte er? Die Informationen über die Investitionen der Kunden sind natürlich vertraulich, aber es ist schließlich nicht so, als ginge es um Fragen der nationalen Sicherheit.«
»Es sei denn, man tut etwas Unmoralisches oder gar Illegales«, sagte Gemma, und Juliet nickte.
»Und so begann ich, Verdacht zu schöpfen. Ich kam einfach nicht dahinter, was er eigentlich trieb. Und immer wieder redete ich mir ein, ich sei verrückt, auch nur an so etwas zu denken. Und dann, eines Tages, als Piers gerade in der Mittagspause war, fiel mir auf, dass eine seiner Aktenschubladen nicht ganz geschlossen war. Ich stand in seinem Büro und überlegte gerade, ob es das Risiko wert sei, einen schnellen Blick zu wagen, aber da kam er auch schon zurück.« Juliet blickte von ihrem Calvados auf, den sie nicht angerührt hatte, seit sie zu reden begonnen hatte. »Ich weiß noch, dass ich zusammengefahren bin, und ich muss wohl ziemlich schuldbewusst dreingeschaut haben, aber er hat nur gelächelt. Piers lächelt immer. Aber einen kurzen Moment lang sah ich etwas in seinen Augen.« Sie schluckte. »Hinterher habe ich mir einzureden versucht, ich hätte es mir nur eingebildet. Ich sollte wohl dankbar sein, dass ich ein so behütetes Leben hatte, denn ich habe es anfangs gar nicht als das erkannt, was es war.«
Gemma nickte. Sie wusste, wovon Juliet sprach und warum sie zögerte, das, was sie damals gespürt hatte, zu benennen. Auch sie hatte es schon gesehen – zwar nur wenige Male, aber diese Blicke in den Abgrund würde sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.
Juliet blickte wieder zu Toby, der jetzt mit seinen Puzzleteilen Flieger spielte, anstatt zu versuchen, sie zusammenzusetzen – mit der passenden Geräuschuntermalung. Von ihrer Unterhaltung schien er nichts mitzubekommen. »Man rechnet ja nicht damit …«, fuhr sie zögernd fort. »Nicht bei Freunden, Bekannten, Geschäftspartnern …« Sie schüttelte den Kopf, wie um zur Besinnung zu kommen. »Nicht lange nach diesem Vorfall änderte sich Piers’ Verhalten mir gegenüber. Aus dem freundschaftlichen Schultertätscheln wurde ein Klaps auf den Po, die harmlosen Komplimente und Anspielungen wurden immer eindeutiger. Aber es war immer noch alles so subtil, dass ich keine Szene machen wollte. Ich tat stattdessen so, als hätte ich ihn nicht gehört oder nicht verstanden, was er meinte. Mir graute mehr und mehr davor, morgens zur Arbeit zu gehen oder mit ihm im Büro allein zu sein.
Es hatte etwas Gezieltes, etwas geradezu Zwangsläufiges – als hätte er sich einen Plan zurechtgelegt, ohne je daran zu zweifeln, dass ich mitspielen würde. Oder vielleicht deute ich das auch nur im Nachhinein so.«
»Aber du hast nicht mitgespielt.«
Juliet begegnete Gemmas Blick, und in ihren Augen lag die ganze Verletztheit, die mit der Erinnerung wieder hochgekommen war. Ihre Brust hob und senkte sich schneller, doch sie hielt ihre Stimme im Zaum. »Er hat mich in seinem Büro in die Enge getrieben, eines Tages, als Caspar einen Termin bei einem Kunden in Macclesfield hatte. Ich musste ihn treten, damit er endlich von mir abließ. Erst danach, als er wusste, dass er mich nicht rumkriegen konnte, fing er an, Caspar gegen mich aufzuhetzen.«