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»Ich bin zu groß, um auf dem Schoß mitzufahren.« Toby wand sich und rutschte halb von Gemmas Knie herunter, doch sie schlang rasch den Arm um seinen Bauch und zog ihn energisch zurück.
»Tja, da musst du jetzt leider durch«, sagte sie und nutzte die Gelegenheit, um mit der Nase in seinen seidigen Haaren zu wühlen – ein Vergnügen, zu dem sie in letzter Zeit kaum noch gekommen war. »Und denkst du vielleicht auch mal an mein armes Knie, das so einen großen, schweren Jungen aushalten muss? Hörst du, wie es sich beschwert?« Sie ließ ihn auf und ab wippen, bis er sich glucksend an ihre Brust sinken ließ.
»Knie können gar nicht reden, Mami«, stellte Toby entschieden fest.
»Meine schon«, kam Rosemarys Stimme vom Beifahrersitz. »Besonders, wenn ich den ganzen Tag im Garten gearbeitet habe.«
In Hugh Kincaids altem Vauxhall Kombi konnte man normalerweise bequem sieben Personen unterbringen, aber die dritte Sitzbank war fast ganz mit Bücherkartons belegt. Hugh hatte sie so weit zur Seite geschoben, dass Kit gerade noch hineinpasste, während Sam, Lally, Toby und Gemma sich, so gut es ging, auf die mittlere Bank zwängen mussten.
Es hatte wieder zu schneien begonnen, und trotz der vielen Menschenleiber war es kalt im Auto. »Wartet nur, gleich wird’s schön warm«, meinte Hugh optimistisch, während er die Lüftung aufdrehte. In dem kalten Luftstrom fror Gemma noch mehr als zuvor, und sie drückte Toby an sich, bis er zappelte wie ein Fisch an der Angel.
Für Gemma, die durch die fremde Umgebung und die beschränkte Sicht von ihrem Platz ohnehin schon desorientiert war, reduzierte sich die Fahrt in die Stadt auf einen Strom wirbelnder weißer Flocken, hier und da unterbrochen durch den gelblichen Schein einer Straßenlaterne oder ein Stück nass glänzenden schwarzen Asphalts. Wenn sie nicht selbst fahren konnte, hatte sie immer das unangenehme Gefühl, die Lage nicht unter Kontrolle zu haben – und ein bisschen schlecht war ihr auch schon.
Als sie unter einem dunklen Brückenbogen hindurchfuhren, sagte Sam: »Seht mal, das ist der Aquädukt. Der Kanal geht hier über die Straße.«
»Soll das heißen, die Boote fahren über uns weg?«, fragte Kit. Er klang fasziniert.
»Dürfen wir uns das anschauen?«, meldete sich Toby zu Wort.
»Heute nicht mehr«, sagte Rosemary. »Aber vielleicht morgen, falls es ein bisschen aufklart.«
Links und rechts der Straße tauchten jetzt immer mehr Häuser aus dem Schneegestöber auf, und Sam setzte seine Erläuterungen fort. »Das ist die Welsh Row. Über die sind die Waliser immer einmarschiert, um die Engländer zu töten. Und hier in der Nähe sind auch die Salzwerke, wo schon die Römer Salz gewonnen haben. Das wich in Nantwich bedeutet nämlich ›Salz‹.«
»Seit wann machst du denn hier den Reiseleiter, Sam?«, stichelte Lally. »Ich glaube nicht, dass das irgendwen hier im Auto so brennend interessiert.« Lally und Kit hatten sich angeregt unterhalten, als sie das Haus verlassen hatten, und Gemma fragte sich, ob Lally vielleicht sauer war, weil sie neben ihrem Bruder sitzen musste anstatt neben ihrem neuen Freund. Jedenfalls registrierte Gemma mit Erleichterung, dass Kit seine Schüchternheit im Umgang mit seiner neuen Cousine offenbar abzulegen begann.
Toby legte den Kopf in den Nacken, bis er Gemma ins Ohr flüstern konnte: »Wer sind denn die Waliser, Mami? Töten die immer noch Engländer?«
Gemma unterdrückte ein Lachen. »Die Waliser sind ganz liebe Leute, die in Wales wohnen, Schätzchen. Und sie töten ganz bestimmt keine Engländer. Du brauchst also keine Angst zu haben.« Um Sam zu ermutigen, der sich in verletztes Schweigen gehüllt hatte, spähte sie aus dem Fenster und betrachtete interessiert die klassizistischen Fassaden. »Komisch, nach allem, was ich von Duncan gehört habe, dachte ich, Nantwich sei im Tudorstil erbaut, aber die Häuser dort sehen eher georgianisch aus.«
»Die Welsh Row ist überwiegend georgianisch«, antwortete Hugh, und obwohl Sam ungeduldig auf seinem Sitz zappelte, unterbrach er seinen Großvater nicht, als dieser fortfuhr: »Aber im Zentrum ist noch eine ungewöhnlich große Zahl von Tudor-Häusern erhalten. Sie wurden alle nach dem großen Feuer von 1583 erbaut, in einem einheitlichen Stil und mit finanzieller Unterstützung von Elizabeth I., die sonst nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt war. Man nimmt an, dass sie eine spanische Invasion von Irland aus fürchtete, und Nantwich war die letzte wichtige Station auf dem Versorgungsweg für die Garnison in Chester.«
Gemma konnte schon sehen, wo Sam sein Interesse an Heimatgeschichte herhatte.
»Das historische Zentrum ist für den Autoverkehr gesperrt«, erklärte Hugh, als sie an einer Ampel hielten, »aber nach dem Essen kann ich für euch eine kleine Führung machen, wenn ihr Lust habt. Von Juliet aus kommen wir bequem zu Fuß hin, und später gehen wir natürlich auch in die Kirche.«
»Vor der Messe dürfte es vielleicht knapp werden«, wandte Rosemary ein wenig besorgt ein. Die Kiste mit den Zutaten für den Punsch klirrte, als sie sie auf ihren Knien zurechtrückte.
»Also, ich hätte große Lust dazu, wenn es sich irgendwie machen lässt«, sagte Gemma zu Hugh. Sie fuhren gerade durch eine ziemlich gewöhnliche Einkaufsstraße, und als sie unter den unscheinbaren Ladenfronten aus der Nachkriegszeit eine Boots-Drogerie und einen Somerfield’s-Supermarkt entdeckte, war sie irgendwie enttäuscht. So hatte sie sich das eigentlich nicht vorgestellt, wenn Duncan von Nantwich erzählt hatte.
Hugh bog ein wenig zu schnell nach rechts ab, sodass Rosemary sich an ihre Getränkekiste klammern musste, und dann noch einmal, ehe er in einer ruhigen Sackgasse am Straßenrand parkte. Auf der einen Seite erblickte Gemma gewöhnliche Reihenhäuser aus rotem Backstein, deren Vordächer mit funkelnden Lichterketten geschmückt waren, während die winzigen Vorgärten ebenso wie die Grünfläche in der Mitte unter einer dichten Schneedecke lagen. Auf der anderen Straßenseite erhob sich eine hohe Gartenmauer mit einem schmiedeeisernen Tor an einem Ende, und zu diesem Tor führte Hugh nun die Schar seiner Lieben, die wie dick eingemummte Gänseküken hinter ihm herstapften.
Obwohl die Mauer dicht mit Efeu bewachsen war, konnte Gemma erkennen, dass sie aus dunklem Backstein war, ebenso wie das Haus dahinter. Nicht weit von dem Tor verlief ein schmaler, von Laubwerk überwucherter Fußweg parallel zur Straße.
»Das Zentrum ist nur fünf Minuten zu Fuß in diese Richtung«, sagte Hugh munter, während er das Tor öffnete und mit einer Kopfbewegung auf den Fußweg deutete, aber Gemma dachte nur, dass sie hier lieber nicht allein spazieren gehen würde. Die ganze Atmosphäre des Ortes schien ihr etwas Verschlossenes, Geheimnisvolles zu haben; der dunkle Laubtunnel; das Haus, verschanzt hinter seiner hohen Mauer wie eine Festung. Und der Anblick des Gartens war auch nicht geeignet, ihren ersten negativen Eindruck zu korrigieren. Klein und von Mauern umschlossen, war er komplett mit beschnittenen Sträuchern in verschiedenen Größen und Formen bepflanzt. Kein Stückchen Rasen, das Hunde zum Herumtollen eingeladen hätte – oder auch Kinder.
Aber sie konnte sehen, dass alles tipptopp in Schuss war. Fußstapfen führten zur Haustür, und in den Fenstern brannte warmes Licht. Sam lief schon voraus, riss die Tür auf und rief: »Mami!«
Doch es war Duncan, der herbeigeeilt kam, um sie zu begrüßen, und nicht Juliet. »Jules zieht sich noch um«, erklärte er, »und Caspar scheint irgendwie verschwunden zu sein.«
»Hat Mami wirklich eine Leiche gefunden?«, platzte Sam heraus, der schon wieder ungeduldig von einem Fuß auf den anderen hopste.
»Ja, das stimmt leider«, antwortete Duncan ernst. »Wenn sie will, kann sie euch später davon erzählen.«
»Aber hat sie denn …?«
Rosemary, die immer noch die Getränkekiste in den Händen hielt, fiel ihrem Enkel ins Wort. »Lasst uns zuerst die Sachen in die Küche bringen. Gemma, ich spiele mal für Juliet die Gastgeberin. Zieht eure Mäntel aus – da rechts ist ein Garderobenschrank.«
Während Sam und Lally ihre Sachen achtlos in den Schrank stopften und Kit und Toby die ihren ein wenig ordentlicher aufhängten, nutzte Gemma die Gelegenheit, um sich ein wenig umzusehen. In dem grün gestrichenen Wohnzimmer zu ihrer Rechten erblickte sie eine Sitzgruppe mit makellos weißen Bezügen. Der prächtige Weihnachtsbaum in der Ecke war mit weißen Seidenrosen und glitzernden Kristalltropfen geschmückt. Das Esszimmer zur Linken war nicht minder elegant eingerichtet, jedoch in tiefen Rottönen gehalten, und der lange Mahagonitisch war bereits mit Porzellangeschirr und Kristallgläsern gedeckt, wie für ein Festmahl von Schlossgeistern. Die Zimmer strahlten nichts von der ein wenig schlampigen Gemütlichkeit des Kincaid-Hauses aus und auch nichts von dessen lässiger Eleganz. Es erinnerte Gemma an ein Bühnenbild, und sie konnte jetzt verstehen, wieso Juliet lieber von früh bis spät auf irgendwelchen Baustellen herumwerkelte.
Nachdem ihre Mäntel verstaut waren – und Gemma begriff, dass in diesem Haus nie irgendein Kleidungsstück achtlos über eine Stuhllehne geworfen würde -, nahm Hugh seiner Frau die Kiste ab und meinte: »Sag mir nur, wo du sie hinhaben willst.«
»Natürlich in die Küche«, gab sie ungehalten zurück, aber Gemma hatte den Eindruck, dass ihr scharfer Ton eigentlich nicht ihrem Mann galt. Sie wirkte unruhig, und Gemma vermutete, dass es etwas mit der Abwesenheit ihres Schwiegersohns zu tun hatte.
»Kommt, ihr müsst euch unsere Zimmer anschauen«, forderte Sam Kit und Toby auf, und als die beiden brav hinter ihm die breite Treppe hinaufstapften, war Gemma für einen kurzen Moment mit Duncan allein. Er schien ein wenig in sich zusammenzusacken, als sei er froh um die Verschnaufpause.
»Geht’s dir gut?«, fragte er und streichelte ihre Wange. »Und Kit auch? Tut mir leid, es hat länger gedauert, als ich dachte.«
»Was war …?«, begann sie, doch er ließ sie nicht ausreden.
»Ein Baby. Aber es hatte schon lange dort gelegen, Jahre wahrscheinlich. Jules ist ein bisschen mitgenommen.« Er sah ihr nicht richtig in die Augen, und sein Gesicht hatte diesen ängstlich besorgten Ausdruck, den sie inzwischen nur allzu gut kannte.
Gott, wie sie sich wünschte, dass er endlich aufhören würde, sie wie ein rohes Ei zu behandeln und so zu tun, als würde sie bei der bloßen Erwähnung eines Säuglings gleich zusammenbrechen. Sie wollte gerade protestieren, da hörte sie auf der Treppe ein Rascheln. Als sie aufblickte, sah sie eine dunkelhaarige Frau die Stufen herunterkommen, die just die Art von rotem Seidenkleid trug, das Gemma als das passende Outfit für diesen Abend vorgeschwebt hatte. Von den wenigen Familienfotos, die Duncan ihr gezeigt hatte, hätte sie Juliet Newcombe wahrscheinlich wiedererkannt, aber sie hatte sie sich nicht so zierlich vorgestellt und auch nicht mit diesem gehetzten Ausdruck um die Augen.
»Du bist sicher Gemma«, sagte Juliet, als sie vor ihnen stand. Sie fasste Gemma an beiden Händen, und obwohl das Lächeln sie sichtlich Anstrengung kostete, lag in ihrer Stimme echte Wärme. »Ich freue mich ja so, dich kennenzulernen.«
In diesem Moment merkte Gemma, wie fest sie damit gerechnet hatte, dass Juliet ihr unsympathisch sein würde, und sie spürte, wie ihr die Schamröte ins Gesicht stieg. »Tut mir leid, dass du so einen stressigen Abend hattest«, sagte sie und drückte Juliets kleine, kalte Hände noch einmal, ehe sie sie losließ.
»Ja, die Umstände könnten erfreulicher sein«, pflichtete Juliet ihr bei. »Aber ich bin trotzdem froh, euch beide hier zu haben.« Sie wandte sich an ihren Bruder. »Die Kinder … ich dachte, ich hätte gehört …«
»Die sind oben. Sam spielt den Reiseleiter«, antwortete Duncan.
»Und Caspar? Ist er …?«
Duncan schüttelte den Kopf. »Noch nicht da. Du hättest ihn anrufen sollen, Jules. Vielleicht ist er gerade unterwegs und sucht dich.«
»Das glaube ich kaum«, erwiderte sie, und diesmal war ihre Stimme hart und kalt wie Eis.
»Übrigens«, sagte Duncan in das betretene Schweigen hinein, das dieser Bemerkung folgte, »Mama und Papa sind in der Küche und brauen ihren berühmten Punsch zusammen. Können wir dir vielleicht irgendwie helfen …?«
In diesem Moment ging die Haustür auf, und ein Mann trat in die Diele. Juliet erstarrte, die Hand in einer unbewussten Abwehrgeste zur Brust erhoben. »Caspar.«
Caspar Newcombe – groß, schlank, dunkelhaarig wie seine Frau – war tadellos gekleidet und trug eine teuer aussehende randlose Brille. Der Eindruck, den er mit seiner gepflegten, leicht aristokratischen Erscheinung machte, wurde jedoch durch den mürrisch verzogenen Mund und den kalten Blick, mit dem er seine Frau anstarrte, gründlich verdorben. Gemma und Duncan behandelte er wie Luft. Erst als er einen Schritt vortrat und dabei bedenklich schwankte, fiel Gemma auf, dass er betrunken war. Er versuchte die Situation zu überspielen, indem er sich betont lässig mit einer Hand an der Wand abstützte.
Juliet erwiderte den finsteren Blick und ging gleich in die Offensive. »Wo warst du?«
»Im Bowling Green.« Caspar gab sich keine Mühe, seine Stimme zu dämpfen. »Wollte mich ein bisschen in Weihnachtsstimmung bringen, wenn schon zu Hause nichts davon zu spüren ist – nicht wahr, mein geliebtes Weib? Ich könnte dir übrigens dieselbe Frage stellen, aber wenigstens weiß ich, dass du deine Gunst nicht meinem Partner geschenkt hast, weil er nämlich mit mir im Büro war. Aber vielleicht hast du dich ja ein bisschen mit einem von deinen strammen Gesellen im Heu gewälzt, hm? Oder muss man heutzutage ›Mitarbeiter‹ sagen?« Er grinste – offenbar fand er seine Bemerkung sehr originell.
»Du Schwein«, sagte Juliet ruhig. »Hat dir das vielleicht auch dein Piers eingeflüstert, bei einem vertraulichen Gespräch in der Kneipe? Oder hast du dir das selbst ausgedacht?«
Aus dem Augenwinkel nahm Gemma eine Bewegung am oberen Treppenabsatz wahr. Sie blickte auf und sah gerade noch eine ausgetretene Turnschuhsohle und ein Stück ausgefranste Jeans um die Ecke verschwinden. Lally. Ihre modisch zerfetzten Hosenaufschläge waren Gemma schon vorher aufgefallen. Sie wollte Juliet warnen, doch diese redete schon wieder auf ihren Mann ein und war so auf ihn fixiert, dass das Haus um sie herum hätte einstürzen können, ohne dass sie es bemerkt hätte.
»Du bist ein leichtgläubiger Idiot, Caspar,« sagte Juliet, die jetzt ebenfalls die Stimme erhoben hatte. »Aber was immer du von mir hältst und was immer du mir an Schlechtem zutraust – ich bin keine Lügnerin, und ich unterschlage auch kein Geld.«
 
Wenigstens war er im Warmen, dachte sich Ronnie Babcock, als er im Wohnzimmer der Fosters stand, auch wenn er befürchten musste, dass von seinen Kleidern bald deutlich sichtbarer Dampf aufsteigen würde. Tom und Diana Foster hatten ihn hereingebeten, wenngleich widerwillig, aber sie hatten ihm nicht den Mantel abgenommen und ihn auch nicht gebeten, sich zu setzen. Sie hatten sich nicht einmal dazu durchringen können, ihm das anzubieten, was an einem Abend wie diesem das simpelste Gebot der Höflichkeit gewesen wäre – einen Drink nämlich. Vielleicht hatten sie angenommen, dass er ihn aus Prinzip ausschlagen würde, aber das war nur eine wohlwollende Interpretation.
Er schätzte das Paar auf Mitte bis Ende fünfzig – Städter, die sich dem Landleben zugewandt hatten, nicht ohne ihre eigenen Eckchen vom Paradies mitzubringen, indem sie das Interieur eines ursprünglich sicher ganz bezaubernden alten Bauernhauses in die exakte Kopie einer Vorstadt-Doppelhaushälfte von der Stange verwandelt hatten.
Der kleine elektrische Heizstrahler, den sie vor den leeren gemauerten Kamin gezogen hatten, gab Wellen rauer, trockener Hitze von sich, die immerhin Babcocks durchgefrorene Gliedmaßen aufgetaut hatten, obwohl sie von Tom Fosters beträchtlichem Leibesumfang halb abgeschirmt wurden. Die Frau war dünn, hatte ein verkniffenes Gesicht und eine Frisur, der sie mittels Haarlack einen höchst unnatürlichen Rotton verpasst hatte. Das glitzernde Pailletten-Rentier auf ihrem Pullover war mit Abstand der fröhlichste – um nicht zu sagen geschmackvollste – Gegenstand im ganzen Raum. Sie hockte auf der äußersten Kante des Sofas, das zu einer potthässlichen Garnitur mit pfirsichfarbenem Plüschbezug gehörte, und ihr Blick ging immer wieder zu dem riesigen Fernseher in der Ecke, der ohne Ton lief, als ob sie sich einfach nicht davon losreißen könne.
Irgendwann hatte Babcock es sattgehabt, herumzustehen und zu warten, bis er Frostbeulen bekam, nur um den Spurensicherern bei der Arbeit zuzusehen, und so hatte er beschlossen, den Vorbesitzern des Viehstalls einen Besuch abzustatten. Er war allein hingegangen, weil er seinen Leuten wenigstens den Rest des Abends frei geben wollte, ehe die Ermittlungen richtig in Gang kamen, aber inzwischen wünschte er sich, er hätte jemanden mitgenommen, um wenigstens ein freundliches Gesicht an seiner Seite zu haben.
»Ich wüsste doch sehr gerne, was hier eigentlich läuft, Inspector«, fragte Tom Foster herrisch, als ob er Babcock zum Verhör bestellt hätte. »Ihre Leute sind den ganzen Abend den Feldweg auf und ab gefahren und haben alles zerwühlt. Wir können froh sein, wenn wir da morgen früh mit dem Auto überhaupt rauskommen.« Er sprach mit einem breiten Manchester-Akzent – ob seine Frau auch von dort kam, konnte Babcock nicht beurteilen, da sie noch kein Wort gesprochen hatte, obgleich ihr Gatte sie bei der Begrüßung beiläufig vorgestellt hatte.
»Chief Inspector, bitte«, korrigierte ihn Babcock sanft, verzichtete aber darauf, sich für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. »Mr. Foster, mir wurde gesagt, dass Ihnen bis vor kurzem der alte Viehstall unten am Kanal gehörte.«
»Das stimmt«, bestätigte Foster, wobei sein kahler Schädel im Deckenlicht glänzte. »Wir haben den Besitz vor fünf Jahren als Anlageobjekt gekauft, nicht wahr?« Falls er auf eine Bestätigung von seiner Frau gewartet hatte, sah er sich getäuscht, denn ihr Blick war wieder zu den spärlich bekleideten Mädels in Nikolauskostümen geschwenkt, die auf dem Bildschirm herumhopsten.
»Verlieren können wir dabei nicht, haben wir uns gedacht, und das haben wir auch nicht – o nein.« Foster erlaubte sich ein zufriedenes Grinsen. »An dem Verkauf des Stalls und der umliegenden Weiden haben wir so viel verdient, wie wir für den ganzen Besitz bezahlt hatten, dieses Haus eingeschlossen. Das Haus war natürlich in einem katastrophalen Zustand, und die Vorbesitzer hatten ihren ganzen verschimmelten Krempel dringelassen. Mussten einen Trödler kommen lassen, um das Zeug rauszuschaffen. Inzwischen haben wir es anständig hergerichtet. Mit allem modernen Komfort.« Foster blickte sich mit dem Stolz eines Großgrundbesitzers um, der seine Ländereien inspiziert.
Babcock merkte, dass er begonnen hatte, mit den Zähnen zu knirschen, und dass er unter seinem Mantel schwitzte. Er versuchte seine Kiefermuskeln ganz bewusst zu entspannen und machte den obersten Mantelknopf auf. »Mr. Foster, ist der Viehstall je benutzt worden, seit Sie den Besitz erworben haben?«
»Was haben Sie denn nur immer mit dem Viehstall, Inspector?« Fosters leutselige Laune war nur von kurzer Dauer gewesen. »Haben diese Jugendlichen vielleicht irgendwas angestellt? Ich dulde es nicht, dass sie über mein Grundstück laufen – das habe ich ihnen oft genug gesagt -, und wenn sie sich unbefugt auf der Baustelle rumgetrieben haben, dann haben die Bonners ein Recht, es zu erfahren.«
»Es geht nicht um die Jugendlichen, Mr. Foster. Die Bauunternehmerin, Mrs. Newcombe, hat da unten etwas entdeckt. Irgendjemand hat ein Baby in die Wand des Viehstalls eingemörtelt.«
In der geschockten Stille, die auf Babcocks Enthüllung folgte, hörte er ein leises Quieken, wie das Miauen eines gequälten Kätzchens. Es war ihm gelungen, Mrs. Fosters Aufmerksamkeit von der Mattscheibe loszureißen.
»Was? Was haben Sie gesagt?« Foster schüttelte den Kopf, als ob er Wasser in den Ohren hätte.
»Ein Baby«, flüsterte Mrs. Foster. »Er sagte, sie haben ein Baby gefunden. Wie schrecklich.«
Babcock lockerte die Schraube um einen Millimeterbruchteil. »Es lag schon eine ganze Weile dort, Mrs. Foster. Jahre möglicherweise.« Wenn er so darüber nachdachte, war er sich nicht sicher, inwiefern die verflossene Zeit das Schicksal des Kindes weniger furchtbar machte, doch Mrs. Foster nickte, als hätte er etwas zutiefst Tröstliches gesagt. Keiner der Ehegatten schien einen Gedanken daran zu verschwenden, was Juliet Newcombe durchgestanden haben musste.
»Also vor unserer Zeit.« Darin schien Foster eine gewisse persönliche Befriedigung zu finden.
»Das werden wir erst dann sicher wissen, wenn die Experten die sterblichen Überreste des Kindes untersucht haben«, sagte Babcock aalglatt. Er würde sich hüten, den Fosters zu verraten, dass die Stellungnahme der Experten ihnen vielleicht gar keinen so klar definierten Zeitrahmen liefern würde, und er würde ihnen auch nicht anvertrauen, wie gehandicapt er durch das Fehlen dieser Information war. »Deswegen muss ich wissen, ob in der Zeit, seit Sie den Viehstall erworben haben, dort irgendetwas gemacht wurde.«
»Ich selbst bin ja nie da unten«, sagte Foster. »Aber wir kriegen es mit, wenn jemand den Feldweg rauf- oder runtergeht. Und wir würden das Licht sehen, wenn da nachts irgendwelche verdächtigen Dinge vorgehen würden.«
Babcock hatte selbst die Aussicht vom Vorgarten der Fosters aus genossen, und er war sich ganz sicher, dass die Biegung des Wegs es unmöglich machte, zu erkennen, ob im Viehstall Licht brannte oder nicht. »Sie sagen also, Sie haben nichts gesehen?«
Der Widerstreit zwischen dem Wunsch, sich wichtig zu machen, und der Erkenntnis, dass es klüger wäre, sich aus der Sache herauszuhalten, war Fosters Gesicht deutlich anzusehen. Die Vorsicht trug den Sieg davon. »Nein. Nein, ich wüsste nicht, was.«
»Wann genau haben Sie das Grundstück an die Bonners verkauft?«
Foster dachte so konzentriert nach, dass sein rundliches Gesicht einer überreifen Pflaume kurz vor dem Platzen glich. »Muss jetzt fast ein Jahr her sein. Nach Weihnachten. Dieser alte Klotz – wir waren sicher, dass die Bonners alles plattmachen und neu bauen würden. Und dann so ein unerfahrenes Mädchen für die Bauarbeiten zu engagieren – was haben sie sich bloß dabei gedacht? Das haben wir ihnen auch ins Gesicht gesagt, aber sie haben nicht auf uns gehört. Die haben den Verstand verloren, wenn Sie mich fragen.«
Juliet Newcombe musste Ende dreißig sein, rechnete Babcock nach, und er hatte so seine Zweifel, ob sie es als Kompliment auffassen würde, wenn man sie als »Mädchen« bezeichnete. »Und warum haben sie sich gegen Ihren Rat für Mrs. Newcombe entschieden?«
»Empfehlung von unserem hochwohlgeborenen Herrn Nachbarn«, sagte Foster und schwenkte den Daumen in Richtung Hauptstraße. »Dutton. Piers Dutton. Obwohl, Lord Dutton wäre ihm wahrscheinlich lieber, wenn Sie mich fragen.«
»Wir haben ihn sicher ein halbes Dutzend Mal zu einem Drink eingeladen, und immer hatte er irgendeine Ausrede«, fügte Mrs. Foster hinzu, und ihre hohe Stimme bebte vor Entrüstung. Babcock empfand eine gewisse Sympathie für den Nachbarn, belagert von den Fosters, die als gesellschaftliche Aufsteiger sicherlich nur auf eine Gegeneinladung in sein viktorianisches Herrenhaus spekuliert hatten.
Piers Dutton … ungewöhnlicher Name, dachte er. Dann klickte es in seinem Kopf, und er wusste wieder, wo er ihn schon einmal gehört hatte. Piers Dutton war Caspar Newcombes Partner. Vielleicht war Dutton den Bonners gegenüber aufgeschlossener gewesen, und es war nur natürlich, dass er seinen neuen Nachbarn die Frau seines Geschäftspartners empfohlen hatte – allerdings musste er auch ein gewisses Vertrauen in Juliets fachliche Kompetenz gehabt haben, wenn er an einer dauerhaft guten Beziehung zu den Bonners interessiert war.
»Und die Leute, denen das Anwesen vorher gehört hat? Die Smiths, so hießen sie doch? Wenn Sie mir sagen könnten, wie ich sie erreichen kann …«
»Aber wir haben schon seit Jahren nichts mehr von ihnen gehört«, sagte Mrs. Foster. »Nicht wahr, Tom?« Babcock ordnete sie in die Kategorie Frau ein, die sich ohne den Segen ihres Mannes nicht einmal darauf festlegen würde, dass draußen die Sonne schien. Als Foster nickte, fuhr sie fort: »Wissen Sie, sie hatten die Immobilie gerade auf den Markt gebracht, als wir uns hier umzusehen begannen. Sie hatten sich eigentlich in aller Ruhe etwas Neues suchen wollen, aber so sind sie gleich ausgezogen und haben erst einmal eine Wohnung gemietet – hier in Nantwich, das weiß ich noch. Wir haben ihnen damals im ersten Jahr eine Weihnachtskarte geschickt, aber danach haben wir nie wieder etwas von ihnen gehört.«
»Wissen Sie zufällig, wo sie sich niederlassen wollten?«, fragte Babcock. Wie kam es, dass die scheinbar einfachsten Dinge sich immer wieder als so schwierig erwiesen?
»Ich weiß, dass sie eine erwachsene Tochter in Shropshire hatten, aber sie hatten sich noch nicht entschieden, was sie machen wollten. Ich weiß nur, dass sie die Landwirtschaft satthatten und dass der Verkauf des Anwesens ihnen so viel eingebracht hatte, dass sie sich bequem zur Ruhe setzen konnten.«
»Wenn Sie die Adresse dieser Mietwohnung für mich hätten – vielleicht haben sie ja einen Nachsendeauftrag erteilt.«
Mrs. Foster sah ihn mit kummervoller Miene an. »Aber wieso sollte ich die denn aufheben – wo wir doch im Jahr darauf keine Karte von ihnen bekommen haben?«
»Ja, ich verstehe.« Babcock hatte eine deprimierende Vision einer Liste der Empfänger von Weihnachtspost, von der die Namen der Antwortverweigerer alle Jahre wieder gnadenlos gestrichen wurden. »Und was ist mit dem Immobilienmakler, der den Verkauf abgewickelt hat?«
»Craddock & Burbage, in der High Street«, antwortete Foster.
Babcock notierte sich den Namen, wenngleich er kaum befürchten musste, ihn zu vergessen. Jim Craddock war wie Duncan Kincaid ein alter Schulkamerad von ihm – einer, der im Gegensatz zu diesem in Nantwich geblieben war und den Familienbetrieb übernommen hatte.
Er konnte nur hoffen, dass die Smiths bei der Maklerfirma eine Kontaktadresse hinterlassen hatten oder dass sie mit anderen Nachbarn freundschaftlicheren Umgang gepflegt hatten. Natürlich immer vorausgesetzt, dass sie beide noch lebten. »Es handelte sich um ein älteres Ehepaar, nehme ich an?«, fragte er. »Keine Kinder mehr im Haus?«
»Ich weiß nur von der einen Tochter. Aber sie haben davon gesprochen, dass sie gerne näher bei ihren Enkeln wären«, antwortete Mrs. Foster. Und dann fiel der Groschen, und ihr blieb einen Moment lang der Mund offen stehen. »Sie denken doch wohl nicht, dass die Smiths irgendetwas mit dem Kind zu tun hatten, das Sie gefunden haben? Aber das – das ist …«
»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« Die Fosters selbst glaubte Babcock allerdings mehr oder weniger ausschließen zu können. Dennoch konnte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den beiden ein bisschen die Hölle heiß zu machen, und sei es nur um der kurzlebigen Befriedigung willen, Tom Foster für eine Weile das selbstzufriedene Grinsen ausgetrieben zu haben. »Und Sie, Mr. und Mrs. Foster?«, fragte er. »Haben Sie eigentlich Kinder?«
 
Es hatte aufgehört zu schneien. Nur hier und da irrte noch ein einzelnes Flöckchen durch die Luft wie ein verirrtes Schaf auf der Suche nach seiner Herde. Hugh Kincaid führte Gemma durch den verschneiten Garten. Kleine Lawinen rieselten von den Zweigen, wenn er sie mit dem Jackenärmel streifte. Auf der Straße blieb er stehen und blickte zu dem Stern auf, der hell am östlichen Himmel funkelte.
»Ich glaube, das war’s für heute«, sagte er. »Dem Schneesturm scheint die Puste ausgegangen zu sein – gerade noch rechtzeitig. Wäre schlimm, wenn ausgerechnet über Weihnachten die Straßen gesperrt wären.«
Gemma atmete tief durch und versuchte die Atmosphäre des Hauses abzuschütteln. Die eiskalte Luft, die sie einsog, schien direkt in ihr Gehirn zu dringen und es gründlich auszulüften – vielleicht ein Effekt von Rosemarys »tödlichem« Punsch, dem sie vermutlich zu intensiv zugesprochen hatte. Sie gab sich Mühe, nicht allzu sehr zu schwanken, als sie sich zum Haus umblickte und zögernd fragte: »Bist du sicher, dass es in Ordnung ist, wenn wir gehen? Ich finde, wir sollten helfen, das Geschirr …«
»Da mach dir mal keine Gedanken. Ich habe dir eine Stadtführung versprochen, und das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann, um den ersten Eindruck zu korrigieren, den du von uns haben musst«, antwortete Hugh gequält. Die Szene zwischen Juliet und Caspar und das Fiasko des anschließenden Abendessens klangen in dem unbehaglichen Schweigen nach, das seiner Bemerkung folgte.
Es widerstrebte Gemma, ihn noch mehr in Verlegenheit zu bringen, indem sie seine Vermutung bestätigte – aber so zu tun, als sei der Abend reibungslos verlaufen, wäre ungefähr so verfehlt gewesen, wie einen schweren Verkehrsunfall zu ignorieren und einfach weiterzufahren. »Es muss schwierig sein«, brachte sie nach einer Weile hervor. »Für euch. Und für die Kinder.«
Rosemary hatte zuvor dem ausufernden Ehekrach im Treppenhaus ein Ende gesetzt, indem sie wie eine Furie aus der Küche gestürmt war und die beiden angeherrscht hatte: »Es ist mir egal, worum es hier geht – ihr hört jetzt auf der Stelle damit auf und benehmt euch anständig. Die Kinder können euch hören, und ihr habt Gäste, falls ihr das schon wieder vergessen hattet.«
Juliet war so rot geworden wie ihr Kleid und hatte sich – leider ein wenig zu spät – nach dem oberen Treppenabsatz umgeschaut. Caspar hatte seine Schwiegermutter trotzig angestarrt, als wollte er zu einer Erwiderung ansetzen, doch nach einem Moment, in dem man die Luft hätte schneiden können, war er in sein Arbeitszimmer gestürmt und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.
»Danke, dass du mich dran erinnerst, Mutter«, hatte Juliet steif erwidert, aber ohne erkennbaren Sarkasmus, um dann in Richtung Küche zu gehen. Dort hatte sie das Essen fertig gemacht und Duncan den Tisch decken lassen, alles ohne ein überflüssiges Wort. Den Kopf erhoben, den Rücken so steif, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt, schien sie vor unterdrückter Anspannung und Wut regelrecht zu vibrieren.
Gemma hätte sie gerne in den Arm genommen oder ihr ein paar aufmunternde Worte gesagt, aber sie wusste einfach nicht, wie sie sich dieser Frau nähern sollte, die sie noch kaum kannte – oder ob ihr Mitgefühl überhaupt willkommen wäre.
Als das Essen fertig war, rief Rosemary die Kinder, während Hugh sich taktvoll bereit erklärte, Caspar zu holen. Juliets Mann war erst aufgetaucht, nachdem alle anderen sich schon zu Tisch gesetzt hatten, und hatte seinen Platz am Kopfende mit dem Gebaren eines bockigen Kindes eingenommen. In seinem Essen hatte er nur herumgestochert, dafür aber reichlich Punsch in sich hineingeschüttet – eine Kombination, die in Gemmas Augen kaum geeignet war, die Situation zu entschärfen.
Das Essen – eine Schinkenplatte, gefüllte Truthahnbrust und eine Auswahl wunderbarer Salatkompositionen – war köstlich, aber nach der Begeisterung zu urteilen, mit der die Runde es sich einverleibte, hätte es ebenso gut Sägemehl sein können. Sogar die Kinder waren merkwürdig still, und Gemma fragte sich, ob Lally ihnen wohl erzählt hatte, was sie im Treppenhaus gehört hatte.
Duncan und seine Eltern mühten sich wacker, das Gespräch in Gang zu halten, doch nachdem auch der letzte Versuch, Caspar und Juliet einzubeziehen, gescheitert war, verfiel Hugh darauf, ihnen in aller Ausführlichkeit zu schildern, wie er an die seltene Ausgabe von Dickens’ Weihnachtserzählungen gekommen war.
Sobald der Anstand es zuließ, das Abendessen für beendet zu erklären, hatte Caspar sich wieder in sein Zimmer verkrochen, und Lally hatte gefragt, ob sie mit Kit vorausgehen dürfe, um für die ganze Familie Plätze in der Kirche zu reservieren. Juliet war einverstanden, und zu Gemmas Überraschung schien Sam nichts dagegen zu haben, mit Toby zurückzubleiben. Duncan hatte sich erboten, seiner Mutter und seiner Schwester beim Abwasch zu helfen, und sogleich voller Tatendrang die Ärmel hochgekrempelt.
Jetzt nahm Hugh Gemmas Arm und steuerte sie nicht etwa zum Wagen, sondern zu dem dunklen Pfad, der vom Tor wegführte.
Gemma ließ sich widerstrebend von ihm führen. »Ist das auch …? Ich meine, bist du sicher, dass das nicht gefährlich ist?«
»Gefährlich?« Hugh blickte überrascht auf sie herab. »Na ja, könnte sein, dass uns ein bisschen was von diesem weißen Zeug da in den Kragen rieselt, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass wir überfallen und ausgeraubt werden, wenn du das meinst.« Er lächelte. »Wir sind hier schließlich in Nantwich und nicht in London, und die North Crofts ist eine ruhige Straße in einer sehr respektablen Wohngegend.«
»Straße?«, wiederholte Gemma verwundert, nachdem sie sich ein wenig umgesehen hatte. Der schmale Weg, nur für Fußgänger zugänglich, war auf der rechten Seite durch einen Zaun begrenzt; die Häuser zur Linken standen etwas zurückgesetzt hinter kleinen, schmalen, mit Mauern eingefassten Gärten. Hier und da war in einem Fenster Licht zu sehen; ansonsten schien alles menschenleer wie eine Mondlandschaft. »Nur mit dem Einkaufen ist es hier wahrscheinlich ein bisschen schwierig«, meinte sie, und ihre Stimme klang in der verschneiten Stille seltsam gedämpft.
Hugh kicherte. »Da hört man die waschechte Londonerin heraus. Aber hinter den Häusern verläuft eine Gasse, über die man sowohl die North Crofts als auch die South Crofts erreicht. Die Häuser in der South Crofts haben sehr schöne viktorianische Dekorationen – Buntglasfenster und Mosaikfliesen.«
Nach kurzer Zeit machte der Weg eine Biegung nach links – der äußerste Punkt des Hufeisens, das von den beiden Straßen geformt wurde, wie Hugh erklärte. Tatsächlich kamen sie gleich darauf an der Einmündung der Gasse vorbei, von der er gesprochen hatte. Wieder lenkte Hugh sie mit sanftem Druck in eine andere Richtung, diesmal auf den Eingang eines dunklen Tunnels zu, dessen Dach aus dichtem Laubwerk gebildet wurde. Hier war die Schneedecke dünner, aber die Fußspuren waren in der feinen Pulverschicht unschwer zu erkennen.
»Ein Abkürzung für Fußgänger«, erklärte er. »Verbindet die Crofts mit der Stadtmitte. Die Kinder sind sicher auch diesen Weg gegangen.«
Gemma duckte sich und zog den Mantelkragen hoch, als ein Klumpen Schnee von den überhängenden Zweigen fiel. »Jetzt kommen wir in die Monk’s Lane«, erklärte Hugh, als sie aus dem Tunnel heraustraten. »Hier stehen einige sehr schöne georgianische Häuser.« Gemma blickte in die Richtung, in die Hugh deutete, aber wiederum war ihr die Sicht durch eine Mauer verstellt. Mauern, Tunnel, Geheimnisse und dann diese Totenstille, die alles umfing – Gemma war sich nicht so sicher, ob sie diesen Ort wirklich mochte.
»Caspars Büro ist da drüben«, sagte Hugh, als sie das Ende der Straße erreichten. Sein Ton ließ darauf schließen, dass Caspar seiner Meinung nach nicht einmal ein Büro in einem Hühnerstall verdient hätte, geschweige denn in einem prächtigen georgianischen Stadthaus. »Und da links um die Ecke ist das Bowling Green – das Pub, in dem Caspar, wie ich vermute, auf dem Heimweg Station gemacht hat.«
»Macht er das regelmäßig?«, fragte Gemma.
»Ich weiß es nicht. Ich bekomme normalerweise nicht mit, was Caspar so treibt. Obwohl unsere Arbeitsplätze nur einen Katzensprung voneinander entfernt sind, kriege ich ihn kaum je zu Gesicht, außer bei Familientreffen.« Nach einer Pause fuhr er etwas bedächtiger fort: »Mir war nicht klar, wie schlimm es inzwischen um die beiden steht. Juliet redet mit uns nicht darüber – jedenfalls nicht mit mir.«
Gemma erinnerte sich, dass sie selbst ihren Eltern nichts von ihren Problemen mit Rob erzählt hatte, bis sie die Scheidung eingereicht hatte – sie hatte es als zu demütigend empfunden, ihren Eltern zu gestehen, dass ihre Ehe gescheitert war. Sie überlegte, ob sie Hugh das alles erzählen sollte, bezweifelte aber, dass er es als Trost empfunden hätte.
Hugh blieb stehen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, und blickte zu der dunklen Silhouette der Kirche auf, die jetzt wie eine Festung vor ihnen aufragte. Selbst in dem trüben Licht konnte Gemma erkennen, wie abgespannt sein Gesicht aussah. »Ich hätte vorhin eingreifen müssen. Sie ist schließlich meine Tochter. Er hat sie praktisch eine Hure genannt.«
»Du konntest ja nicht wissen, was er sagen würde.«
»Nein. Aber ich hätte mich hinterher einschalten können, anstatt alles Rosemary zu überlassen«, wandte Hugh ein. »Rosemary muss nicht erst darüber nachdenken, was zu tun ist, sie tut es einfach.«
Gemma wusste aus eigener Erfahrung, welche fatalen Folgen es haben konnte, wenn man handelte, ohne nachzudenken, und sie hatte Duncan nachgeeifert, indem sie ihre angeborene Impulsivität ein wenig zu zügeln versucht hatte. Seltsam, dass sein Vater ausgerechnet eine der Eigenschaften, die sie an seinem Sohn immer bewundert hatte, an sich selbst kritisierte.
»Duncan und ich haben auch nur zugesehen«, sagte sie. »So ein Ehekrach eskaliert eben manchmal schneller, als man denkt.«
»Du hast natürlich recht«, sagte Hugh, doch Gemma spürte, dass er ihr nur aus Höflichkeit beipflichtete. »Arme Gemma«, fügte er hinzu und fasste sie am Ellbogen, um sie weiterzuziehen. »Da töne ich groß, dass ich den schlechten ersten Eindruck wiedergutmachen will, und was tue ich – ich wasche vor dir unsere schmutzige Wäsche. Muss an Rosemarys berüchtigtem Punsch liegen. Oder vielleicht hast du einfach ein Talent, die Leute zum Reden zu bringen.«
»Eine Kombination von beidem, vermute ich«, erwiderte Gemma lächelnd. Er mochte zwar zu tief in die Punschschüssel geschaut haben, aber seine Schritte waren sicherer als ihre, und er sah die Dinge sehr klar.
Sie passierten die Kirche und dann einen schneebedeckten Platz, offenbar eine Grünfläche. Am Ende dieses Platzes kreuzte die Straße, auf der sie gingen, eine andere, und hier blieb Gemma stehen, den Mund zu einem stummen »Oh« des Staunens und Entzückens geöffnet. Das war es, was Duncan beschrieben, was sie in ihrer Fantasie gesehen hatte. Bunt zusammengewürfelte Häuserreihen, schwarz-weißes Fachwerk neben rotem Cheshire-Backstein, Pfefferkuchenhaus-Giebel und Bleiglasfenster, die ihr wie freundliche Augen zuzwinkerten.
Ein Schild verriet ihr, dass sie sich in der High Street befanden, doch auch so hätte sie instinktiv gewusst, dass hier das Herz der Stadt war. Die Geschäfte waren nicht weiter bemerkenswert – Filialen von Buchhandels- und Drogerieketten, ein Zeitungsladen -, aber sie waren so dezent in den unteren Stockwerken der im ursprünglichen Zustand erhaltenen Tudor-Häuser untergebracht, dass sie ein Teil der Magie dieses Ortes wurden.
Viele der Gebäude waren im Lauf der Jahrhunderte ein wenig abgesackt, sodass das Fachwerk sich leicht verschoben hatte, was den Ornamenten in den Gefachen eine schräge, irgendwie expressionistische Note verlieh. Die Dächer waren mit einem Zuckerguss aus Schnee verziert, die bunten Lichter funkelten, dick eingemummte Passanten eilten über die Gehsteige, und von irgendwoher drangen leise weihnachtliche Melodien in ihr Ohr. Gemma musste laut lachen. »Das ist perfekt. Einfach nur perfekt. Eine lebende Weihnachtskarten-Idylle!«
»Ja, es ist wirklich ganz nett«, bestätigte Hugh, und der Stolz in seiner Stimme spiegelte ihre Begeisterung. »Das ist das Crown Hotel.« Er deutete auf einen besonders eindrucksvollen Fachwerkbau. »Erbaut 1585, nach der großen Feuersbrunst. Es ist berühmt für seine durchgehenden Fenster im Obergeschoss. Und da lang geht’s zur Pillory Street und zum Buchladen.« Er trieb sie weiter, und kurz darauf drückte sie schon die Nase an ein Schaufenster in einer architektonisch nicht ganz so bemerkenswerten Ladenfront. Im schwachen Schein der Innenbeleuchtung konnte sie Reihen von einladend präsentierten Büchern ausmachen.
»Du magst doch Bücher?«, fragte Hugh unvermittelt und runzelte die Stirn.
»Doch, doch«, antwortete Gemma lachend. »Aber ich bin nicht damit aufgewachsen, also habe ich nicht so furchtbar viel gelesen. Anders als Duncan. Und mit meinem Job und den Kindern …«
»Ich hatte schon befürchtet, dass ich dich vielleicht gelangweilt habe mit meinem Sermon beim Abendessen.«
»Überhaupt nicht. Wirst du ihn behalten – den Dickens?«
»Es ist verlockend«, gab Hugh mit einem Seufzer zu. »Aber er ist sehr wertvoll, und es sind solche Fundstücke, die einem helfen, die Rechnungen zu bezahlen. Außerdem geht es doch mehr um den Fund an sich – den Reiz der Entdeckung.«
Gemma dachte an den Moment der Erleuchtung, wenn die Puzzleteilchen eines Falls sich zusammenfügten, und sie konnte sich vorstellen, dass der Augenblick, in dem einem klar wurde, dass man ein ganz besonderes Buch in Händen hielt, etwas Ähnliches war. »Das kann ich verstehen.«
Hugh musterte sie nachdenklich. »Ja, ich glaube, das kannst du. Für Duncan und Juliet sind Bücher eine Selbstverständlichkeit. Sie haben von Kindesbeinen an damit gelebt. Aber meine Eltern hatten bloß einen Zeitungsladen in einer schottischen Kleinstadt, und die aufregendsten Druckwerke, die ich – von den Zeitungen abgesehen – zu Gesicht bekam, waren Comics und das eine oder andere Groschenheft. Aber ich war ein guter Schüler und durfte aufs Gymnasium. Mein Englischlehrer hat mein Interesse an Büchern gefördert, und ich habe nie vergessen, was das für ein Gefühl war, als ich entdeckte, wie viele Welten nur darauf warteten, von mir entdeckt zu werden, mehr Welten, als ich im Leben je erforschen könnte …« Er brach ab und sah ein wenig verlegen drein. »Oje, jetzt bin ich schon wieder ins Schwärmen geraten. Eine schlechte Angewohnheit – aber ich habe auch selten eine so geduldige Zuhörerin. Und wenn ich so weitermache, kommen wir noch zu spät«, fügte er mit einem Blick auf seine Uhr hinzu. »Es ist schon fast elf. Wir sollten lieber umkehren. Ich zeig dir den Laden morgen, falls die Zeit es erlaubt, oder übermorgen.«
Sie waren beide still, als sie zur High Street zurückgingen, aber jetzt empfand Gemma das Schweigen als angenehm. Sie hatte unerwartete Gemeinsamkeiten mit Hugh entdeckt.
Der Marktplatz begann sich mit Menschen zu füllen – Gemma nahm an, dass sie alle zur Mitternachtsmesse in St. Mary’s gekommen waren. Hugh wollte sie gerade über die High Street führen, als sie aus dem Augenwinkel ein Licht aufflackern sah. Es war aus der Richtung des Crown Hotel gekommen – vielleicht ein Streichholz oder ein Feuerzeug, dachte sie, während sie sich umdrehte. Einen Moment lang waren die Silhouetten von zwei – nein, drei – Gestalten in einem Torbogen neben dem Hoteleingang zu erkennen. Teenager, da war Gemma sich ziemlich sicher, nach ihren schlaksigen Figuren und ihrer provozierend lässigen Haltung zu urteilen. Und irgendwie hatte es auch etwas Verstohlenes gehabt, dachte sie, wie die drei in dem Torbogen – anscheinend handelte es sich um die ehemalige Kutscheneinfahrt – verschwunden waren. Oder lag es nur daran, dass sie vergessen hatte, ihren Beruf in London zu lassen?
Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich ab – es ging sie schließlich nichts an, was die Jugendlichen hier trieben -, aber dann hielt sie inne und sah noch einmal hin. Das Mädchen – ja, sie war sich sicher, dass eine der drei Gestalten ein Mädchen gewesen war – hatte dunkle Haare gehabt, der Junge, den sie am deutlichsten gesehen hatte, war blond. Lally und Kit? Aber sie waren in der Kirche, sagte sie sich, und der Junge war zu groß und zu dünn gewesen. Und Kit hätte auch niemals geraucht – er hasste es wie die Pest. Ihre Fantasie ging wohl wieder mal mit ihr durch.
»Gemma?« Hughs warme Stimme ertönte neben ihr. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja.« Sie nahm den Arm, den er ihr anbot, und blickte lächelnd zu ihm auf. »Alles in Ordnung.«
 
Der Geruch nach altem Weihrauch, wurmstichigem Holz und feuchtem Stein bestürmte Duncan Kincaid mit der Wucht eines Orkans, als er seiner Familie durch das Portal in die Vorhalle von St. Mary’s folgte. Diese Flut von Erinnerungen, ausgelöst durch einen bestimmten Geruch, überwältigte ihn jedes Mal, wenn er eine Kirche betrat, aber am intensivsten war sie immer in St. Mary’s.
Hier hatte er viele Stunden seiner Kindheit zugebracht – in der Kathedrale von South Cheshire, wie sie oft genannt wurde. In Wirklichkeit war es nur eine Stadtkirche, doch sie zählte zu den schönsten in ganz England, erbaut in den Dimensionen einer Kathedrale von denselben Steinmetzen, die am Münster von York gearbeitet hatten, und später vollendet von den Männern, die die Kathedralen von Gloucester und Lichfield gebaut hatten.
Der Innenraum war gewaltig, aber ihm kam er anheimelnd, fast gemütlich vor. Wenn er die Augen schloss, konnten seine Füße die ausgetretenen Stellen in den Steinfliesen finden, seine Fingerspitzen die Kerben und Rillen, die gelangweilte Kinder in die Rückseiten der Bänke geritzt hatten. Hier war er zur Messe gegangen, hier war er getauft und konfirmiert worden.
Sein Vater, der schon früh gegen seine schottisch-presbyterianische Erziehung rebelliert hatte und sich als »intellektuellen Agnostiker« bezeichnete – oder war es »agnostischer Intellektueller«? -, war immer dagegen gewesen. Doch seine Mutter hatte auf dem Standpunkt beharrt, dass der Mensch nun einmal ein Bedürfnis nach festen Strukturen habe, nach Disziplin und Ritualen, nach dem Gefühl des Aufgehobenseins in einer Gemeinschaft, das die Kirche biete, nach etwas, das die Grenzen des Individuums überstieg. Seine Mutter hatte wie üblich den Sieg davongetragen, doch es war eines jener Themen, die in Duncans Kindheit im Haus und im Buchladen immer wieder lebhaft diskutiert worden waren.
In der Vorhalle, wo sich die Schar der Kirchgänger vor dem Durchgang zum Hauptschiff staute, roch es nach Schweiß und nasser Wolle. Vor sich konnte Kincaid seine Eltern sehen, dann erspähte er Juliets dunklen Kopf in der Menge. Er wusste, dass Sam, obwohl er ihn im Moment nicht sehen konnte, an der Hand seiner Mutter hing. Ein wenig überrascht hatte Kincaid zur Kenntnis genommen, dass Caspar sich ihnen angeschlossen hatte, als sie zum Kirchgang aufgebrochen waren, doch jetzt schien er im Gedränge untergetaucht zu sein.
Kincaid hatte die Fingerspitzen auf Gemmas Schulter gelegt, um zu verhindern, dass sie getrennt wurden, und Toby, dessen Aussicht auf Mantelschöße und Handtaschen beschränkt war, stupste ihm gegen das Bein wie ein frustriertes Kälbchen.
»Wo ist Kit?«, fragte Toby und zupfte an Kincaids Hosenbein. Seine Stimme klang schon bedenklich quengelig. »Ich will zu Kit.«
Die normale Schlafenszeit des Fünfjährigen war längst vorbei, und sie würden von Glück sagen können, wenn sie den Gottesdienst ohne eine Heuleinlage hinter sich brachten. Kincaid bückte sich und hievte den Jungen auf seine Hüfte, eine schwerere Übung als noch vor ein paar Monaten. »Wir halten beide Ausschau nach ihm«, schlug er vor, »und wenn du ihn zuerst siehst, kriegst du von mir ein Pfund für den Klingelbeutel. Abgemacht?«
»Abgemacht«, stimmte Toby zu, der jetzt schon viel zufriedener wirkte.
In diesem Augenblick setzte der Organist mit einem Bach-Präludium ein, und der mächtige Ton erfüllte den hohen Raum wie ein Donnergrollen, das durch Mark und Bein drang. Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte Kincaid, und er fasste Gemmas Schulter ein wenig fester. Sie blickte sich überrascht zu ihm um, und er sah seine Freude in ihrer Miene gespiegelt.
»Der Organist war immer schon gut«, sagte er voller Lokalstolz.
Doch Gemmas Aufmerksamkeit war schon von etwas anderem gefesselt. »Die Fenster sind wunderschön«, sagte sie, den Blick gebannt nach oben gerichtet. »Aber das da« – sie zeigte darauf -, »das ist doch modern, oder?«
Kincaid sah in die Richtung, in die ihr Finger deutete. »Ah. Das ist das Bourne-Fenster. Mir persönlich gefällt es am besten von allen, obwohl es erst eingebaut wurde, nachdem ich schon weg war. Es erinnert an einen hiesigen Bauern namens Albert Bourne und stellt die Vielfalt der Schöpfung dar.« Er deutete auf die einzelnen Elemente, während er sie erklärte. »Siehst du die Hand Gottes dort ganz oben im Bogen? Und darunter sind die kreisenden Sterne und Planeten des Universums, dann die Vögel des Himmels und die Geschöpfe des Meeres und darunter die wilden Tiere und Pflanzen der Erde.« Seine Hand hatte das untere Drittel des Fensters erreicht. »Aber jetzt kommt die Überraschung. Der Künstler geht vom Allgemeinen zum Besonderen über. Das da sind die sanften Hügel von Cheshire. Und das da in der Mitte ist ein typisches Cheshire-Backsteinhaus. Dann kommen die Tiere des Hofes, des Feldes und des Waldes – und da rechts, das ist das Allerbeste.«
Gemma suchte eine Weile und lachte dann überrascht auf, als sie sah, was er meinte. »Da ist ein Mann, der mit seinem Spaniel über die Felder geht.«
»Bourne höchstpersönlich. Kein Mann könnte sich ein passenderes Denkmal wünschen – und natürlich auch keine Frau«, fügte er hastig hinzu, als er ihren vorwurfsvollen Blick sah. »Aber der Hund ist kein Cocker wie Geordie, sondern ein Springerspaniel, glaube ich.«
»Da ist Kit!«, rief Toby, der von seinem Ausguck aus über die Köpfe der langsam vorrückenden Menge gespäht hatte. »Und Lally.«
Die beiden Teenager saßen nicht vorne, wie Kincaid erwartet hatte, sondern ungefähr in der Mitte des Kirchenschiffs nahe dem Seitengang. Zwischen ihnen war eine Lücke von gut einem Meter, und als Kincaid näher kam, sah er, dass sie die Plätze mit Mänteln, Mützen und Handschuhen belegt hatten.
»Mehr war nicht drin«, sagte Lally zu ihrer Mutter, als die Gruppe die Bank erreicht hatte. »Die Kirche war schon fast voll, als wir kamen. Und die Leute gucken uns schon ganz komisch an.«
»Das macht doch nichts«, versicherte Juliet ihr. »Jetzt sind wir ja da. Dann müssen wir halt ein bisschen enger zusammenrücken.«
»Wo ist denn Papa?«, fragte Lally, während Kit aufstand, um für sie Platz zu machen.
»Ach, der muss hier irgendwo sein«, antwortete Juliet beiläufig, als ob es sich nur um einen verlegten Handschuh handelte, doch Kincaid glaubte nicht, dass sie damit irgendjemanden täuschen konnte, schon gar nicht Lally.
»Ich will neben ihm sitzen.«
»Tja, vorläufig musst du leider mit mir vorliebnehmen«, gab Juliet gereizt zurück. Ihre mühsam gewahrte Fassade der Normalität bröckelte offenbar schon. »Du ziehst jetzt nicht los, um ihn zu suchen. Die Messe fängt jeden Moment an.«
Jeder weitere Wortwechsel wurde unterbunden, als das Orgelspiel nun abbrach und die Gemeinde verstummte. Während die Familie sich in die Lücke zwängte, die eigentlich nur für die Hälfte der Personen Platz bot – Kincaid mit dem Arm um Gemmas Schultern und Toby auf dem Schoß -, begann die Prozessionshymne.
Kincaid stellte fest, dass ihm die Abfolge von Lesungen und Liedern noch so vertraut war wie eh und je. Er war zu Hause, und nichts hatte sich verändert – oder wenn, dann zum Besseren. Er war jetzt mit seiner eigenen Familie hier, mit Gemma und den Jungen, und es schien ihm, dass die Bruchstücke seines Lebens sich endlich zu einem Ganzen fügten.
Wie um seine Gedanken zu unterstreichen, stimmte der Chor nun »O Holy Night« an, eines seiner liebsten Weihnachtslieder, und die ganze Gemeinde fiel ein. Hinter ihm sang eine Frau mit einem klaren Alt – keine ausgebildete Stimme, aber kräftig und sicher, mit einem glockenreinen Klang, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Seine Neugier trug bald den Sieg über seine guten Manieren davon, und er drehte den Kopf, bis er die Sängerin sehen konnte. Sie war hoch gewachsen, mit kurzem, ergrauendem blondem Haar. Tiefe Sorgenfalten zeichneten ihr ausdrucksvolles, schmales Gesicht. Er schätzte, dass sie kaum älter war als er selbst, und sie schien zu keiner der Familien um sie herum zu gehören.
Als sie seinen Blick bemerkte, wurde die Stimme der Frau unsicher, und schließlich brach sie ganz ab, den Blick starr auf Kincaid gerichtet.
Peinlich berührt durch den alarmierten Ausdruck in ihren Augen, nickte Kincaid nur und schenkte ihr ein – wie er hoffte – beruhigendes Lächeln, eher er sich wieder umdrehte und in den Gesang einfiel. Nach einer Weile begann auch sie wieder zu singen, zögernd zunächst, dann aber immer sicherer, als ob die Musik sie trüge. Während des ganzen restlichen Gottesdienstes lauschte er auf ihren Gesang, wagte es aber nicht mehr, sich umzudrehen. Es war ihm, als hätte er ein scheues Tier in seinem Versteck aufgestört, das man nicht erschrecken durfte.
Nur eines trübte seinen Genuss an der Messe. Das letzte Lied war »Away in a Manger«, ein Stück, das er ohnehin noch nie gemocht hatte. Er fand den Text kitschig, die Melodie unmöglich, und an diesem speziellen Abend beschwor das Lied über das »Kind in der Krippe« ein Bild herauf, das er vergeblich zu verdrängen suchte. Er blickte sich zu Juliet um und sah sie mit zusammengekniffenen Lippen dastehen, die Miene angespannt, die Hände krampfhaft um die Rückenlehne der Vorderbank geklammert. Sie hatte also auch an jenes andere Kind in der Krippe gedacht, das so gar keinen Anlass zum Feiern darstellte.
Dann begann der Schlusschoral, und nachdem der Chor die Kirche verlassen hatte, reihten sie sich in die Schlange derer ein, die noch den Pfarrer begrüßen und ihm ein frohes Fest wünschen wollten. Kincaid entdeckte Caspar Newcombe, der etwas abseits stand, Hände schüttelte und mit anderen Besuchern plauderte, wobei er seine eigene Familie völlig ignorierte. Neben ihm stand ein kräftiger, gut aussehender Mann, dessen elegant geschnittener Anzug nicht ganz darüber hinwegtäuschen konnte, dass er ein paar Kilo zu viel mit sich herumtrug. Seine attraktiven Züge und sein welliges blondes Haar ließen Kincaid an einen Filmstar denken – aus den alten Kintoppzeiten, als die Schauspieler noch wie Männer und nicht wie androgyne Jünglinge ausgesehen hatten. Auch er schüttelte eifrig Hände, aber im Gegensatz zu Caspar war er dabei nicht allein. Neben ihm stand ein hoch aufgeschossener Junge, dessen gelangweiltes Gesicht unverkennbar die Züge des Mannes an seiner Seite trug und dessen blondes Haar sich vielleicht ebenfalls gewellt hätte, wäre es nicht kurz geschnitten gewesen.
»Wer ist denn der Typ da bei Caspar?«, flüsterte er seiner Mutter zu, die neben ihm in der Schlange stand.
Rosemary sah ihn überrascht an. »Das ist doch Piers Dutton, Caspars Partner. Ich wusste gar nicht, dass du ihn noch nicht kennst. Und das da ist sein Sohn Leo. Er ist ein Klassenkamerad von Lally.«
Das war also der Partner, um den es bei Caspars Streit mit Juliet unter anderem gegangen war. Auf den ersten Blick hätte Kincaid sich kaum einen Mann vorstellen können, der seine Schwester weniger interessiert hätte – aber andererseits hätte er das bei Caspar auch nicht unbedingt gedacht.
»Caspar und Piers lassen keine Gelegenheit aus, ihre Beziehungen aufzufrischen«, sagte seine Mutter. Obwohl sie leise sprach, war der bissige Ton unüberhörbar. »Die Mitglieder des Kirchenvorstands gehören zu ihren besten Kunden.«
»Irgendwie überrascht mich das n…«
Kincaid blickte sich um, als ihn jemand leicht von der Seite anrempelte und eine gemurmelte Entschuldigung folgen ließ. Eine Frau hatte sich an ihm vorbeigeschoben, um aus der Schlange auszubrechen und direkt den Ausgang anzusteuern. Obwohl sie den Kopf gesenkt hielt und jeden Blickkontakt mit den Umstehenden mied, erkannte er die etwas zerzauste blonde Kurzhaarfrisur und die schlanke Figur. Überrascht registrierte er, wie sportlich ihre Bewegungen wirkten.
Es war die Frau aus der Reihe hinter ihnen, die so schön gesungen hatte, und sie ging, wie sie gekommen war – allein.