7
Die Newcombes waren alle vier gemeinsam von der
Kirche nach Hause gegangen. Sam und Lally marschierten mit ihrem
Vater voran, während Juliet die Nachhut bildete. Jeder, der sie
sah, musste sie für eine richtige Familie halten, dachte Juliet –
die Kinder ganz zappelig vor Kälte und Aufregung, der Vater
fürsorglich, die Mutter erschöpft von ihren
Weihnachtsvorbereitungen.
Doch als sie zu Hause angekommen waren, war Caspar
sogleich wortlos in seinem Arbeitszimmer verschwunden, und Juliet
war mit den Kindern nach oben gegangen. Als Sam und Lally beide in
ihren Betten lagen, gab sie ihnen noch einen Gutenachtkuss und ging
dann in ihr Schlafzimmer, wo sie sorgfältig und mit Bedacht den
Schlüssel im Schloss umdrehte.
Schwer atmend lehnte sie sich gegen die Tür. Ihre
Hände zitterten, und das Blut pochte in ihren Schläfen. Es war
vorbei. Ihre Ehe war am Ende. Sie konnte es nicht länger leugnen.
Sie hatte sich lange mit seinem Sarkasmus arrangiert, mit den
verhüllten Anschuldigungen, dem Spott; sie hatte nicht wahrhaben
wollen, wie weit der Zerfall schon fortgeschritten war.
Aber heute Abend war Caspar zu weit gegangen. Die
Dinge, die er ihr an den Kopf geworfen hatte, die Art und Weise,
wie er sie vor ihrer Familie gedemütigt hatte, das alles war
unverzeihlich. Es gab kein Zurück.
Doch wie würde sie zurechtkommen, wenn sie ihn
verließ?
Was konnte sie tun? Sie hatte praktisch keinerlei Einkünfte – es
gelang ihr ja kaum, ihren neu gegründeten Betrieb aus den roten
Zahlen herauszuhalten, obwohl sie sich selbst nur einen Hungerlohn
zugestand. Natürlich könnte sie den vernünftigen Weg wählen. Sie
könnte das Geschäft aufgeben und sich einen normalen, anständigen
Bürojob suchen, der ihr ein regelmäßiges Gehalt garantierte.
Aber sie liebte nun einmal ihre Arbeit auf dem Bau,
liebte sie mit einer Leidenschaft, die sie selbst überraschte –
selbst die Tage, an denen sie von früh bis spät in brütender Hitze
oder im eisigen Regen schuftete, an denen sie abends so erschöpft
nach Hause kam, dass sie über dem Abendessen einschlief. Sie hatte
ein Gespür für das, was man aus einem Haus oder einer Wohnung
machen konnte, und ein Talent, aus Ziegeln und Steinen etwas
Lebendiges zu schaffen.
Nein, sie würde es nicht aufgeben; sie würde nicht
zulassen, dass Caspar ihr auch das noch wegnahm – nicht, wenn sie
es irgendwie verhindern könnte. Und was dann? Sollte sie ihre
Eltern um Hilfe bitten? Es war schlimm genug, zugeben zu müssen,
dass ihre Ehe gescheitert war; da musste sie die beiden nicht auch
noch um Geld anbetteln.
Sicher, sie würde nicht ganz mittellos dastehen.
Caspar würde ihr Unterhalt zahlen müssen. Aber sie kannte ihn; sie
wusste, dass er seine Beziehungen spielen lassen würde, um den
besten Anwalt zu finden. Er würde seine finanzielle Situation so
geschickt hindrehen, dass sein Vermögen möglichst gering erschien.
Und Piers würde ihm dabei helfen, ohne Rücksicht auf die Folgen für
die Kinder.
Und die Kinder – lieber Gott, wie sollte sie ihren
Kindern beibringen, dass sie vorhatte, ihren Vater zu verlassen?
Lally würde ihr niemals verzeihen. Und Sam – was würde es mit Sam
anrichten, der hinter der Fassade seines unaufhörlichen Geplappers
doch so verletzlich war?
Aber ihr war auch klar, dass sie sich etwas
vorgemacht hatte, wenn sie geglaubt hatte, die Kinder wüssten
nicht, was los war. Hätte sie nicht schon längst merken müssen, wie
Caspar die beiden gegen sie aufbrachte, jeden Tag aufs Neue, mit
tausend kleinen, hinterhältigen Tricks? Und er war noch zu weit
Schlimmerem fähig.
Sie musste nachdenken. Sie musste sich eine
Strategie zurechtlegen, die sie selbst und die Kinder schützte.
Innerlich gewappnet schloss sie die Tür auf, schaltete das Licht
aus und legte sich ins Bett. Ihr ganzer Körper war angespannt wie
eine Sprungfeder. Aber die Schritte auf der Treppe und das Klicken
des Türknaufs blieben aus.
Langsam holten die aufreibenden Ereignisse des
Tages sie ein. Unter der Decke war es schön warm, und gegen ihren
Willen wurden ihre Lider schwer und schwerer. Bald driftete sie in
einen unruhigen Halbschlaf, und als der Traum begann, wusste sie,
dass es nur ein Traum war.
Sie hielt ein Baby in den Armen … Sam … nein, Lally
… Sie erkannte die rosa Decke mit den hüpfenden weißen Schafen. Das
Kind regte sich in ihren Armen … Sie spürte seine Wärme an ihrer
Brust … Und dann, als sie nach unten sah, löste das winzige rosa
Gesicht sich vor ihren Augen auf, die Knochen blitzten unter der
Haut auf, die Augen versanken in ihren tiefen Höhlen wie in einem
gähnenden Abgrund …
Mit einem unterdrückten Schrei schreckte Juliet aus
dem Schlaf hoch und setzte sich auf, keuchend und nach Luft
ringend. Es war ein Traum, nur ein Traum, ausgelöst durch das arme
Kind, das sie gefunden hatte. Sam und Lally waren in Sicherheit.
»Nur ein Traum«, flüsterte sie, während sie sich wieder unter der
Decke verkroch. »Nur ein Traum.«
Aber als ihr Herzschlag sich wieder beruhigte,
begannen ihre Sinne die typischen Geräusche des Hauses zu
registrieren, die das Morgengrauen ankündigten. Sie hatte länger
geschlafen,
als sie gedacht hatte, und die Nacht war fast vorüber. Caspar war
überhaupt nicht ins Bett gekommen.
Eine Woge hilfloser Wut überkam sie, so heftig,
dass ihr fast übel wurde. Zitternd und schweißgebadet lag sie da.
Er hatte von Anfang an nicht vorgehabt, heraufzukommen – nach
allem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, ging er ihr nun
einfach aus dem Weg. Das war seine Art, sie zu bestrafen und dabei
die Oberhand zu behalten.
Jetzt würde sie am Morgen aufstehen und nach unten
gehen müssen, um mit den Kindern Weihnachten zu feiern, als wäre
nichts geschehen, und er würde sich ins Fäustchen lachen und seinen
miesen kleinen Triumph genießen.
Und da schoss ihr plötzlich ein neuer Gedanke durch
den Kopf. War er ihr etwa schon einen Schritt voraus? Schmiedete er
bereits Pläne und rechnete sich aus, wie er ihr am meisten schaden
könnte? Und die Kinder – war es nicht äußerst verdächtig gewesen,
wie er sich den ganzen Abend über bei Sam und Lally
eingeschmeichelt, wie er sie beschwatzt und mit Komplimenten
überhäuft hatte?
Die Kinder. Sie klammerte sich ans Bett, als ob ein
Erdbeben das Haus in den Grundfesten erschütterte. Was, wenn er
plante, ihr die Kinder wegzunehmen?
Der Weihnachtsmorgen zog kalt und klar herauf, und
eine dünne, glitzernde Eisschicht überzog den Schnee vom Vortag wie
Zuckerguss. Allein Ronnie Babcock konnte die Schönheit des jungen
Tages nicht so recht würdigen; stattdessen erinnerte ihn die weiße
Pracht nur daran, dass er seine Sonnenbrille aus der Schublade
kramen musste, wenn er nicht permanent mit zusammengekniffenen
Augen herumlaufen wollte. Die Zentralheizung hatte sich über Nacht
nicht auf wundersame Weise selbst repariert, und nachdem er unter
sämtlichen Decken und Federbetten, die er hatte finden können,
geschlafen
hatte, war er mit der Unerschrockenheit eines Arktisforschers aus
dem Bett gesprungen, hatte gebadet (zum Glück gab es ja noch den
Boiler) und sich mit gefährlicher Hast rasiert. Der Lohn für seine
Tapferkeit war ein blutender Schnitt am Kinn. Prächtig, wirklich
prächtig.
Und das ausgerechnet heute, wo er doch vor seinem
Termin mit Dr. Elsworthy im Leighton Hospital noch den
Pflichtbesuch bei seiner Großtante Margaret hinter sich bringen
musste.
Margaret war die Schwester seiner Großmutter
mütterlicherseits und das einzige Mitglied seiner Familie, mit dem
er noch Kontakt hielt. Und es gab auch sonst niemanden, der sich um
sie kümmerte. Sie hatte keine Kinder, war nie verheiratet gewesen
und hatte als berufstätige Frau ihre Unabhängigkeit stets mit
Zähnen und Klauen verteidigt. Ihr war es im Gegensatz zu ihrer
Schwester und Babcocks Mutter gelungen, sich aus den einfachen
Verhältnissen, in die sie hineingeboren worden war, hochzuarbeiten.
Ronnie hatte sie schon als Kind bewundert, wenngleich er nicht
behaupten konnte, dass er sie wirklich gut kannte. Großtante
Margaret hatte nie sehr viel mit Kindern anfangen können, und erst
in den letzten Jahren – nach dem Tod seiner Mutter – hatte er eine
engere Beziehung zu ihr aufgebaut.
Unter Verzicht auf seine gewohnte Koffeindosis – es
war so kalt in der Küche, dass er erfroren wäre, ehe der Kaffee
durchgelaufen war – schlüpfte er in seinen Mantel und ging zur Tür.
Doch als er die Klinke schon in der Hand hatte, hielt er inne, und
nachdem er noch einmal kräftig geflucht hatte, machte er kehrt,
schnappte sich die Flasche Single Malt samt roter Schleife vom
Tisch und steckte sie ein. Er könnte sich immer noch einen neuen –
und besseren – kaufen, aber am Weihnachtsmorgen ohne Geschenk bei
seiner Großtante aufkreuzen, das kam einfach nicht in Frage.
Das private Pflegeheim lag am Stadtrand von Crewe,
in einem ruhigen Viertel mit gepflegten Einfamilienhäusern. Er
wusste, dass es zu den besseren Einrichtungen dieser Art zählte –
in seinem Berufsalltag hatte er schon mehr als genug Erfahrung mit
städtischen Heimen gesammelt, die es mit den Hygienevorschriften
nicht allzu genau nahmen. Doch auch hier gelang es selbst mit noch
so großen Mengen von Politur und frischen Blumen nicht, den
hartnäckigen Geruch nach Inkontinenz und Verwesung ganz zu
überdecken.
Es war noch recht früh für einen Besuch, doch er
wusste, dass die Bewohner ihr Frühstück zu einer, wie Großtante
Margaret zu sagen pflegte, absolut unchristlichen Stunde serviert
bekamen, und er wusste auch, dass Margaret um diese Tageszeit immer
am muntersten war.
Obwohl die Oberschwester, eine füllige und stets
penetrant gut gelaunte Frau, ihn noch freundlicher als sonst
begrüßte, hatte er die Flasche Whisky zuvor vorsichtshalber in
einer Einkaufstüte verschwinden lassen. Die Bewohner durften auf
dem Heimgelände keinen Alkohol trinken, aber Babcock schob sich
lächelnd und ohne den leisesten Anflug von schlechtem Gewissen an
der Oberschwester vorbei.
Er fand Margaret allein im Aufenthaltsraum. In ein
knallrotes Wollkostüm gehüllt, saß sie in ihrem Rollstuhl unter dem
kitschig geschmückten künstlichen Baum wie ein Geschenk, das ein
zerstreuter Weihnachtsmann hatte liegen lassen. Ihr feines weißes
Haar war zu einem Lockenkranz frisiert, ihre Nägel in der gleichen
grellen Farbe lackiert wie ihr Kostüm.
»Du siehst hinreißend aus«, versicherte ihr Ronnie,
als er sich zu ihr herabbeugte, um ihre pergamentartige Wange zu
küssen.
»Da hab ich aber auch was davon.« Ihre Stimme war
immer noch kräftig, nur ein wenig heiser, was wahrscheinlich auf
die filterlosen Zigaretten zurückzuführen war, die sie früher immer
geraucht hatte. Doch ihre Knochen fühlten sich zerbrechlich an wie
trockene Zweige, als er ihr die Hand auf die Schulter legte, und
sie wirkte hinfälliger, als er sie von seinem letzten Besuch in
Erinnerung hatte.
»Wo sind denn all die anderen Insassen?«, fragte
er, während er sich einen Stuhl heranzog. Es war einer ihrer
Standardwitze, und sie belohnte ihn mit einem Lächeln.
»Die meisten sind abgeholt worden und müssen den
ganzen Tag ihre Familien ertragen. Da bin ich mal wieder froh, dass
ich außer dir niemanden habe, der mir auf den Geist geht.« Sie
sagte nie, dass sie sich über seine Besuche freute, und fragte auch
nie, wann er wiederkäme, aber in diesem Moment dämmerte es ihm,
dass sie sich wahrscheinlich nur ihm zu Ehren mit dem farbenfrohen
Kostüm, dem Nagellack und der Festtagsfrisur herausgeputzt hatte.
Sie hatte sich auf seinen Besuch gefreut, und er schämte sich
plötzlich in Grund und Boden.
Um sein Unbehagen zu kaschieren, kramte er in der
Tüte und ließ sie den Whisky sehen. »Ich dachte, es ist besser,
wenn die Oberschwester von diesem kleinen Geheimnis nichts
mitkriegt«, flüsterte er.
»Da hast du verdammt recht«, pflichtete Margaret
ihm bei. Sie nahm ihm die Tüte ab, legte sie neben sich auf die
Sitzfläche des Rollstuhls und zog die Wolldecke darüber, die auf
ihren Beinen lag. »Muss ja auch seine Vorteile haben, wenn man ein
Krüppel ist, sage ich immer.« Dann fixierte sie ihn mit ihren
Adleraugen. »So, und jetzt erzähl mir mal, was du um diese
nachtschlafende Zeit an deinem freien Tag hier machst. Ist deine
Angetraute noch immer nicht zur Vernunft gekommen?« Margaret hatte
noch nie ein gutes Wort für Peggy übrig gehabt, aber jetzt war
Babcock wenigstens nicht mehr verpflichtet, seine Exfrau zu
verteidigen.
»Leider nicht, Tante Margaret.«
»Da kannst du von Glück sagen«, meinte sie
naserümpfend.
»Also, dann muss es wohl die Arbeit sein – es sei denn, dein
überpünktliches Erscheinen ist bloß deine Methode, unsere kleine
Weihnachtsfeier zu umgehen.«
Babcock errötete – er wusste, dass er auf jeden
Fall irgendeinen Grund vorgeschoben hätte, wenn sich keiner
angeboten hätte. Mord und Totschlag waren sein Alltag, die
Mahlzeiten im Pflegeheim aber waren mehr, als selbst er ertragen
konnte.
Margaret musste seinen inneren Kampf bemerkt haben,
denn sie seufzte und meinte: »Ist ja schon in Ordnung, Junge. Ich
kann es dir nicht verdenken, besonders, wenn ich an Reggie
Pargetter und seine Verdauungsprobleme denke. Erzähl mir doch von
deinem neuesten Fall.«
Er sah keinen Grund, ihr die Einzelheiten zu
verschweigen; das wenige, was er wusste, würde ohnehin bald
allgemein bekannt sein, wenn die Lokalpresse nach der
Feiertagspause wieder erschien. Und so erzählte er ihr ausführlich,
was sie gefunden hatten und wo sie es gefunden hatten, und er
endete mit der Bemerkung: »Ich bin gerade auf dem Weg ins Leighton
Hospital zur Obduktion.«
Margaret saß so lange schweigend und mit gesenktem
Kopf da, dass er schon glaubte, sie habe ihm nicht richtig folgen
können oder sei gar eingenickt. Doch dann blickte sie auf, und
obwohl die Falten in ihrem Gesicht sich noch tiefer eingegraben zu
haben schienen, blickten ihre Augen verständnisvoll.
»Es war ein Akt der Verzweiflung«, sagte sie leise.
»Verstehst du? Wer immer dieses Kind dort beigesetzt hat, muss
unvorstellbar unter seinem Tod gelitten haben.«
Der Traum begann wie immer damit, dass Kit durch
das Haus in Cambridgeshire lief und seine Mutter suchte. Eine
wachsende Unruhe erfasste ihn, doch die Zimmer schienen sich vor
ihm in die Länge zu ziehen, als schaute er durch ein umgedrehtes
Fernglas. Er rannte immer schneller, und seine Panik
wuchs, als die Zimmer sich zu Tunnels dehnten. Plötzlich tauchte
vor ihm die Küchentür auf. Er blieb stehen, seine Brust schmerzte,
und panische Angst lähmte seine Finger, als er nach dem Türknauf
greifen wollte. Seine Mutter brauchte ihn, sagte er sich, aber
seine Hand war wie Blei, seine Füße wie im Boden verwurzelt. Seine
Mutter brauchte ihn, das wusste er, aber er brachte es einfach
nicht fertig hineinzugehen.
Und dann, ehe er zurückweichen konnte, sprang die
Tür von selbst auf. Kit wankte, als der Raum sich vor ihm auftat.
Boden und Wände waren gekrümmt wie das Innere einer Schüssel, und
ganz unten lag seine Mutter. Sie lag auf der Seite, die Beine
angezogen, den Kopf auf den Arm gebettet, als ob sie nur ein
Nickerchen hielte.
Es ist eine Wiege, dachte er; das Zimmer war ihre
Wiege, die sie in den Schlaf geschaukelt hatte. Er würde sie
wecken. Sie verließ sich darauf, dass er sie weckte, und er durfte
sie nicht im Stich lassen.
Doch als er sich neben sie kniete und das feine
blonde Haar zurückstrich, das ihr wie ein Schleier übers Gesicht
gefallen war, stellte er fest, dass ihre Haut eisblau war und sich
kalt anfühlte. Das Geräusch seines eigenen Schreis hallte in seinem
Kopf wider.
Kit riss jäh die Augen auf, strampelte mit den
Füßen und schlug mit den Fäusten auf die Bettdecke, als könne er
sich so aus den Klauen des Albtraums befreien. Als der kalte
Luftzug an sein schweißnasses T-Shirt drang, schüttelte er sich
unwillkürlich und wachte vollends auf. Die ersten Sekunden war er
durch den Traum noch desorientiert, dann begriff er, dass er nicht
in dem Cottage in Grantchester war, wo er aufgewachsen war, aber
auch nicht in seinem Zimmer in dem Haus in Notting Hill. Er war in
Nantwich bei seinen Großeltern, in Duncans ehemaligem
Kinderzimmer.
Mit einem Ruck setzte er sich auf und spähte zu
Toby hinüber,
der im anderen Bett noch tief und fest schlief. Gut. Das hieß,
dass er nicht laut geschrien hatte. Er mochte gar nicht daran
denken, wie peinlich es gewesen wäre, wenn er das ganze Haus
zusammengeschrien hätte. Mit dem Zipfel der Bettdecke wischte er
sich das immer noch feuchte Gesicht und betrachtete eingehend den
Streifen Licht, der durch den Spalt im Vorhang ins Zimmer drang. Es
schien Morgen zu sein, aber im Haus rührte sich noch nichts, und
auch Tess schlummerte noch am Fuß seines Bettes, zu einem haarigen
Ball zusammengerollt. Neben ihr lag ein dunkler, länglicher
Gegenstand. Kit kniff die Augen zusammen und schob einen Fuß
vorsichtig an das Ding heran, bis er sein Gewicht spürte und seine
merkwürdig klumpige Form tasten konnte. Der kurze Moment der Panik
verflog, und er kam sich vor wie ein Idiot.
Es war ein Strumpf. Jetzt sah er, dass auch am Fuß
von Tobys Bett einer lag. Jemand war ins Zimmer gekommen und hatte
sie hingelegt, während sie geschlafen hatten. Es war
Weihnachten.
Kit wollte schon nach dem Strumpf greifen, doch
seine Hand zitterte. Er legte sich wieder hin und zog die Decke bis
unters Kinn. Der Traum war noch zu nahe.
Die Woge von Heimweh, die ihn überkam, war so
intensiv, dass er ein Stöhnen unterdrücken musste. Er wollte in
London sein, in seinem eigenen Zimmer, seinem eigenen Bett, und die
vertrauten Geräusche und Gerüche hören und riechen, die aus der
Küche heraufwehten. Sid, ihr schwarzer Kater, würde mit dem Kopf
die Tür aufstoßen und mit erhobenem Schwanz durchs Zimmer tapsen,
um Kit zu sagen, dass es Zeit war, sich aus den Federn zu rollen.
Kit würde nach unten gehen und helfen, das Weihnachtsessen
vorzubereiten, und ihre Freunde Wesley und Otto würden
vorbeikommen, um Geschenke auszutauschen, während Gemma Klavier
spielte …
Sosehr sich Kit auch mühte, sie festzuhalten,
irgendwann
war die tröstliche Fantasie verflogen. Er wusste nur zu gut, dass
die gewohnte Umgebung den Albtraum nicht verhindert hätte – wie sie
ihn auch in den vergangenen Monaten nicht hatte verhindern können.
In den Wochen nach dem Tod seiner Mutter hatte er ihn oft
heimgesucht, in den unterschiedlichsten Gestalten. Dann war er
allmählich verblasst, und Kit hatte schon gehofft, dass er ihn
endgültig los wäre, dass er ihn zusammen mit den Bildern, mit den
unerträglichen Erinnerungen, in die Mottenkiste werfen
könnte.
Doch er war wiedergekommen, zuerst in isolierten
Bruchstücken, dann mit immer mehr Einzelheiten und größerer
Regelmäßigkeit. Inzwischen schätzte er sich glücklich für jede
Nacht ohne Träume, und er fürchtete sich vor dem
Einschlafen. Sein Herz begann wieder zu rasen, als die verzerrten
Bilder vor seinem inneren Auge vorüberzogen, und die altbekannte
würgende Übelkeit schnürte ihm die Kehle zu.
Um sich abzulenken, sah er sich im Zimmer um. Toby
hatte sich die Decke übers Gesicht gezogen, nur eine widerspenstige
blonde Strähne ragte wie eine Feder in die Höhe. Die Nähe seines
schlafenden Stiefbruders beruhigte Kit.
Es war ein friedliches Zimmer, die Wände
ultramarinblau gestrichen und mit Weiß abgesetzt. Kit fragte sich,
ob es schon so ausgesehen hatte, als sein Vater noch hier
geschlafen hatte. Er sah ein paar gerahmte Drucke von berühmten
Lokomotiven, aber der größte Teil der Wandflächen wurde von
Bücherregalen eingenommen. Am Abend zuvor hatte er die Titel kurz
überflogen: viel Science-Fiction, Fantasyromane und Krimis, aber
auch Kinderbuchklassiker wie Arthur Ransomes Der Kampf um die
Insel und die Narnia-Reihe, daneben Geschichtsbücher,
Biografien und Darstellungen berühmter Prozesse. Hatte Duncan das
alles gelesen, oder benutzte Hugh das Zimmer heute als zusätzliches
Lager?
Tess hob den Kopf und gähnte, wobei sie ihre kleine
rosa
Zunge sehen ließ. Dann streckte sie sich und kam über die Matratze
getapst, um es sich an Kits Seite gemütlich zu machen. Mechanisch
zog er einen Arm unter der Decke hervor, um sie zu streicheln, und
ließ seinen Gedanken weiter freien Lauf. Wie war sein Vater
gewesen, als er mit dreizehn in diesem Zimmer geschlafen hatte?
Hatte er damals schon gewusst, was er mit seinem Leben anfangen
wollte? Hatte er Geheimnisse vor seinen Eltern gehabt und deswegen
Ärger bekommen? Hatte es ein Mädchen gegeben – so wie Lally?
Aber vor dieser Vorstellung schreckte er zurück,
und seine Hand verharrte reglos auf der Flanke des Hundes. So
durfte er nicht über Lally denken. Das war nicht in Ordnung. Sie
war seine Cousine, und sein Gesicht glühte vor Scham, wenn er daran
dachte, dass irgendjemand in der Familie herausfinden könnte, was
er fühlte.
Außerdem war ihm gestern Abend klar geworden, wie
lächerlich er sich bei dem Treffen mit Leo Dutton gemacht
hatte.
Die Probleme hatten schon begonnen, nachdem sie bei
Lally zu Hause angekommen waren. Sie waren alle in Sams Zimmer
gewesen und hatten mit mehr oder weniger Begeisterung seine
Sammlung von Star-Wars-Figuren bewundert, als Lally plötzlich
hörte, wie die Haustür aufging.
»Mein Papa«, hatte sie gesagt und war rasch aus dem
Zimmer geschlüpft, als hätte sie nur darauf gewartet. Dann hatte
Kit laute Stimmen gehört, ohne dass er verstehen konnte, was gesagt
wurde, und nach wenigen Augenblicken war Lally wieder
hereingekommen, wesentlich langsamer und mit verschlossener
Miene.
Sam, der ein ähnliches instinktives Gespür für die
Stimmungen seiner Schwester zu haben schien wie Toby für die seines
Bruders, hielt mitten in seiner Demonstration eines X-Wing-Fighters
inne und sah Lally fragend an.
»Mama und Papa streiten sich mal wieder«, meinte
Lally achselzuckend, als sei das die natürlichste Sache der Welt,
und ließ sich lässig auf Sams Bett fallen. Aber von diesem Moment
an war die Atmosphäre spürbar angespannt, und Lally begann ihren
Bruder so gnadenlos zu triezen, dass Kit unwillkürlich den Jungen
in Schutz nahm.
Das Abendessen war noch schlimmer gewesen. Es war
eine Erleichterung, als das Essen endlich vorbei war und Lally ihn
beiseite nahm. »Komm«, flüsterte sie, »wir sagen, dass wir
vorgehen, um Plätze in der Kirche zu reservieren, dann haben wir
noch locker Zeit, um eine zu rauchen.«
»Zu rauchen?«, platzte Kit heraus, ehe er sich
darauf besinnen konnte, seine Überraschung zu verbergen.
»Tu nicht so schockiert.« Lallys verschwörerisches
Lächeln wurde zu einem Schmollen. »Erzähl mir doch nicht, dass du
dir nicht ab und zu mal eine ansteckst.«
»Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ich mag es
einfach nicht.« Er konnte ihr ja schlecht sagen, dass der Geruch
ihn an seine Großmutter Eugenia erinnerte und dass ihm davon
regelrecht übel wurde.
Lally betrachtete ihn kühl. »Na ja, mach, was du
willst, solange du uns nicht verpfeifst. Und, bist du mit von der
Partie?«
»Ja, okay«, hatte er eingewilligt und gehofft, dass
sie nicht mehr so kratzbürstig wäre, wenn sie einmal das Haus
verlassen hätten. Zu seiner Überraschung hatte Sam nicht gefragt,
ob er mitkommen dürfe, doch er hatte Lally einen Blick zugeworfen,
den Kit nicht deuten konnte.
Er hatte allerdings kaum Gelegenheit, die
Zweisamkeit mit Lally zu genießen, denn ihre Mutter hatte ihr eine
Tüte mit den Resten des Abendessens für eine ältliche Nachbarin
mitgegeben. Nachdem sie den Auftrag erledigt hatten, schlugen sie
den dunklen Fußweg Richtung Stadt ein, und Lally drängte zur Eile.
»Ich bin mit jemandem verabredet, beim Crown –
das ist der alte Gasthof«, erklärte sie, als sie den Marktplatz
erreichten. Und als der hoch aufgeschossene blonde Junge aus dem
dunklen Torbogen an der Seite des alten Gasthauses ins Freie trat,
war Kit überrascht. Er hatte ein Mädchen erwartet und war mit einem
Schlag ernüchtert.
»Das ist also dein kleiner Cousin«, sagte der Junge
anstelle einer Begrüßung. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der
Jackentasche, gab Lally eine und hielt die Packung dann Kit
hin.
Kit stopfte die Hände noch tiefer in die Taschen
und schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Und an Lally gewandt fragte
er: »Wie heißt dein Freund?«
»Leo.«
»Dann eben nicht, Weichei.« Leos Grinsen ließ die
ebenmäßigen weißen Zähne in seinem schmalen Gesicht aufblitzen. »Er
glaubt, er hat Manieren.«
Kit wusste, dass es darauf keine gute Erwiderung
gab. Doch zu seiner Überraschung war es Lally, die ihn aus seinem
Dilemma erlöste. »Lass das, Leo«, sagte sie. »Wir haben nicht viel
Zeit.« Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug.
»Hast du meinen Stoff mitgebracht?«, fragte Leo in
aggressivem Ton, als sei er über ihre mangelnde Loyalität
verärgert. Lally blickte überrascht zu ihm auf.
»Wir haben uns doch gerade erst von daheim loseisen
können, Mann. Und es ist schließlich Heiligabend. In einer halben
Stunde müssen wir neben unseren Eltern in der Kirche hocken. Das
ist ja wohl ein bisschen heftig, sogar für deine Verhältnisse.« Sie
strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und hielt dann die hohle
Hand schützend über die Zigarette, während sie mit der anderen das
Feuerzeug anknipste. Für einen Moment war ihr Gesicht in einen
orangefarbenen Schein getaucht, doch ihre Augen blieben im
Dunkeln.
Der beißende Geruch des brennenden Tabaks breitete
sich in der kalten Luft aus, und Kit musste sich beherrschen, um
nicht einen Schritt zurückzuweichen. Als Leo nach dem Feuerzeug
griff und sich vorbeugte, um seine Zigarette anzuzünden, nutzte Kit
die Gelegenheit, sich den Jungen etwas genauer anzusehen. Er
schätzte, dass Leo kaum älter war als er selbst, seiner
auffallenden Größe zum Trotz. Seine Figur wirkte irgendwie in die
Länge gezogen, als wäre er so schnell gewachsen, dass seine Knochen
nicht nachkommen konnten. Sein blondes Haar war kurz geschoren, und
er trug eine Marinejacke aus blauem Wollstoff, wie Kit sie in
teuren Londoner Geschäften gesehen hatte. Er schämte sich plötzlich
für seinen zweckmäßigen gefütterten Anorak, eine Nummer zu groß
gekauft, damit er über die Jacke seiner Schuluniform passte. Er sah
aus wie ein stinklangweiliger Streber – schlimmer noch, wie ein
Streber mit Klamotten aus dem Secondhandladen.
»Ihr seid also in einer Klasse?«, fragte er,
bemüht, sein Unbehagen zu kaschieren, indem er die Initiative
ergriff.
Lally antwortete, ohne ihn anzusehen. So groß sie
auch vorher getönt hatte – jetzt drückte sie sich mit dem Rücken an
den Torbogen der alten Kutscheneinfahrt und ließ den Platz nicht
aus den Augen. »Mmh. Wir gehen auf die Marlborough School, nicht
auf die Gesamtschule. Wir sind auf dem Weg in die Stadt dran
vorbeigekommen. Aber wir waren auch schon zusammen auf der
Grundschule. Eigentlich kennen wir uns schon ewig – praktisch, seit
wir in den Windeln gelegen haben.«
»Du vielleicht«, spottete Leo. »Ich kann mich nicht
erinnern, die Dinger je getragen zu haben.«
War es möglich, dass die beiden gar kein Paar
waren?, rätselte Kit. Wenn sie sich schon so lange kannten, dann
waren sie vielleicht einfach nur Freunde, die öfter etwas zusammen
unternahmen. Sie hatten einander nicht berührt und auch keine
Anstalten gemacht, sich irgendwohin zu verdrücken, um ein bisschen
zu knutschen. Kit schöpfte neue Hoffnung, auch
wenn er lieber nicht so genau darüber nachdenken wollte,
worauf er eigentlich hoffte.
»Ach du Scheiße«, zischte Lally und riss Kit damit
aus seinem Tagtraum. Ehe er etwas erwidern konnte, packte sie ihn
und zog ihn in den dunklen Torbogen zurück, wobei sie ihre halb
aufgerauchte Zigarette fallen ließ. »Da ist mein Opa. Mit deiner
Mutter.«
»Sie ist nicht meine Mutter«, antwortete Kit
automatisch und fühlte sich sofort schuldig, weil er Gemma so offen
verleugnete. »Ich meine …«
»Haben sie uns gesehen?«, unterbrach ihn Lally mit
Panik in der Stimme.
Leo spähte unauffällig auf den Platz hinaus.
»Glaube ich nicht. Sie sind weitergegangen, aber die Frau hat sich
umgedreht. Das ist also deine Stiefmutter, wie?«, fragte er Kit und
zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Ja«, antwortete Kit knapp. Nicht nur, dass er
keine Lust verspürte, Leo seine komplizierten Familienverhältnisse
zu erklären – er wollte auch Gemma in Schutz nehmen. Leos
anzügliches Grinsen hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Er wollte
gerade hinzusetzen: »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, als sein
Blick auf Lallys angespannte Miene fiel. Für ein Mädchen, das
behauptet hatte, es sei ihr egal, was ihre Eltern dachten, hatte
sie ganz schön viel Schiss, erwischt zu werden.
»Wir sollten besser in die Kirche gehen«, meinte
sie. »Wenn wir keine Plätze mehr kriegen, können wir uns echt auf
was gefasst machen.«
»Ach was, dir fällt doch bestimmt irgendeine
Ausrede ein, was, Lally-Baby?«, meinte Leo mit einem vielsagenden
Grinsen. »Du bist doch so gut im Geschichtenerfinden.«
Kit glaubte zu sehen, wie Lallys Gesicht sich als
Reaktion auf den Seitenhieb verfinsterte, doch statt einer Antwort
lugte sie nur um die Ecke, um zu sehen, ob die Luft rein war, und
zog Kit hinter sich her über den Platz, während Leo
hinterhertrottete.
Als sie in der Kirche ankamen, hatten die Reihen
sich schon zu füllen begonnen, und Lally fluchte wieder, diesmal
allerdings nur halblaut. Während sie den Hals reckte, um nach einer
freien Bank Ausschau zu halten, sagte Leo: »Ich mach mich dann mal
besser auf die Suche nach meinem Dad. Er erwartet sicher, dass ich
mit ihm seine ganzen alten Knacker begrüße und ihnen die gichtigen
Flossen schüttle.«
»Leo, das ist eklig«, zischte Lally, doch dann nahm
die Platzsuche wieder ihre Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Frag doch deinen Alten, ob du morgen zu uns kommen
darfst«, fuhr Leo unbeeindruckt fort. »Dann zeigen wir deinem
kleinen Cousin hier mal, wie man richtig einen draufmacht.« Mit
dieser beunruhigenden Bemerkung war er verschwunden, und Kit hatte
ihm stirnrunzelnd nachgesehen, als er in der Menge untergetaucht
war.
Jetzt, im klaren Licht des Morgens, schienen die
Aussichten auch nicht rosiger. Kit hatte in der Schule genug
Erfahrungen mit Jungen wie Leo machen müssen – solche Typen hatten
ihm die letzten paar Monate das Leben zur Hölle gemacht. Er wusste,
dass er sich auf dünnem Eis bewegte – eine falsche Bewegung, und
Leo würde ihn vor Lally nach Strich und Faden fertigmachen.
Da unterbrach eine schläfrige Stimme seinen
Gedankengang. »Ist das Speck?«, fragte Toby, während er seine Decke
zurückschlug und sich aufsetzte. Mit seinen zerzausten Haaren sah
er aus wie ein kleiner blonder Igel. Jetzt merkte auch Kit, dass
er, vertieft in seine trüben Gedanken, schon seit einer ganzen
Weile unterschwellig den Geruch von gebratenem Speck wahrgenommen
hatte, und wie zur Bestätigung begann sein Magen zu knurren.
Das Haus erwachte zum Leben. Kit konnte jetzt auch
Kaffee
riechen, und von unten drang gedämpftes Lachen an sein Ohr. Es war
Zeit, aufzustehen und zu sehen, was der Tag zu bieten hatte, und
Kit stellte fest, dass er ganz dankbar war, für ein paar Stunden an
nichts Komplizierteres als an Geschenke und Essen denken zu
müssen.
»Schau mal, Toby«, sagte er, als sein Bruder den
Strumpf entdeckte. »Der Weihnachtsmann hat dich ja doch
gefunden.«
Zuerst kam das charakteristische dumpfe Brummen
eines Dieselmotors, dann das leichte Schaukeln, verursacht von der
Bugwelle eines anderen Boots, das durch das Hafenbecken fuhr.
Annie, die auf dem Boot gewöhnlich mit dem
Morgengrauen aufwachte, schlug die Augen auf und blinzelte, als das
helle Licht im Fenster über ihrer Koje sie blendete. Im ersten
Moment wusste sie nicht, wo sie war, dann aber kam die Erinnerung
schlagartig zurück. Es war Weihnachten, und sie war am Abend zuvor
sehr spät aus der Mitternachtsmesse in St. Mary’s
zurückgekommen.
Sie blieb reglos liegen, während sie wartete, bis
ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, und genoss
einfach nur das überraschende Wohlgefühl, das sie durchströmte.
Überrascht stellte sie fest, dass sie zum ersten Mal seit Monaten
wieder tief und traumlos geschlafen hatte. Lag es vielleicht am
Singen? Wenn ja, sollte sie es vielleicht öfter tun. Als Kind hatte
sie Sängerin werden wollen, aber ihre Eltern hatten es nicht für
nötig befunden, ihr Talent zu fördern.
Als das Bedürfnis nach Kaffee ihre ungewohnte
Trägheit schließlich besiegte, schlug sie die Decke zurück und
hüllte sich gleich in mehrere Schichten wärmenden Wollstoffs.
Zuerst brachte sie die Zentralheizung in Gang, wobei sie einen
stillen Dank an den Generator sandte, dann beschickte sie den
Holzofen. Erst nachdem sie so sichergestellt hatte, dass die
Temperatur im Boot irgendwann über ein arktisches Niveau steigen
würde, schaltete sie den Wasserkocher ein und mahlte die
Kaffeebohnen.
Frischer Kaffee aus der Stabfilterkanne gehörte zu
den wenigen kleinen Genüssen, die sie sich gönnte. Auch wenn sie
vor kurzem irgendwo gelesen hatte, der so bereitete Kaffee sei
ungesünder als der aus der Kaffeemaschine oder der Espressokanne,
liebte sie nun einmal sein kräftiges Aroma und seine cremige
Konsistenz. Sie trank ihn ohne Zucker, aber sie hatte immer eine
kleine Tüte Sahne im Kühlschrank – wenn sie irgendwo welche
bekommen konnte. Das Sortiment in den Läden der Bootshäfen war
nicht überwältigend, und in kaum einer Stadt entlang des
Kanalsystems waren die Geschäfte von den Liegeplätzen aus so bequem
zu erreichen wie in Nantwich.
Mit ihrem Kaffeebecher in der Hand öffnete sie die
Kabinentür und trat aufs Deck hinaus. Der Schnee auf dem Leinpfad
und auf den Decks und Dächern der leerstehenden Boote glitzerte in
der Sonne. Es hatte aufgeklart, doch es war immer noch kalt. Der
Hafen wirkte seltsam öde und menschenleer, selbst für diese
Jahreszeit. Aus keinem anderen Schornstein stieg Rauch auf, und auf
dem Leinpfad regte sich nichts.
Diejenigen, die ihr Kanalboot nur als Zweitwohnung
nutzten, verbrachten Weihnachten natürlich in ihren Häusern, und
selbst die Aussteiger, für die der Kanal ihr Zuhause war, hatten
irgendjemanden, den sie an den Feiertagen besuchen konnten.
Dabei war es ja nicht so, als hätte es ihr an
Einladungen gemangelt, dachte sie, als der Abgrund des
Selbstmitleids sich vor ihr auftat. Roger hatte sie gefragt, ob sie
zu ihm kommen wolle, wie er es jedes Jahr tat, und sie hatte
abgelehnt – wie jedes Jahr. Was würde er wohl tun, dachte sie mit
einer Art bitterer Belustigung, wenn sie es sich doch noch anders
überlegte?
Er war nach der Trennung in ihrem gemeinsamen Haus
geblieben.
Damals war es ihr als die vernünftigste Lösung erschienen, da sie
es weder verkaufen noch leerstehen lassen wollte. Er zahlte ihr
eine geringe Miete, und sie hatte ihn wissen lassen, dass sie ihm
im Fall einer Scheidung das Vorkaufsrecht einräumen würde. Sie
mochte nicht glauben, dass es nur sein Eigeninteresse war, das
Roger davon abgehalten hatte, ihre Ehe aufzulösen; dabei wusste
sie, dass er – realistisch gesehen – kaum je in der Lage sein
würde, ihr einen angemessenen Preis für das Haus zu zahlen.
Und sie konnte sich auch nicht vormachen, dass er
sie furchtbar vermisste. Roger war ein ausgeglichener Mensch, der
radikale Veränderungen ebenso sehr hasste, wie er Bequemlichkeit
und leibliche Genüsse liebte – sie hatte es nie einfach gefunden,
mit ihm zu leben. Trotzdem konnte er sehr aufmerksam sein, wenn ihm
gerade danach war – und nun fiel ihr ein, dass er ihr ein
Weihnachtsgeschenk geschickt hatte.
Rasch schlüpfte sie zurück in die Kabine, nahm das
Paket aus der Schublade, in die sie es gesteckt hatte, und ging
damit hinaus an die Sonne. Es war fein säuberlich in handbedrucktes
Papier eingeschlagen, und sie war sich ziemlich sicher, dass Roger
es selbst verpackt hatte. Er besaß Sachverstand, war gründlich und
hatte eine künstlerische Ader, alles Eigenschaften, die ihn zu
einem guten Journalisten machten – und ein guter Ehemann war er
auch. Sie war es gewesen, die sich nicht in ihre Rolle als
Ehefrau hatte fügen können.
Vorsichtig löste sie den Klebstreifen von den Enden
des Pakets und zog das Papier ab, ohne es zu zerreißen. »Oh!«, rief
sie laut, als ihr das Geschenk in die Hand glitt. Dass es ein Buch
war, überraschte sie nicht – das hatte sie aus der Form und dem
Gewicht des Pakets schon erraten können -, aber damit hätte sie nie
gerechnet. Ein Blick auf das Titelblatt verriet ihr, dass es sich
um eine Erstausgabe von Tom Rolts Narrow Boats handelte,
gedruckt 1944. Das Buch, eine Schilderung von Rolts
Erkundungen des Kanalnetzes mit seinem renovierten Narrowboat
Cressy, war einer der Klassiker der Bootsliteratur, und Rolt
selbst hatte zu den Gründern der Inland Waterways Association
gehört.
Annie besaß natürlich eine moderne Ausgabe, die sie
mehr als einmal gelesen hatte, fasziniert von der lyrischen Prosa
und den packenden Schilderungen des Lebens auf dem Kanal in den
alten Tagen, doch sie hatte noch nie eine Originalausgabe gesehen.
Wie typisch für Roger, dass er das Buch für sie aufgetrieben hatte
– sie würde ihn anrufen und sich bedanken müssen. Vielleicht würde
sie sogar vorschlagen, dass sie sich zu einem Weihnachtsessen
trafen.
Langsam und bedächtig blätterte sie die Seiten um,
betrachtete eingehend die Holzschnitte, die jedem Kapitel
vorangesetzt waren. Der Künstler, Denys Watkins-Pitchford, hatte
die Quintessenz des Lebens auf dem Kanal mit wunderbar sparsamen
Formen und Linien festgehalten. Sie erinnerte sich, in ihrer
modernen Ausgabe gelesen zu haben, dass die Illustrationen auf
Fotografien von Tom Rolts Frau Angela basierten.
Da war eine traditionelle Buckby-Wasserkanne zu
sehen, die obere Schleuse bei Foxton, ein Reiher im Sumpfgras, das
längst verschwundene Lagerhaus, das den Shropshire Union bei
Barbridge überspannt hatte … Annie betrachtete die Bilder, und sie
brachten die ganze Faszination zurück, die sie bei ihrer ersten
Begegnung mit dem Leben auf dem Kanal empfunden hatte, und die sie
einzig und allein ihrem Kontakt mit Gabriel Wain und seiner Familie
verdankte.
Gewiss, der Anblick der Kanäle und Boote war ihr
von frühester Kindheit an vertraut; sie war gelegentlich auf dem
Leinpfad spazieren gegangen und stehen geblieben, um zuzusehen, wie
ein Boot durch die Schleuse bei Audlem fuhr. Aber sie hatte nie
einen Fuß auf ein Kanalboot gesetzt, bis zu dem Tag,
an dem sie ausgeschickt worden war, um mit den Wains zu
sprechen.
Wie merkwürdig, dass sie sie ausgerechnet gestern
wiedergesehen hatte, nach all den Jahren. Das ungute Gefühl, das
sie bei dieser Begegnung beschlichen hatte, war wieder da, und es
war noch stärker als zuvor. Das System hatte sie betrogen, und sie,
Annie, hatte sie nicht schützen können.
Der Verlust ihrer sämtlichen Illusionen verfolgte
sie noch immer wie ein schlechter Geschmack im Mund. Die
Schuldgefühle wegen ihrer eigenen privilegierten Stellung hatten
sie zur Sozialarbeit gebracht, zusammen mit der Hoffnung, jene
Leere, die sie in sich spürte, auszufüllen, indem sie anderen
Menschen etwas gab. Aber im Lauf der Jahre hatte die
Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen ihren jugendlichen Optimismus
aufgerieben. Sie hatte so viel Leid, Elend und Grausamkeit gesehen,
dass sie glaubte, unter der Last erdrückt zu werden, und ihr
Handeln war ihr so vergeblich vorgekommen wie der Versuch, eine
Überschwemmung zu verhindern, indem man einen Finger gegen den
Deich drückte.
Als dann ein Kind, das sie seiner Familie
weggenommen hatte, an den Folgen der Misshandlungen durch den
Stiefvater gestorben war, hatte sie sich gefragt, wie lange sie das
noch durchhalten könnte. Und was mit den Wains passiert war, hatte
das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.
Sie hatte all dem den Rücken gekehrt, hatte sich
wie eine Schnecke in ihr Haus zurückgezogen und war jedem Kontakt
mit Menschen aus dem Weg gegangen, doch um sie herum war das Elend
weitergegangen. Rowan Wain und ihre Familie waren noch immer
gefährdet.
Könnte sie damit leben, wenn sie jetzt wieder
wegsähe? Aber selbst wenn sie versuchte, ihnen zu helfen – hatte
sie denn irgendetwas zu bieten? Hatte sie überhaupt die Kraft, aus
ihrem selbst gesponnenen Kokon auszubrechen?
Die Erkenntnis kam ganz plötzlich.
Es spielte keine Rolle, ob sie der Aufgabe
gewachsen war oder nicht, oder ob ihre unendlich unbedeutenden
Handlungen irgendetwas in der Welt bewegten. Sie musste einfach nur
handeln, alles andere zählte nicht.