5
Babcock musste grinsen, als er seinen alten Kumpel davonfahren sah. Er hatte Kincaid in die Augen geschaut, als dieser seine normalerweise so beherrschten Züge einen Moment lang entspannt hatte, und er hatte die nackte Jagdlust darin aufblitzen sehen. Es erfüllte ihn mit einer merkwürdigen Befriedigung, eine verwandte Seele gefunden zu haben, die so überraschend aus seiner fernen Vergangenheit aufgetaucht war.
Etwas Kühles, Feuchtes berührte leicht seine Wange, und als er aufblickte, sah er, dass es wieder zu schneien begonnen hatte. »Verdammter Mist«, brummte er und schielte zum Himmel hinauf, der so tief hing, dass er glaubte, ihn berühren zu können. Mit einer ungehaltenen Geste strich er sich die immer dichter fallenden Flocken aus den Haaren und stapfte seinen Kollegen von der Spurensicherung hinterher. Seine gute Laune war mit einem Schlag verflogen.
An der offenen Tür des Stalls blieb er stehen. Der zukünftigen Tür, präzisierte er in Gedanken, denn jetzt konnte er sehen, dass die Öffnung nur mit einem grob gezimmerten Holzrahmen eingefasst war. Drinnen herrschte das übliche Baustellenchaos – Bretter und Eimer lagen umher, eine Motorsäge lehnte am Fuß eines hölzernen Sägebocks. Nahe der rückwärtigen Wand hatte jemand eine Spitzhacke auf den Lehmboden fallen lassen, deren Blatt im Schein einer batteriebetriebenen Lampe funkelte.
Clive Travis, der Leiter der Spurensicherung, stand gleich hinter dem Eingang und mühte sich, einen Schutzanzug aus Papier über seine dicke Winterkleidung zu bekommen. Travis war ein kleiner, hagerer Mann, der sein schon etwas schütteres strohblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug und dessen drahtige Erscheinung sich in seinem energischen Temperament spiegelte. An diesem Abend allerdings wirkte er nicht gerade glücklich, und die Begeisterung seiner Kollegin schien sich ebenfalls in Grenzen zu halten. Sandra Barnett, die Tatortfotografin, arbeitete schnell und professionell, erweckte aber stets den Eindruck, als würde sie lieber etwas anderes machen. Und heute Abend sah ihr breites Gesicht ganz besonders bedrückt aus.
»Na, was haben wir denn hier, Leute?«, fragte Babcock. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen und ihn mit säuerlicher Miene einem Constable in die Hand gedrückt hatte, ließ er sich von Travis Handschuhe und Schutzanzug reichen. Ihre Bemühungen, die Verunreinigung von Spuren zu vermeiden, waren mit Sicherheit die reinste Zeitverschwendung – die Tat lag schließlich sehr lange zurück, und der Fundort der Leiche war die ganze Zeit über frei zugänglich gewesen -, aber die Vorschriften mussten nun einmal befolgt werden. Es war sein Kopf, der rollen würde, wenn sie irgendetwas verbockten, und er war nicht zu seiner jetzigen Position aufgestiegen, indem er gegen die Vorschriften rebelliert hatte. Jedenfalls nicht allzu oft.
»Sehen Sie selbst, Chef.« Nachdem Babcock ordnungsgemäß verpackt war, drückte Travis ihm eine Taschenlampe in die frisch behandschuhte Hand. »Das Kindlein in der Krippe, wenn Sie so wollen.«
Sandra Barnett sah Travis von der Seite an und knallte ihre Kameratasche mit unnötiger Wucht auf den Boden. Babcock konnte ihr die Verärgerung über Travis’ Pietätlosigkeit nicht ganz verdenken, aber das war genau einer der Gründe, weshalb er den Mann mochte. Ein anderer war Travis’ Sinn fürs Bizarre – und bizarr war dieser Fall zweifellos.
Von dort, wo er stand, konnte Babcock das Loch sehen, das die Spitzhacke in die Rückwand gerissen hatte, und darin einen rosa Stofffetzen sowie etwas, was wie ein Haufen kleiner brauner Zweige aussah. Vorsichtig umkurvte er den am Boden liegenden Pickel, während Travis eine Lampe zurechtrückte, um die Stelle besser auszuleuchten. Da setzte sein Gehirn plötzlich die einzelnen Elemente dessen, was er sah, zu einem sinnvollen Ganzen zusammen.
»Mein Gott«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Das trug ihm einen finsteren Blick von Barnett ein, den er jedoch ignorierte. Die Zweige waren in Wirklichkeit die Knochen einer winzigen, zur Faust geballten Hand. Was er für einen Klumpen Wurzelfasern gehalten hatte, entpuppte sich als schütterer Rest feiner Haare über einem eingeschrumpften Gesicht. Die tiefen, leeren Augenhöhlen schienen ihn anzustarren.
Kein Wunder, dass Juliet Newcombe schockiert gewesen war. Babcock hatte in seiner Laufbahn schon weit Schlimmeres zu sehen bekommen, was Blut und Verstümmelungen betraf, aber dieser kleine Leichnam hatte wahrlich etwas herzergreifend Hilfloses. Wer konnte einem Kind so etwas angetan haben?
Die untere Hälfte des kleinen Körpers war noch in sein Leichentuch aus Mörtel gehüllt, doch soweit Babcock sehen konnte, wies er keine Spuren äußerer Verletzungen auf, und weder auf der Decke noch auf den Kleidern waren Blutflecken zu erkennen. Stimmen an der Tür verrieten ihm, dass die Rechtsmedizinerin eingetroffen war. Er wandte sich um, einigermaßen erleichtert, jemand anderem die Untersuchung der Leiche überlassen zu können.
Dr. Althea Elsworthy betrat zielstrebig den Stall und lehnte den Papieroverall, den Travis ihr hinhielt, mit einer ungehaltenen Handbewegung ab. Sie hatte stets ihren eigenen Vorrat an Schutzhandschuhen dabei und blieb nun kurz hinter dem Eingang stehen, um ihre dicken Wollfäustlinge in die Manteltasche zu stopfen und die Latexhandschuhe aufzublasen, ehe sie sie überzog. »Mumifiziert, wie?«, meinte sie. Die Frage war offenbar an Babcock gerichtet, obwohl sie ihn noch keines Blickes gewürdigt hatte. Noch ehe er mit Nicken fertig war, fuhr sie fort: »Dann können wir uns ja die Raumanzüge sparen, und meinen Mantel ziehe ich in dieser Schweinekälte auch nicht aus. Fällt mir ja gar nicht ein, am Heiligabend ohne triftigen Grund eine Lungenentzündung zu riskieren.«
Während sie innehielt, um sich im Raum umzusehen, studierte Babcock sie mit der üblichen Verwunderung. Heute Abend hatte sie ihre lange, hagere Gestalt in einen uralten Tweedmantel gehüllt, dem Anschein nach ein Herrenmodell, und ihre fliegenden grauen Haarsträhnen wurden von einer marineblauen Wollmütze gebändigt. Ihre Miene jedoch war ernst und unerbittlich wie immer. Aufgrund ihrer Vitalität und Energie hätte er sie auf kaum über sechzig geschätzt, doch ihre Haut war mit einem so dichten Netz feiner Fältchen überzogen, dass sie an gegerbtes Leder erinnerte.
Als sie an ihm vorbeiging, nahm er einen leisen Hundegeruch wahr. Ohne ihren riesenhaften vierbeinigen Begleiter ging sie nie aus dem Haus; bei jedem Wetter wartete er geduldig auf dem Rücksitz ihres alten, moosgrünen Morris Minor. Das Tier sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Irischen Wolfshund und dem Hund von Baskerville, und Babcock waren Spekulationen zu Ohren gekommen, wonach es in Wirklichkeit ausgestopft und nur auf den Rücksitz montiert worden war, um Diebe abzuschrecken.
Aber dass der Hund sehr lebendig und nicht etwa das Produkt der Kunst eines Präparators war, konnte Babcock persönlich bezeugen. Ein einziges Mal hatte er den Fehler gemacht, sich von der Rechtsmedizinerin ein Stück mitnehmen zu lassen, und den ganzen Weg bis zum Revier hatte ihn der heiße Brodem des Biests im Nacken gekitzelt. Er hätte sogar schwören können, dass ihm ein paar Tropfen von seinem Geifer in den Kragen gerieselt waren. Auch in anderer Hinsicht war die Fahrt in Elsworthys Wagen ein Fehler gewesen – die Polster waren derart mit Hundehaaren übersät, dass man ihre ursprüngliche Farbe kaum noch erkennen konnte, und er hatte Tage gebraucht, um seinen Anzug von dem dichten grauen Pelzbesatz zu befreien.
Heute Abend glaubte er noch etwas anderes als das übliche Eau de Chien an der wackeren Medizinerin wahrzunehmen – nämlich eine leichte Whiskyfahne. Aber in ihren Augen blitzte die gewohnte Intelligenz, und ihr Auftreten war forsch wie eh und je. Hatte sie ein wenig gefeiert?, fragte sich Babcock. Ob zu Hause ein Mr. Elsworthy auf sie wartete? Nicht, dass er es je gewagt hätte, sie so etwas zu fragen – und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie ihn von sich aus ins Vertrauen ziehen würde. Er war sich auch gar nicht so sicher, ob er es wirklich wissen wollte.
Er trat noch ein paar Schritte zurück, um der Rechtsmedizinerin Platz zu machen. Sie beugte sich vor wie ein dick vermummter Kranich und betrachtete eingehend den Leichnam, um ihn dann vorsichtig mit einem behandschuhten Finger zu befühlen. Dabei schwieg sie beharrlich – Smalltalk war noch nie ihre Stärke gewesen -, und nach einer Weile konnte Babcock seine Ungeduld nicht mehr im Zaum halten.
»Und?«, fragte er. »Was glauben Sie, wie lange es schon da liegt? Wie alt ist es? Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
Der Blick, den sie auf ihn abschoss, hätte einem Schuljungen gelten können, der permanent den Unterricht störte. Sie wandte sich wieder der aufgebrochenen Mörtelwand zu. »Aus der Kleidung könnte man vielleicht schließen, dass das Kind weiblichen Geschlechts ist«, meinte sie schließlich mit kaum merklichem Sarkasmus. »Aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich es richtig untersucht und Röntgenaufnahmen gemacht habe.« Sie spähte in den noch nicht freigelegten Teil der Wandnische. »Von der Körperlänge ausgehend würde ich schätzen, dass das Kind noch kein Jahr alt war, aber es war auch kein Neugeborenes.«
Babcock schnaubte verächtlich. »Sehr hilfreich.«
»Haben Sie Wunder erwartet, Chief Inspector?«
Er glaubte ein amüsiertes Blitzen in ihren Augen zu sehen. »Ich hätte nichts dagegen.«
»Um auf Ihre erste Frage zurückzukommen«, fuhr sie fort, »wenn Ihre Mitarbeiter mit der Dokumentation des Fundorts fertig sind und wir den Leichnam abtransportieren können, werde ich im Leichenschauhaus die vorläufige Untersuchung durchführen. Und dann sehen wir weiter.« Elsworthy richtete sich auf, streifte ihre Latexhandschuhe ab und stopfte sie in eine andere geräumige Tasche, während sie zur Tür ging. Babcock hatte gerade sein Handy aus der Tasche gezogen, um Verstärkung anzufordern – er brauchte Uniformierte, um den Fundort abzusichern und mit der Befragung möglicher Zeugen beginnen zu können -, als die Rechtsmedizinerin sich noch einmal umdrehte.
»Eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen«, begann sie, und er hielt inne, das Handy halb zum Ohr erhoben. »Dieses Kind wurde nicht bloß hastig verscharrt, um die Leiche loszuwerden. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Das war eine regelrechte Beisetzung.«
 
Als Gemma und die Kinder von ihrem Spaziergang zur Ponyweide zurückkamen, fanden sie die Küche sauber aufgeräumt und Rosemary damit beschäftigt, die Zutaten für einen Punsch zusammenzustellen. Weder Kincaid noch seine Schwester hatten sich in der Zwischenzeit gemeldet.
Sam schleppte gleich die anderen Kinder ab, um ihnen seinen Geschenkehaufen unter dem Baum zu zeigen, und Hugh war nach oben in sein Arbeitszimmer gegangen – »nur für ein paar Minuten«, wie Rosemary Gemma berichtete, wobei sie vielsagend die Augen verdrehte. »Er hat gerade eine seltene Ausgabe der weniger bekannten Weihnachtserzählungen von Dickens erworben. Wenn er einmal in einem Buch abtaucht, vergisst er sogar zu essen, wenn ich ihn nicht daran erinnere. Das klingt vielleicht ganz liebenswert, aber in Wirklichkeit kann es ziemlich lästig sein!«
Gemma hatte diese absolute, durch nichts zu störende Konzentration bei Kincaid erlebt, wenn er an einem Fall arbeitete – ja, vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ihn fast das Sorgerecht für seinen Sohn gekostet. Ihr selbst dagegen fiel es schwer, die verschiedenen Bereiche ihres Lebens sauber voneinander zu trennen. Auch wenn sie sich auf die Arbeit konzentrierte, konnte sich ein Teil ihres Gehirns immer noch mit anderen Dingen beschäftigen – was Kincaid heute wohl für einen Tag hatte oder ob die Vorräte im Kühlschrank fürs Abendessen reichten. Sie hatte diese Unfähigkeit, ihren emotionalen Radar abzuschalten, immer als einen Fluch betrachtet, der ihrem beruflichen Ehrgeiz im Weg stand.
Aber in letzter Zeit war ihr manchmal der Gedanke gekommen, dass diese typisch weibliche Verdrahtung ihres Gehirns auch ihre guten Seiten hatte. Die Vorteile im privaten Bereich waren offensichtlich – undenkbar, dass sie Kits Anhörungstermin verpasst hätte -, aber auch im Beruf konnte eine solche Veranlagung segensreich sein.
Nach ihrer Beförderung hatte sie lernen müssen, ihre Mitarbeiter effektiv zu führen, und sie hatte festgestellt, dass ihr Gespür für Stimmungen und die Veränderungen im Beziehungsgeflecht des Teams ihr dabei eine unverzichtbare Hilfe war. Und sie hatte auch herausgefunden, dass die Fähigkeit, das Gesamtbild zu erfassen und verstreute Details zusammenzuführen, sehr zur Lösung eines Falls beitragen konnte.
Wenn es ihr nun noch gelänge, etwas von diesen Fähigkeiten beim Umgang mit Duncans höchst komplizierter Familiezum Tragen zu bringen, würde sie vielleicht sogar diese Weihnachtsferien heil überstehen. Sie mochte Rosemary, auch wenn sie sie nicht besonders gut kannte. Ihre Telefonate hatten sich meist auf die üblichen Plaudereien beschränkt. Aber Gemma konnte nicht wissen, was sich hinter dem ruhigen Auftreten dieser Frau wirklich verbarg.
»Was machst du eigentlich für einen Punsch?«, fragte sie, als Rosemary eine Kollektion von Flaschen in einer Kiste verstaute, um sie leichter zum Auto tragen zu können.
»Er nennt sich ›Cardinal’s Hat‹. Nur was für ganz festliche Anlässe – und absolut tödlich, wenn man’s zu sehr übertreibt.« Sie tippte nacheinander die Flaschen an. »Rotwein. Cognac. Weißer Rum. Roter Wermut. Cranberrysaft. Rosenwasser.« Sie nahm eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank und schwenkte sie wie eine Trophäe. »Champagner. Und …« – wieder griff sie in den Kühlschrank und holte eine Plastiktüte hervor – »Rosenblätter zum Draufstreuen. Hab ich bei meiner Freundin abgestaubt, die den Blumenladen am Marktplatz hat.«
Gemma konnte sich nicht erinnern, dass ihre Eltern jemals Champagner getrunken hätten. Von Fotos wusste sie, dass ihre Hochzeit eine sehr nüchterne Angelegenheit gewesen war, ganz in der strengen nonkonformistischen Tradition – mehr als Tee und Kuchen hatte es da nicht gegeben. Und wenn bei Familientreffen Alkohol auf den Tisch kam, dann höchstens in Form von Bier oder einem Gläschen Portwein. »Klingt sehr exklusiv – und das alles nur für uns«, meinte sie und betrachtete skeptisch ihre legere Freizeithose und ihren schlichten Pulli. Der Punsch hörte sich an, als verlange er mindestens ein Abendkleid aus Samt.
»Für Juliets Geschmack ist es tatsächlich ein bisschen übertrieben«, antwortete Rosemary, während sie die Tüte mit den Rosenblättern vorsichtig auf die Flaschen legte. »Aber Caspar liebt das ganze Brimborium.«
Gemmas Neugier ließ sie ihre Zurückhaltung vergessen. »Vorhin hast du dich aber nicht so angehört, als ob du sehr viel Wert auf Caspars Meinung legst.«
»O je.« Rosemary blickte mit schuldbewusster Miene zu ihr auf. »Wirklich? Vor den Kindern?«
Gemma nickte. »Vielleicht habe ich es ja falsch interpretiert …«
»Nein.« Rosemary seufzte. »Obwohl ich mir immer Mühe gebe, das Thema zu vermeiden. Es ist sehr unfair gegenüber Lally und Sam. Er ist nun mal ihr Vater, und die letzten ein, zwei Jahre waren schon schwierig genug für sie, auch ohne mein Zutun.«
»Hm …« Gemma zögerte; sie war sich nicht sicher, wo die Grenze zwischen höflicher Anteilnahme und Neugier lag. Im Dienst hätte sie solche Skrupel niemals gehabt. Sie umschiffte die Klippe, indem sie bemerkte: »Ich habe gehört, dass Juliet sich letztes Jahr beruflich verändert hat.«
»Das ist eine ziemlich verharmlosende Umschreibung«, meinte Rosemary, indem sie die Kiste aus dem Weg räumte und sich gegenüber von Gemma an den großen, sauber gewischten Tisch setzte. »Juliet war in Caspars Firma von Anfang an das Mädchen für alles, seit er sich mit seinem Partner vor ein paar Jahren selbstständig gemacht hat. Ihr offizieller Titel war ›Büroleiterin‹, aber sie war für alles zuständig – vom Telefondienst über die Terminverwaltung bis hin zur Buchhaltung. Und Caspar hat ihr lediglich den Mindestlohn dafür gezahlt. Er sagte, sie profitiere schließlich vom Geschäftserfolg der Firma, und sie anständig zu bezahlen wäre daher ungefähr so, als stopfe man ein Loch und reiße ein anderes dabei auf. Das entsprach vielleicht sogar teilweise der Wahrheit, aber für Juliets Selbstbewusstsein war es natürlich Gift.
Anfangs war sie noch ganz zufrieden mit der Situation, weil sie durch die flexiblen Arbeitszeiten immer für die Kinder da sein konnte, aber dann konnte ich beobachten, wie es sie allmählich zermürbte. Es war klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie den Kram hinschmeißen und sich etwas anderes suchen würde.«
»Aber sich als Bauunternehmerin selbstständig zu machen, und das ohne jegliche Erfahrung? War das nicht ein bisschen …?«
»Riskant? Unrealistisch?« Rosemarys Lächeln, das so sehr an das ihres Sohnes erinnerte, erhellte ihr Gesicht. »Ich würde sogar sagen, es war tollkühn. Aber sie hatte schon seit Jahren immer die kompliziertesten Arbeiten im Haus erledigt und für Freunde eine Art Handwerkernotdienst angeboten – es war nun einmal das, was sie immer am liebsten gemacht hatte, schon als Kind.«
Gemma fragte sich, ob Rosemary vielleicht ein wenig neidisch auf ihre Tochter war, die der Firma ihres Mannes den Rücken gekehrt hatte, um ihren Weg allein zu machen. Hatte Rosemary auch von einem anderen Leben geträumt, das mehr bot als Kindererziehung und die Mithilfe im Geschäft ihres Mannes?
»Unser Bankberater – er ist ein alter Freund von Hugh und mir – hat ihr den Startkredit vermittelt. Caspar hat getobt, und obwohl sie sich bis jetzt über Wasser halten konnte, hat er ihr nicht verziehen. Ich glaube, sein Stolz hat mehr darunter gelitten als sein Bankkonto. Er betrachtet es als eine Art Fahnenflucht.« Rosemary wirkte ein wenig beschämt. »Aber ich sollte nicht so daherreden. Es ist nur – nun ja, ich kann mit Juliet nicht über diese Dinge sprechen, und erst recht kann ich nicht mit meinen Freundinnen in der Stadt darüber diskutieren. Hier kennt jeder jeden und weiß über die Geschäfte des anderen Bescheid. Aber ich mache mir Sorgen um Juliet und die Kinder. Besonders um Lally – sie ist in einem so schwierigen Alter. Und ihr Vater verwöhnt sie nach Strich und Faden, was die Situation nur noch komplizierter macht.«
»Er klingt mir nicht nach einem Typ, der seine Kinder verwöhnt«, meinte Gemma. Was sie dachte, war, dass er sich nach einem kompletten Kotzbrocken anhörte.
»Tja, Väter und Töchter.« Rosemary lächelte. »Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass er die Kinder wirklich liebt. Und er kann durchaus einen gewissen Charme an den Tag legen.«
Gemma musste etwas verdutzt dreingeschaut haben, denn Rosemary begann zu lachen. Aber ehe sie antworten konnte, schrillte das Telefon, und sie stand auf, um hinzugehen. Nach einigen halblaut gemurmelten Worten legte sie wieder auf und wandte sich zu Gemma um.
»Du wirst dir sehr bald selbst ein Bild machen können«, sagte sie forsch. »Das war Juliet; sie hat von Duncans Handy aus angerufen. Wir sollen uns alle bei ihnen treffen.«
 
Als Kit das Wohnzimmer seiner Großeltern betreten hatte, war es ihm vorgekommen, als hätte er es schon immer gekannt. Die Bücherregale und der verblichene Orientteppich erinnerten ihn an das Haus von Gemmas Freundin Erika, nur dass hier statt eines Flügels zwei große, abgestoßene braune Ledersofas den Raum beherrschten. An den wenigen Stellen, wo die Wand nicht mit Büchern bedeckt war, hingen gerahmte Karikaturen merkwürdig aussehender Leute und noch viel merkwürdiger aussehender Hunde. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, und die Ecke nahe dem Fenster war mit einer riesigen Tanne ausgefüllt.
Sam kauerte unter dem Baum und stapelte Pakete auf einen Haufen. »Ich hab mehr als alle anderen!«, rief er triumphierend, während er noch ein weiteres Geschenk unter den Zweigen herausfischte. Toby kniete neben ihm, und Kit konnte an der Miene seines Bruders ablesen, dass er sich fragte, ob unter dem Weihnachtsbaum wohl auch Geschenke für ihn waren.
»Quatsch«, sagte Lally. Sie thronte auf einem Polsterhocker und blickte hochmütig auf ihren kleinen Bruder herab. »Und interessieren tut das auch keinen. Du bist doch ein Wichser.« Mit halb geschlossenen Lidern schielte sie zu Kit herüber, wie um zu sehen, ob er von ihrem Vokabular beeindruckt war. Das war er. Er hoffte nur, dass sie nicht merkte, wie er errötete, während sein Blick unwillkürlich zur Tür ging. Gemma hätte ihm eine schallende Ohrfeige gegeben, wenn er so ein Wort in den Mund genommen hätte, und er wollte nicht, dass sie schlecht von Lally dachte.
»Gar nicht wahr.« Sam ließ kurz von seinen Geschenkpaketen ab, um seiner Schwester einen finsteren Blick zuzuwerfen, während Toby, der allmählich das Interesse daran verlor, die Schätze eines anderen zu bewundern, zum Kamin schlenderte.
»Du weißt ja gar nicht, was das heißt.«
»Doch weiß ich das. Es …«
Bevor Sam sie alle aufklären konnte, schwatzte Toby dazwischen. »Kit! Kit, schau mal! Da stehen unsere Namen drauf.« Er zeigte auf die Strümpfe, die am Kaminsims hingen. Es waren vier, jeder mit einem anderen Weihnachtsmuster, und ihre breiten Samtstulpen waren mit Namen bestickt. Toby streckte sich und fuhr die Buchstaben auf dem letzten Strumpf mit dem Finger nach. »Da steht Toby.« Mit seinen fünf Jahren war er unheimlich stolz auf seine rudimentären Lesekenntnisse.
Als Kit näher trat, erblickte er seinen eigenen Namen neben dem Tobys; die beiden anderen Strümpfe waren mit Sam und Lally beschriftet.
»Oma wollte nicht, dass ihr euch ausgeschlossen fühlt«, ließ Lally sie wissen – mit dem Effekt, dass Kit sich noch unbehaglicher fühlte. Nichts war ihm unangenehmer, als mit der Nase darauf gestoßen zu werden, dass er nicht dazugehörte, und deswegen bemitleidet werden wollte er auch nicht.
Nachdem er nicht mehr im Mittelpunkt stand, war Sam von seinem Geschenkehaufen aufgestanden und hopste nun ungeduldig herum. »Kommt, ich zeig euch meinen Gameboy«, kommandierte er. »Er ist oben. Mein Papa hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.«
»Kit will deinen Gameboy nicht sehen«, erteilte ihm Lally eine kategorische Abfuhr. »Nimm Toby mit.«
Sam zögerte. Seine Miene spiegelte seinen inneren Kampf deutlich wider. Er wollte bei Toby mit seinem Spielzeug angeben, aber sich von seiner Schwester herumkommandieren lassen wollte er auch nicht. Der Besitzerstolz trug den Sieg davon. »Okay. Aber wir sind gleich wieder da. Komm, Toby.«
Kit stockte der Atem vor Panik, als die Tür sich hinter den Jungen schloss. Was sollte er denn bloß mit Lally reden, wenn sie allein waren? Doch seine Sorge erwies sich als überflüssig.
»Ich weiß, wo Oma den Sherry aufbewahrt«, verkündete Lally. »Wir können uns einen kleinen Schluck genehmigen, aber nicht zu viel, sonst merkt sie, dass was fehlt.«
»Sherry?« Kit verzog das Gesicht. Er hatte einmal bei Gemmas Freundin Erika nippen dürfen. »Das Zeug ist doch eklig. Schmeckt wie Hustensaft. Wieso willst du so ein Zeug trinken?«
»Egal, Hauptsache, es dröhnt, oder nicht?« Sie glitt von ihrem Polsterhocker und öffnete einen Schrank in der Nähe des Kamins. »Opa versteckt hier auch seinen Whisky, aber der ist echt teuer, und er sagt, er kontrolliert immer, ob auch nichts verdunstet ist.«
Kit starrte ihren Rücken an, als sie sich nach einer Flasche reckte. Konnte das wirklich ein Tattoo sein, was da auf dem nackten Stück Haut zwischen ihrem T-Shirt und dem Saum ihrer Jeans zum Vorschein kam? Schon drehte sie sich wieder zu ihm um, die Flasche in der Hand, und er schlug rasch die Augen nieder.
Lally entkorkte die Flasche und nahm einen Schluck, aber ihm fiel auf, dass es nur ein sehr kleiner war und sie Mühe hatte, nicht das Gesicht zu verziehen. »Bist du sicher, dass du keinen magst?«, fragte sie und hielt ihm die Flasche hin.
Errötend schüttelte Kit den Kopf. Würde sie ihn jetzt für ein Weichei halten?
»Erzähl mir doch nicht, dass du daheim nie an die Bar deiner Eltern gehst!« Lally wischte den Flaschenhals mit dem Saum ihres T-Shirts ab und verschloss die Flasche.
»Die haben nie viel Alkohol im Haus«, antwortete Kit ausweichend. Duncan hatte meistens eine Flasche Whisky in seinem Arbeitszimmer, und im Kühlschrank fand sich oft eine Flasche Wein und ein wenig Bier, aber er würde eher sterben, als zuzugeben, dass er nie auf die Idee gekommen war, heimlich davon zu trinken. Im Übrigen hatte Duncan ihn einmal einen Schluck mit Wasser verdünnten Wein probieren lassen, als sie Gäste zum Abendessen hatten, und der hatte ihm nicht besonders geschmeckt.
»Du musst einen Sinn für die edleren Dinge im Leben entwickeln«, sagte Lally, während sie zu ihrem Polsterhocker zurückging. Kit hatte das Gefühl, dass sie etwas nachbetete, was sie schon oft gehört hatte. Sie setzte sich, zog die Knie hoch bis unters Kinn und musterte ihn.
Kit kam sich vor wie ein Insekt, das sie unters Mikroskop gelegt hatte, um es zu sezieren. Er wand sich und suchte verzweifelt nach irgendetwas, ganz gleich was, womit er ihr imponieren könnte.
Die Frage, mit der Lally ihn von seinen Qualen erlöste, verwirrte ihn nur noch mehr. »Streiten deine Eltern oft?«
»Ich … na ja, manchmal schon.« Wusste Lally, dass Gemma nicht seine richtige Mutter war, dass seine Mutter gestorben war? Wenn nicht, würde sie es von ihm nicht erfahren.
Er dachte an das gespannte Schweigen, das manchmal zwischen Duncan und Gemma herrschte, seit Gemma das Baby verloren hatte, und ihm wurde plötzlich kalt ums Herz. Auch darüber wollte er nicht reden.
»Meine Mama und mein Papa streiten sich ständig«, fuhr Lally fort, als hätte sie gar keine Antwort erwartet. »Sie meinen immer, wir hören sie nicht, aber wir hören sie doch. Deswegen ist Sam so überdreht, weißt du. Früher war er nicht so. Oder jedenfalls nicht so schlimm. Und seit Mama ihre Firma hat, ist sie kaum noch da, wenn wir aus der Schule kommen. Glaubst du wirklich, dass meine Mama eine Leiche gefunden hat?«, fragte sie und setzte sich ein wenig aufrechter hin.
Kit, der noch nicht allzu viel darüber nachgedacht hatte, da seine Eltern schließlich ständig irgendwelche Leichen zu finden schienen, antwortete: »Na, wenn sie’s gesagt hat, wird es wohl so sein.« Es klang jedenfalls nicht wie etwas, was man sich einfach so ausdachte.
»Was meinst du, wie das wohl war?« Lallys Augen funkelten.
Sofort schoss Kit der eine Gedanke durch den Kopf, den er nicht ertragen konnte, und er sah das Bild vor sich, so deutlich wie an dem Tag, als es passiert war. Er spürte die aufkommende Übelkeit, und er begann zu schwitzen. Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Wo wohnt ihr eigentlich?«
»In Nantwich, in der Nähe vom Marktplatz.« Lally schien seinen verständnislosen Blick bemerkt zu haben. »Du kennst die Stadt noch gar nicht, oder? Ist stinklangweilig. Aber man kann sich schon irgendwie beschäftigen. Sobald sie uns nach dem Essen gehen lassen, führe ich dich ein bisschen herum.« Die Wohnzimmertür flog mit einem Knall auf. Kit fuhr zusammen und sah Sam hereinschauen.
»Mama hat eben angerufen. Wir fahren zu uns, alle zusammen in Opas Kombi. Oma sagt, die Hunde müssen wir hier lassen.«
»Mein Papa mag keine Hunde im Haus«, erklärte Lally und sprang auf. »Komm, wir holen unsere Jacken. Wenn wir uns beeilen, kriegen wir die besten Plätze.«
Und Kit, der sich nie freiwillig von seinem kleinen Terrier trennte, trottete still hinter ihr her.
 
Mit acht entdeckte er die Lust an der Grausamkeit. Seine Mutter hatte ihm ein besonderes Vergnügen versprochen: Sie würden sich einen schönen Nachmittag machen, nur er und sie. Zuerst ins Kino, danach Eis essen. Aber in letzter Minute hatte ein Freund angerufen und sie zum Essen eingeladen, und sie hatte nur ein paar Worte der Entschuldigung gemurmelt, hatte ihm einmal übers Haar gestrichen und war verschwunden.
Zuerst war ihm ganz schlecht vor Wut. Er schrie und trat gegen die Wand in seinem Zimmer, aber die Schmerzen zwangen ihn bald, damit aufzuhören. Er wollte jemandem wehtun, aber nicht sich selbst.
Und es konnte ihn auch niemand hören. Seine Mutter hatte sicher ihre Nachbarin, Mrs. Buckham, gebeten, nach ihm zu sehen und ihm Abendessen zu geben, aber vorläufig hatte er das Haus für sich. Er richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase.
Langsam schlenderte er zum Zimmer seiner Mutter. Ihr Duft erfüllte noch den Raum, eine Mischung aus Parfüm, Haarspray und noch etwas anderem, undefinierbar Weiblichem. Die Sachen, die sie für den Nachmittag mit ihm angezogen hatte, lagen achtlos hingeworfen auf dem Bett, eingetauscht gegen etwas Schickeres. Sie hatte ihr Puder verschüttet, fächerförmig ausgebreitet lag es auf der Glasplatte ihres Schminktischs wie bleicher, rosiger Sand. Er schrieb ZICKE in den Staub, dann wischte er das Wort wieder aus – schon damals hatte er gewusst, dass man mit Grobheit selten befriedigende Ergebnisse erzielte. Und er hatte etwas anderes entdeckt. Ihre Perlenkette, ein Geschenk seines Vaters, das sie besonders liebte, war zu Boden geglitten und lag dort als kleiner, glitzernder Haufen. Er hob sie auf, ließ die samtigen Kugeln durch seine Finger gleiten, dann rieb er sie an seiner Wange und verspürte dabei eine ebenso unerwartete wie angenehme körperliche Erregung. Sein Puls ging schneller, als er sich im Zimmer umsah. Bald hatte er genau das entdeckt, was er brauchte – den Hammer, den seine Mutter hatte liegen lassen, nachdem sie einige Bilder aufgehängt hatte.
Zuerst packte er die Kette mit beiden Händen und zog kräftig daran. Die Schnur riss mit einem lustigen kleinen Knall, und die Perlen ergossen sich in einem chaotischen Schwall über den Teppich. Dann hob er den Hammer und zerschlug sorgfältig und gründlich jede einzelne Perle zu einem Häufchen glitzernden Staubs.
Im Augenwinkel sah er etwas schimmern – zwei waren ihm entkommen und lagen dicht ans Bein des Schminktischs geschmiegt, als ob sie sich versteckten. Er holte mit dem Hammer aus – und hielt inne. Einem plötzlichen Impuls folgend, hob er die zwei Perlen auf. Kühl und fest lagen sie in seiner Hand. Dann steckte er sie in die Hosentasche. Er würde sie als Andenken behalten. Erst später sollte er lernen, dass man so etwas ein Souvenir nannte.
Die Befriedigung, die er nach diesem Akt der Zerstörung empfand, war anders als alles, was er bisher gekannt hatte, doch das war erst der Anfang. Zitternd vor Furcht und Erregung wartete er darauf, dass seine Tat entdeckt würde. Seine Mutter kam nach Hause und ging nach oben, doch der Wutausbruch blieb aus. Stattdessen schloss sie sich mit der Erklärung, sie habe Kopfschmerzen, in ihrem Zimmer ein. Erst am nächsten Morgen, als er ihr am Frühstückstisch gegenübersaß, sah er die Angst in ihren Augen.