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Babcock musste grinsen, als er seinen alten Kumpel
davonfahren sah. Er hatte Kincaid in die Augen geschaut, als dieser
seine normalerweise so beherrschten Züge einen Moment lang
entspannt hatte, und er hatte die nackte Jagdlust darin aufblitzen
sehen. Es erfüllte ihn mit einer merkwürdigen Befriedigung, eine
verwandte Seele gefunden zu haben, die so überraschend aus seiner
fernen Vergangenheit aufgetaucht war.
Etwas Kühles, Feuchtes berührte leicht seine Wange,
und als er aufblickte, sah er, dass es wieder zu schneien begonnen
hatte. »Verdammter Mist«, brummte er und schielte zum Himmel
hinauf, der so tief hing, dass er glaubte, ihn berühren zu können.
Mit einer ungehaltenen Geste strich er sich die immer dichter
fallenden Flocken aus den Haaren und stapfte seinen Kollegen von
der Spurensicherung hinterher. Seine gute Laune war mit einem
Schlag verflogen.
An der offenen Tür des Stalls blieb er stehen. Der
zukünftigen Tür, präzisierte er in Gedanken, denn jetzt
konnte er sehen, dass die Öffnung nur mit einem grob gezimmerten
Holzrahmen eingefasst war. Drinnen herrschte das übliche
Baustellenchaos – Bretter und Eimer lagen umher, eine Motorsäge
lehnte am Fuß eines hölzernen Sägebocks. Nahe der rückwärtigen Wand
hatte jemand eine Spitzhacke auf den Lehmboden fallen lassen, deren
Blatt im Schein einer batteriebetriebenen Lampe funkelte.
Clive Travis, der Leiter der Spurensicherung, stand
gleich hinter dem Eingang und mühte sich, einen Schutzanzug aus
Papier über seine dicke Winterkleidung zu bekommen. Travis war ein
kleiner, hagerer Mann, der sein schon etwas schütteres strohblondes
Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug und dessen drahtige
Erscheinung sich in seinem energischen Temperament spiegelte. An
diesem Abend allerdings wirkte er nicht gerade glücklich, und die
Begeisterung seiner Kollegin schien sich ebenfalls in Grenzen zu
halten. Sandra Barnett, die Tatortfotografin, arbeitete schnell und
professionell, erweckte aber stets den Eindruck, als würde sie
lieber etwas anderes machen. Und heute Abend sah ihr breites
Gesicht ganz besonders bedrückt aus.
»Na, was haben wir denn hier, Leute?«, fragte
Babcock. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen und ihn mit
säuerlicher Miene einem Constable in die Hand gedrückt hatte, ließ
er sich von Travis Handschuhe und Schutzanzug reichen. Ihre
Bemühungen, die Verunreinigung von Spuren zu vermeiden, waren mit
Sicherheit die reinste Zeitverschwendung – die Tat lag schließlich
sehr lange zurück, und der Fundort der Leiche war die ganze Zeit
über frei zugänglich gewesen -, aber die Vorschriften mussten nun
einmal befolgt werden. Es war sein Kopf, der rollen würde,
wenn sie irgendetwas verbockten, und er war nicht zu seiner
jetzigen Position aufgestiegen, indem er gegen die Vorschriften
rebelliert hatte. Jedenfalls nicht allzu oft.
»Sehen Sie selbst, Chef.« Nachdem Babcock
ordnungsgemäß verpackt war, drückte Travis ihm eine Taschenlampe in
die frisch behandschuhte Hand. »Das Kindlein in der Krippe, wenn
Sie so wollen.«
Sandra Barnett sah Travis von der Seite an und
knallte ihre Kameratasche mit unnötiger Wucht auf den Boden.
Babcock konnte ihr die Verärgerung über Travis’ Pietätlosigkeit
nicht ganz verdenken, aber das war genau einer der Gründe, weshalb
er den Mann mochte. Ein anderer war Travis’ Sinn fürs Bizarre – und
bizarr war dieser Fall zweifellos.
Von dort, wo er stand, konnte Babcock das Loch
sehen, das die Spitzhacke in die Rückwand gerissen hatte, und darin
einen rosa Stofffetzen sowie etwas, was wie ein Haufen kleiner
brauner Zweige aussah. Vorsichtig umkurvte er den am Boden
liegenden Pickel, während Travis eine Lampe zurechtrückte, um die
Stelle besser auszuleuchten. Da setzte sein Gehirn plötzlich die
einzelnen Elemente dessen, was er sah, zu einem sinnvollen Ganzen
zusammen.
»Mein Gott«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Das trug
ihm einen finsteren Blick von Barnett ein, den er jedoch
ignorierte. Die Zweige waren in Wirklichkeit die Knochen einer
winzigen, zur Faust geballten Hand. Was er für einen Klumpen
Wurzelfasern gehalten hatte, entpuppte sich als schütterer Rest
feiner Haare über einem eingeschrumpften Gesicht. Die tiefen,
leeren Augenhöhlen schienen ihn anzustarren.
Kein Wunder, dass Juliet Newcombe schockiert
gewesen war. Babcock hatte in seiner Laufbahn schon weit
Schlimmeres zu sehen bekommen, was Blut und Verstümmelungen betraf,
aber dieser kleine Leichnam hatte wahrlich etwas herzergreifend
Hilfloses. Wer konnte einem Kind so etwas angetan haben?
Die untere Hälfte des kleinen Körpers war noch in
sein Leichentuch aus Mörtel gehüllt, doch soweit Babcock sehen
konnte, wies er keine Spuren äußerer Verletzungen auf, und weder
auf der Decke noch auf den Kleidern waren Blutflecken zu erkennen.
Stimmen an der Tür verrieten ihm, dass die Rechtsmedizinerin
eingetroffen war. Er wandte sich um, einigermaßen erleichtert,
jemand anderem die Untersuchung der Leiche überlassen zu
können.
Dr. Althea Elsworthy betrat zielstrebig den Stall
und lehnte den Papieroverall, den Travis ihr hinhielt, mit einer
ungehaltenen Handbewegung ab. Sie hatte stets ihren eigenen Vorrat
an Schutzhandschuhen dabei und blieb nun kurz hinter
dem Eingang stehen, um ihre dicken Wollfäustlinge in die
Manteltasche zu stopfen und die Latexhandschuhe aufzublasen, ehe
sie sie überzog. »Mumifiziert, wie?«, meinte sie. Die Frage war
offenbar an Babcock gerichtet, obwohl sie ihn noch keines Blickes
gewürdigt hatte. Noch ehe er mit Nicken fertig war, fuhr sie fort:
»Dann können wir uns ja die Raumanzüge sparen, und meinen Mantel
ziehe ich in dieser Schweinekälte auch nicht aus. Fällt mir ja gar
nicht ein, am Heiligabend ohne triftigen Grund eine
Lungenentzündung zu riskieren.«
Während sie innehielt, um sich im Raum umzusehen,
studierte Babcock sie mit der üblichen Verwunderung. Heute Abend
hatte sie ihre lange, hagere Gestalt in einen uralten Tweedmantel
gehüllt, dem Anschein nach ein Herrenmodell, und ihre fliegenden
grauen Haarsträhnen wurden von einer marineblauen Wollmütze
gebändigt. Ihre Miene jedoch war ernst und unerbittlich wie immer.
Aufgrund ihrer Vitalität und Energie hätte er sie auf kaum über
sechzig geschätzt, doch ihre Haut war mit einem so dichten Netz
feiner Fältchen überzogen, dass sie an gegerbtes Leder
erinnerte.
Als sie an ihm vorbeiging, nahm er einen leisen
Hundegeruch wahr. Ohne ihren riesenhaften vierbeinigen Begleiter
ging sie nie aus dem Haus; bei jedem Wetter wartete er geduldig auf
dem Rücksitz ihres alten, moosgrünen Morris Minor. Das Tier sah aus
wie eine Kreuzung zwischen einem Irischen Wolfshund und dem Hund
von Baskerville, und Babcock waren Spekulationen zu Ohren gekommen,
wonach es in Wirklichkeit ausgestopft und nur auf den Rücksitz
montiert worden war, um Diebe abzuschrecken.
Aber dass der Hund sehr lebendig und nicht etwa das
Produkt der Kunst eines Präparators war, konnte Babcock persönlich
bezeugen. Ein einziges Mal hatte er den Fehler gemacht, sich von
der Rechtsmedizinerin ein Stück mitnehmen zu lassen,
und den ganzen Weg bis zum Revier hatte ihn der heiße Brodem des
Biests im Nacken gekitzelt. Er hätte sogar schwören können, dass
ihm ein paar Tropfen von seinem Geifer in den Kragen gerieselt
waren. Auch in anderer Hinsicht war die Fahrt in Elsworthys Wagen
ein Fehler gewesen – die Polster waren derart mit Hundehaaren
übersät, dass man ihre ursprüngliche Farbe kaum noch erkennen
konnte, und er hatte Tage gebraucht, um seinen Anzug von dem
dichten grauen Pelzbesatz zu befreien.
Heute Abend glaubte er noch etwas anderes als das
übliche Eau de Chien an der wackeren Medizinerin
wahrzunehmen – nämlich eine leichte Whiskyfahne. Aber in ihren
Augen blitzte die gewohnte Intelligenz, und ihr Auftreten war
forsch wie eh und je. Hatte sie ein wenig gefeiert?, fragte sich
Babcock. Ob zu Hause ein Mr. Elsworthy auf sie wartete? Nicht, dass
er es je gewagt hätte, sie so etwas zu fragen – und er konnte sich
auch nicht vorstellen, dass sie ihn von sich aus ins Vertrauen
ziehen würde. Er war sich auch gar nicht so sicher, ob er es
wirklich wissen wollte.
Er trat noch ein paar Schritte zurück, um der
Rechtsmedizinerin Platz zu machen. Sie beugte sich vor wie ein dick
vermummter Kranich und betrachtete eingehend den Leichnam, um ihn
dann vorsichtig mit einem behandschuhten Finger zu befühlen. Dabei
schwieg sie beharrlich – Smalltalk war noch nie ihre Stärke gewesen
-, und nach einer Weile konnte Babcock seine Ungeduld nicht mehr im
Zaum halten.
»Und?«, fragte er. »Was glauben Sie, wie lange es
schon da liegt? Wie alt ist es? Ist es ein Junge oder ein
Mädchen?«
Der Blick, den sie auf ihn abschoss, hätte einem
Schuljungen gelten können, der permanent den Unterricht störte. Sie
wandte sich wieder der aufgebrochenen Mörtelwand zu. »Aus der
Kleidung könnte man vielleicht schließen, dass das Kind weiblichen
Geschlechts ist«, meinte sie schließlich mit kaum
merklichem Sarkasmus. »Aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn
ich es richtig untersucht und Röntgenaufnahmen gemacht habe.« Sie
spähte in den noch nicht freigelegten Teil der Wandnische. »Von der
Körperlänge ausgehend würde ich schätzen, dass das Kind noch kein
Jahr alt war, aber es war auch kein Neugeborenes.«
Babcock schnaubte verächtlich. »Sehr
hilfreich.«
»Haben Sie Wunder erwartet, Chief Inspector?«
Er glaubte ein amüsiertes Blitzen in ihren Augen zu
sehen. »Ich hätte nichts dagegen.«
»Um auf Ihre erste Frage zurückzukommen«, fuhr sie
fort, »wenn Ihre Mitarbeiter mit der Dokumentation des Fundorts
fertig sind und wir den Leichnam abtransportieren können, werde ich
im Leichenschauhaus die vorläufige Untersuchung durchführen. Und
dann sehen wir weiter.« Elsworthy richtete sich auf, streifte ihre
Latexhandschuhe ab und stopfte sie in eine andere geräumige Tasche,
während sie zur Tür ging. Babcock hatte gerade sein Handy aus der
Tasche gezogen, um Verstärkung anzufordern – er brauchte
Uniformierte, um den Fundort abzusichern und mit der Befragung
möglicher Zeugen beginnen zu können -, als die Rechtsmedizinerin
sich noch einmal umdrehte.
»Eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen«, begann
sie, und er hielt inne, das Handy halb zum Ohr erhoben. »Dieses
Kind wurde nicht bloß hastig verscharrt, um die Leiche loszuwerden.
Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Das war eine regelrechte
Beisetzung.«
Als Gemma und die Kinder von ihrem Spaziergang zur
Ponyweide zurückkamen, fanden sie die Küche sauber aufgeräumt und
Rosemary damit beschäftigt, die Zutaten für einen Punsch
zusammenzustellen. Weder Kincaid noch seine Schwester hatten sich
in der Zwischenzeit gemeldet.
Sam schleppte gleich die anderen Kinder ab, um
ihnen seinen Geschenkehaufen unter dem Baum zu zeigen, und Hugh war
nach oben in sein Arbeitszimmer gegangen – »nur für ein paar
Minuten«, wie Rosemary Gemma berichtete, wobei sie vielsagend die
Augen verdrehte. »Er hat gerade eine seltene Ausgabe der weniger
bekannten Weihnachtserzählungen von Dickens erworben. Wenn er
einmal in einem Buch abtaucht, vergisst er sogar zu essen, wenn ich
ihn nicht daran erinnere. Das klingt vielleicht ganz liebenswert,
aber in Wirklichkeit kann es ziemlich lästig sein!«
Gemma hatte diese absolute, durch nichts zu
störende Konzentration bei Kincaid erlebt, wenn er an einem Fall
arbeitete – ja, vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ihn fast das
Sorgerecht für seinen Sohn gekostet. Ihr selbst dagegen fiel es
schwer, die verschiedenen Bereiche ihres Lebens sauber voneinander
zu trennen. Auch wenn sie sich auf die Arbeit konzentrierte, konnte
sich ein Teil ihres Gehirns immer noch mit anderen Dingen
beschäftigen – was Kincaid heute wohl für einen Tag hatte oder ob
die Vorräte im Kühlschrank fürs Abendessen reichten. Sie hatte
diese Unfähigkeit, ihren emotionalen Radar abzuschalten, immer als
einen Fluch betrachtet, der ihrem beruflichen Ehrgeiz im Weg
stand.
Aber in letzter Zeit war ihr manchmal der Gedanke
gekommen, dass diese typisch weibliche Verdrahtung ihres Gehirns
auch ihre guten Seiten hatte. Die Vorteile im privaten Bereich
waren offensichtlich – undenkbar, dass sie Kits
Anhörungstermin verpasst hätte -, aber auch im Beruf konnte eine
solche Veranlagung segensreich sein.
Nach ihrer Beförderung hatte sie lernen müssen,
ihre Mitarbeiter effektiv zu führen, und sie hatte festgestellt,
dass ihr Gespür für Stimmungen und die Veränderungen im
Beziehungsgeflecht des Teams ihr dabei eine unverzichtbare Hilfe
war. Und sie hatte auch herausgefunden, dass die Fähigkeit,
das Gesamtbild zu erfassen und verstreute Details
zusammenzuführen, sehr zur Lösung eines Falls beitragen
konnte.
Wenn es ihr nun noch gelänge, etwas von diesen
Fähigkeiten beim Umgang mit Duncans höchst komplizierter Familiezum
Tragen zu bringen, würde sie vielleicht sogar diese
Weihnachtsferien heil überstehen. Sie mochte Rosemary, auch wenn
sie sie nicht besonders gut kannte. Ihre Telefonate hatten sich
meist auf die üblichen Plaudereien beschränkt. Aber Gemma konnte
nicht wissen, was sich hinter dem ruhigen Auftreten dieser Frau
wirklich verbarg.
»Was machst du eigentlich für einen Punsch?«,
fragte sie, als Rosemary eine Kollektion von Flaschen in einer
Kiste verstaute, um sie leichter zum Auto tragen zu können.
»Er nennt sich ›Cardinal’s Hat‹. Nur was für ganz
festliche Anlässe – und absolut tödlich, wenn man’s zu sehr
übertreibt.« Sie tippte nacheinander die Flaschen an. »Rotwein.
Cognac. Weißer Rum. Roter Wermut. Cranberrysaft. Rosenwasser.« Sie
nahm eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank und schwenkte sie wie
eine Trophäe. »Champagner. Und …« – wieder griff sie in den
Kühlschrank und holte eine Plastiktüte hervor – »Rosenblätter zum
Draufstreuen. Hab ich bei meiner Freundin abgestaubt, die den
Blumenladen am Marktplatz hat.«
Gemma konnte sich nicht erinnern, dass ihre Eltern
jemals Champagner getrunken hätten. Von Fotos wusste sie, dass ihre
Hochzeit eine sehr nüchterne Angelegenheit gewesen war, ganz in der
strengen nonkonformistischen Tradition – mehr als Tee und Kuchen
hatte es da nicht gegeben. Und wenn bei Familientreffen Alkohol auf
den Tisch kam, dann höchstens in Form von Bier oder einem Gläschen
Portwein. »Klingt sehr exklusiv – und das alles nur für uns«,
meinte sie und betrachtete skeptisch ihre legere Freizeithose und
ihren schlichten Pulli. Der Punsch hörte sich an, als verlange er
mindestens ein Abendkleid aus Samt.
»Für Juliets Geschmack ist es tatsächlich ein
bisschen übertrieben«, antwortete Rosemary, während sie die Tüte
mit den Rosenblättern vorsichtig auf die Flaschen legte. »Aber
Caspar liebt das ganze Brimborium.«
Gemmas Neugier ließ sie ihre Zurückhaltung
vergessen. »Vorhin hast du dich aber nicht so angehört, als ob du
sehr viel Wert auf Caspars Meinung legst.«
»O je.« Rosemary blickte mit schuldbewusster Miene
zu ihr auf. »Wirklich? Vor den Kindern?«
Gemma nickte. »Vielleicht habe ich es ja falsch
interpretiert …«
»Nein.« Rosemary seufzte. »Obwohl ich mir immer
Mühe gebe, das Thema zu vermeiden. Es ist sehr unfair gegenüber
Lally und Sam. Er ist nun mal ihr Vater, und die letzten ein, zwei
Jahre waren schon schwierig genug für sie, auch ohne mein
Zutun.«
»Hm …« Gemma zögerte; sie war sich nicht sicher, wo
die Grenze zwischen höflicher Anteilnahme und Neugier lag. Im
Dienst hätte sie solche Skrupel niemals gehabt. Sie umschiffte die
Klippe, indem sie bemerkte: »Ich habe gehört, dass Juliet sich
letztes Jahr beruflich verändert hat.«
»Das ist eine ziemlich verharmlosende
Umschreibung«, meinte Rosemary, indem sie die Kiste aus dem Weg
räumte und sich gegenüber von Gemma an den großen, sauber
gewischten Tisch setzte. »Juliet war in Caspars Firma von Anfang an
das Mädchen für alles, seit er sich mit seinem Partner vor ein paar
Jahren selbstständig gemacht hat. Ihr offizieller Titel war
›Büroleiterin‹, aber sie war für alles zuständig – vom
Telefondienst über die Terminverwaltung bis hin zur Buchhaltung.
Und Caspar hat ihr lediglich den Mindestlohn dafür gezahlt. Er
sagte, sie profitiere schließlich vom Geschäftserfolg der Firma,
und sie anständig zu bezahlen wäre daher ungefähr so, als stopfe
man ein Loch und reiße ein anderes dabei auf. Das entsprach
vielleicht sogar teilweise der Wahrheit, aber für Juliets
Selbstbewusstsein war es natürlich Gift.
Anfangs war sie noch ganz zufrieden mit der
Situation, weil sie durch die flexiblen Arbeitszeiten immer für die
Kinder da sein konnte, aber dann konnte ich beobachten, wie es sie
allmählich zermürbte. Es war klar, dass es nur noch eine Frage der
Zeit war, bis sie den Kram hinschmeißen und sich etwas anderes
suchen würde.«
»Aber sich als Bauunternehmerin selbstständig zu
machen, und das ohne jegliche Erfahrung? War das nicht ein bisschen
…?«
»Riskant? Unrealistisch?« Rosemarys Lächeln, das so
sehr an das ihres Sohnes erinnerte, erhellte ihr Gesicht. »Ich
würde sogar sagen, es war tollkühn. Aber sie hatte schon seit
Jahren immer die kompliziertesten Arbeiten im Haus erledigt und für
Freunde eine Art Handwerkernotdienst angeboten – es war nun einmal
das, was sie immer am liebsten gemacht hatte, schon als
Kind.«
Gemma fragte sich, ob Rosemary vielleicht ein wenig
neidisch auf ihre Tochter war, die der Firma ihres Mannes den
Rücken gekehrt hatte, um ihren Weg allein zu machen. Hatte Rosemary
auch von einem anderen Leben geträumt, das mehr bot als
Kindererziehung und die Mithilfe im Geschäft ihres Mannes?
»Unser Bankberater – er ist ein alter Freund von
Hugh und mir – hat ihr den Startkredit vermittelt. Caspar hat
getobt, und obwohl sie sich bis jetzt über Wasser halten konnte,
hat er ihr nicht verziehen. Ich glaube, sein Stolz hat mehr
darunter gelitten als sein Bankkonto. Er betrachtet es als eine Art
Fahnenflucht.« Rosemary wirkte ein wenig beschämt. »Aber ich sollte
nicht so daherreden. Es ist nur – nun ja, ich kann mit Juliet nicht
über diese Dinge sprechen, und erst recht kann ich nicht mit meinen
Freundinnen in der Stadt darüber diskutieren.
Hier kennt jeder jeden und weiß über die Geschäfte des anderen
Bescheid. Aber ich mache mir Sorgen um Juliet und die Kinder.
Besonders um Lally – sie ist in einem so schwierigen Alter. Und ihr
Vater verwöhnt sie nach Strich und Faden, was die Situation nur
noch komplizierter macht.«
»Er klingt mir nicht nach einem Typ, der seine
Kinder verwöhnt«, meinte Gemma. Was sie dachte, war, dass er sich
nach einem kompletten Kotzbrocken anhörte.
»Tja, Väter und Töchter.« Rosemary lächelte. »Zu
seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass er die Kinder wirklich
liebt. Und er kann durchaus einen gewissen Charme an den Tag
legen.«
Gemma musste etwas verdutzt dreingeschaut haben,
denn Rosemary begann zu lachen. Aber ehe sie antworten konnte,
schrillte das Telefon, und sie stand auf, um hinzugehen. Nach
einigen halblaut gemurmelten Worten legte sie wieder auf und wandte
sich zu Gemma um.
»Du wirst dir sehr bald selbst ein Bild machen
können«, sagte sie forsch. »Das war Juliet; sie hat von Duncans
Handy aus angerufen. Wir sollen uns alle bei ihnen treffen.«
Als Kit das Wohnzimmer seiner Großeltern betreten
hatte, war es ihm vorgekommen, als hätte er es schon immer gekannt.
Die Bücherregale und der verblichene Orientteppich erinnerten ihn
an das Haus von Gemmas Freundin Erika, nur dass hier statt eines
Flügels zwei große, abgestoßene braune Ledersofas den Raum
beherrschten. An den wenigen Stellen, wo die Wand nicht mit Büchern
bedeckt war, hingen gerahmte Karikaturen merkwürdig aussehender
Leute und noch viel merkwürdiger aussehender Hunde. Im Kamin
brannte ein kleines Feuer, und die Ecke nahe dem Fenster war mit
einer riesigen Tanne ausgefüllt.
Sam kauerte unter dem Baum und stapelte Pakete auf
einen
Haufen. »Ich hab mehr als alle anderen!«, rief er triumphierend,
während er noch ein weiteres Geschenk unter den Zweigen
herausfischte. Toby kniete neben ihm, und Kit konnte an der Miene
seines Bruders ablesen, dass er sich fragte, ob unter dem
Weihnachtsbaum wohl auch Geschenke für ihn waren.
»Quatsch«, sagte Lally. Sie thronte auf einem
Polsterhocker und blickte hochmütig auf ihren kleinen Bruder herab.
»Und interessieren tut das auch keinen. Du bist doch ein Wichser.«
Mit halb geschlossenen Lidern schielte sie zu Kit herüber, wie um
zu sehen, ob er von ihrem Vokabular beeindruckt war. Das war er. Er
hoffte nur, dass sie nicht merkte, wie er errötete, während sein
Blick unwillkürlich zur Tür ging. Gemma hätte ihm eine schallende
Ohrfeige gegeben, wenn er so ein Wort in den Mund genommen hätte,
und er wollte nicht, dass sie schlecht von Lally dachte.
»Gar nicht wahr.« Sam ließ kurz von seinen
Geschenkpaketen ab, um seiner Schwester einen finsteren Blick
zuzuwerfen, während Toby, der allmählich das Interesse daran
verlor, die Schätze eines anderen zu bewundern, zum Kamin
schlenderte.
»Du weißt ja gar nicht, was das heißt.«
»Doch weiß ich das. Es …«
Bevor Sam sie alle aufklären konnte, schwatzte Toby
dazwischen. »Kit! Kit, schau mal! Da stehen unsere Namen drauf.« Er
zeigte auf die Strümpfe, die am Kaminsims hingen. Es waren vier,
jeder mit einem anderen Weihnachtsmuster, und ihre breiten
Samtstulpen waren mit Namen bestickt. Toby streckte sich und fuhr
die Buchstaben auf dem letzten Strumpf mit dem Finger nach. »Da
steht Toby.« Mit seinen fünf Jahren war er unheimlich stolz
auf seine rudimentären Lesekenntnisse.
Als Kit näher trat, erblickte er seinen eigenen
Namen neben dem Tobys; die beiden anderen Strümpfe waren mit
Sam und Lally beschriftet.
»Oma wollte nicht, dass ihr euch ausgeschlossen
fühlt«, ließ
Lally sie wissen – mit dem Effekt, dass Kit sich noch
unbehaglicher fühlte. Nichts war ihm unangenehmer, als mit der Nase
darauf gestoßen zu werden, dass er nicht dazugehörte, und deswegen
bemitleidet werden wollte er auch nicht.
Nachdem er nicht mehr im Mittelpunkt stand, war Sam
von seinem Geschenkehaufen aufgestanden und hopste nun ungeduldig
herum. »Kommt, ich zeig euch meinen Gameboy«, kommandierte er. »Er
ist oben. Mein Papa hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.«
»Kit will deinen Gameboy nicht sehen«, erteilte ihm
Lally eine kategorische Abfuhr. »Nimm Toby mit.«
Sam zögerte. Seine Miene spiegelte seinen inneren
Kampf deutlich wider. Er wollte bei Toby mit seinem Spielzeug
angeben, aber sich von seiner Schwester herumkommandieren lassen
wollte er auch nicht. Der Besitzerstolz trug den Sieg davon. »Okay.
Aber wir sind gleich wieder da. Komm, Toby.«
Kit stockte der Atem vor Panik, als die Tür sich
hinter den Jungen schloss. Was sollte er denn bloß mit Lally reden,
wenn sie allein waren? Doch seine Sorge erwies sich als
überflüssig.
»Ich weiß, wo Oma den Sherry aufbewahrt«,
verkündete Lally. »Wir können uns einen kleinen Schluck genehmigen,
aber nicht zu viel, sonst merkt sie, dass was fehlt.«
»Sherry?« Kit verzog das Gesicht. Er hatte einmal
bei Gemmas Freundin Erika nippen dürfen. »Das Zeug ist doch eklig.
Schmeckt wie Hustensaft. Wieso willst du so ein Zeug
trinken?«
»Egal, Hauptsache, es dröhnt, oder nicht?« Sie
glitt von ihrem Polsterhocker und öffnete einen Schrank in der Nähe
des Kamins. »Opa versteckt hier auch seinen Whisky, aber der ist
echt teuer, und er sagt, er kontrolliert immer, ob auch nichts
verdunstet ist.«
Kit starrte ihren Rücken an, als sie sich nach
einer Flasche reckte. Konnte das wirklich ein Tattoo sein, was da
auf dem
nackten Stück Haut zwischen ihrem T-Shirt und dem Saum ihrer Jeans
zum Vorschein kam? Schon drehte sie sich wieder zu ihm um, die
Flasche in der Hand, und er schlug rasch die Augen nieder.
Lally entkorkte die Flasche und nahm einen Schluck,
aber ihm fiel auf, dass es nur ein sehr kleiner war und sie Mühe
hatte, nicht das Gesicht zu verziehen. »Bist du sicher, dass du
keinen magst?«, fragte sie und hielt ihm die Flasche hin.
Errötend schüttelte Kit den Kopf. Würde sie ihn
jetzt für ein Weichei halten?
»Erzähl mir doch nicht, dass du daheim nie an die
Bar deiner Eltern gehst!« Lally wischte den Flaschenhals mit dem
Saum ihres T-Shirts ab und verschloss die Flasche.
»Die haben nie viel Alkohol im Haus«, antwortete
Kit ausweichend. Duncan hatte meistens eine Flasche Whisky in
seinem Arbeitszimmer, und im Kühlschrank fand sich oft eine Flasche
Wein und ein wenig Bier, aber er würde eher sterben, als zuzugeben,
dass er nie auf die Idee gekommen war, heimlich davon zu trinken.
Im Übrigen hatte Duncan ihn einmal einen Schluck mit Wasser
verdünnten Wein probieren lassen, als sie Gäste zum Abendessen
hatten, und der hatte ihm nicht besonders geschmeckt.
»Du musst einen Sinn für die edleren Dinge im Leben
entwickeln«, sagte Lally, während sie zu ihrem Polsterhocker
zurückging. Kit hatte das Gefühl, dass sie etwas nachbetete, was
sie schon oft gehört hatte. Sie setzte sich, zog die Knie hoch bis
unters Kinn und musterte ihn.
Kit kam sich vor wie ein Insekt, das sie unters
Mikroskop gelegt hatte, um es zu sezieren. Er wand sich und suchte
verzweifelt nach irgendetwas, ganz gleich was, womit er ihr
imponieren könnte.
Die Frage, mit der Lally ihn von seinen Qualen
erlöste, verwirrte ihn nur noch mehr. »Streiten deine Eltern
oft?«
»Ich … na ja, manchmal schon.« Wusste Lally, dass
Gemma nicht seine richtige Mutter war, dass seine Mutter gestorben
war? Wenn nicht, würde sie es von ihm nicht erfahren.
Er dachte an das gespannte Schweigen, das manchmal
zwischen Duncan und Gemma herrschte, seit Gemma das Baby verloren
hatte, und ihm wurde plötzlich kalt ums Herz. Auch darüber wollte
er nicht reden.
»Meine Mama und mein Papa streiten sich ständig«,
fuhr Lally fort, als hätte sie gar keine Antwort erwartet. »Sie
meinen immer, wir hören sie nicht, aber wir hören sie doch.
Deswegen ist Sam so überdreht, weißt du. Früher war er nicht so.
Oder jedenfalls nicht so schlimm. Und seit Mama ihre Firma hat, ist
sie kaum noch da, wenn wir aus der Schule kommen. Glaubst du
wirklich, dass meine Mama eine Leiche gefunden hat?«, fragte sie
und setzte sich ein wenig aufrechter hin.
Kit, der noch nicht allzu viel darüber nachgedacht
hatte, da seine Eltern schließlich ständig irgendwelche Leichen zu
finden schienen, antwortete: »Na, wenn sie’s gesagt hat, wird es
wohl so sein.« Es klang jedenfalls nicht wie etwas, was man sich
einfach so ausdachte.
»Was meinst du, wie das wohl war?« Lallys Augen
funkelten.
Sofort schoss Kit der eine Gedanke durch den Kopf,
den er nicht ertragen konnte, und er sah das Bild vor sich, so
deutlich wie an dem Tag, als es passiert war. Er spürte die
aufkommende Übelkeit, und er begann zu schwitzen. Um das Thema zu
wechseln, fragte er: »Wo wohnt ihr eigentlich?«
»In Nantwich, in der Nähe vom Marktplatz.« Lally
schien seinen verständnislosen Blick bemerkt zu haben. »Du kennst
die Stadt noch gar nicht, oder? Ist stinklangweilig. Aber man kann
sich schon irgendwie beschäftigen. Sobald sie uns nach dem Essen
gehen lassen, führe ich dich ein bisschen herum.« Die Wohnzimmertür
flog mit einem Knall auf. Kit fuhr zusammen und sah Sam
hereinschauen.
»Mama hat eben angerufen. Wir fahren zu uns, alle
zusammen in Opas Kombi. Oma sagt, die Hunde müssen wir hier
lassen.«
»Mein Papa mag keine Hunde im Haus«, erklärte Lally
und sprang auf. »Komm, wir holen unsere Jacken. Wenn wir uns
beeilen, kriegen wir die besten Plätze.«
Und Kit, der sich nie freiwillig von seinem kleinen
Terrier trennte, trottete still hinter ihr her.
Mit acht entdeckte er die Lust an der
Grausamkeit. Seine Mutter hatte ihm ein besonderes Vergnügen
versprochen: Sie würden sich einen schönen Nachmittag machen, nur
er und sie. Zuerst ins Kino, danach Eis essen. Aber in letzter
Minute hatte ein Freund angerufen und sie zum Essen eingeladen, und
sie hatte nur ein paar Worte der Entschuldigung gemurmelt, hatte
ihm einmal übers Haar gestrichen und war verschwunden.
Zuerst war ihm ganz schlecht vor Wut. Er
schrie und trat gegen die Wand in seinem Zimmer, aber die Schmerzen
zwangen ihn bald, damit aufzuhören. Er wollte jemandem wehtun, aber
nicht sich selbst.
Und es konnte ihn auch niemand hören. Seine
Mutter hatte sicher ihre Nachbarin, Mrs. Buckham, gebeten, nach ihm
zu sehen und ihm Abendessen zu geben, aber vorläufig hatte er das
Haus für sich. Er richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel
den Rotz von der Nase.
Langsam schlenderte er zum Zimmer seiner
Mutter. Ihr Duft erfüllte noch den Raum, eine Mischung aus Parfüm,
Haarspray und noch etwas anderem, undefinierbar Weiblichem. Die
Sachen, die sie für den Nachmittag mit ihm angezogen hatte, lagen
achtlos hingeworfen auf dem Bett, eingetauscht gegen etwas
Schickeres. Sie hatte ihr Puder verschüttet, fächerförmig
ausgebreitet lag es auf der Glasplatte ihres Schminktischs wie
bleicher, rosiger Sand. Er schrieb ZICKE in den Staub, dann wischte
er das Wort wieder aus – schon damals hatte er gewusst, dass man
mit Grobheit selten befriedigende Ergebnisse
erzielte. Und er hatte etwas anderes entdeckt. Ihre Perlenkette,
ein Geschenk seines Vaters, das sie besonders liebte, war zu Boden
geglitten und lag dort als kleiner, glitzernder Haufen. Er hob sie
auf, ließ die samtigen Kugeln durch seine Finger gleiten, dann rieb
er sie an seiner Wange und verspürte dabei eine ebenso unerwartete
wie angenehme körperliche Erregung. Sein Puls ging schneller, als
er sich im Zimmer umsah. Bald hatte er genau das entdeckt, was er
brauchte – den Hammer, den seine Mutter hatte liegen lassen,
nachdem sie einige Bilder aufgehängt hatte.
Zuerst packte er die Kette mit beiden Händen
und zog kräftig daran. Die Schnur riss mit einem lustigen kleinen
Knall, und die Perlen ergossen sich in einem chaotischen Schwall
über den Teppich. Dann hob er den Hammer und zerschlug sorgfältig
und gründlich jede einzelne Perle zu einem Häufchen glitzernden
Staubs.
Im Augenwinkel sah er etwas schimmern – zwei
waren ihm entkommen und lagen dicht ans Bein des Schminktischs
geschmiegt, als ob sie sich versteckten. Er holte mit dem Hammer
aus – und hielt inne. Einem plötzlichen Impuls folgend, hob er die
zwei Perlen auf. Kühl und fest lagen sie in seiner Hand. Dann
steckte er sie in die Hosentasche. Er würde sie als Andenken
behalten. Erst später sollte er lernen, dass man so etwas ein
Souvenir nannte.
Die Befriedigung, die er nach diesem Akt der
Zerstörung empfand, war anders als alles, was er bisher gekannt
hatte, doch das war erst der Anfang. Zitternd vor Furcht und
Erregung wartete er darauf, dass seine Tat entdeckt würde. Seine
Mutter kam nach Hause und ging nach oben, doch der Wutausbruch
blieb aus. Stattdessen schloss sie sich mit der Erklärung, sie habe
Kopfschmerzen, in ihrem Zimmer ein. Erst am nächsten Morgen, als er
ihr am Frühstückstisch gegenübersaß, sah er die Angst in ihren
Augen.