13
»Ich habe dir ein Fertiggericht vor die Mikrowelle gestellt«, sagte Althea Elsworthy zu ihrer Schwester Bea. Es war kurz vor acht, und seit sie sich erinnern konnte, sagte sie exakt diesen Satz jeden Morgen um exakt die gleiche Uhrzeit. Es war ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Rituals, und jede Abweichung würde Bea so verstören, dass Althea sie erst mühsam beruhigen müsste, ehe sie zur Arbeit im Krankenhaus aufbrechen konnte.
»Mein Mittagessen«, sagte Bea. »Sind es Käsemakkaroni?«, setzte sie in quengeligem Ton hinzu und zog die breite Stirn in Falten.
»Ja, und ich habe dir auch einen Apfel hingelegt«, antwortete Althea lächelnd. Es waren immer Käsemakkaroni, doch Bea musste immer nachfragen. Abends versuchte Althea den Speiseplan ihrer Schwester ein wenig zu variieren, wenngleich auch das viel Überredung kostete, und sie war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass das immer gleiche Mittagessen ein geringer Preis dafür war, dass sie ihre Schwester weiterhin tagsüber allein lassen konnte.
Beatrice Elsworthy war seit ihrem neunten Lebensjahr hirngeschädigt. Sie hatte bei dem Autounfall, der ihren Vater das Leben gekostet hatte, ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Er hatte getrunken, und er hatte gegen den Willen ihrer Mutter darauf bestanden, am Sonntagnachmittag mit den beiden Mädchen zum Eisessen zu fahren. Am ersten Kreisverkehr hatte er die Vorfahrt missachtet und war mit einem Lastwagen kollidiert. Althea hatte an diesem Tag zufällig hinten sitzen müssen und war mit einem gebrochenen Arm und einem ausgeschlagenen Schneidezahn davongekommen.
Der Tod ihres Vaters war nicht Strafe genug gewesen, um den Zorn ihrer Mutter zu besänftigen. Die restlichen Jahre von Altheas Kindheit hatte sie damit verbracht, ihre schwer verletzte jüngere Tochter zu pflegen und ihren Groll zu nähren. Im gleichen Jahr, in dem Althea ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte, war sie ihrem Krebsleiden erlegen, und seitdem pflegte Althea ihre Schwester.
Jetzt setzte sie Bea in ihren Lieblingssessel mit Blick auf den Garten ihres Häuschens. Vorher hatte sie schon die Vogelhäuschen mit Futter bestückt und Nüsse für die Eichhörnchen auf den alten Baumstumpf gelegt. Bea würde den ganzen Vormittag die Vögel beobachten und dazu Radio hören. Mittags würde sie sich ihr Fertiggericht aufwärmen, und um Punkt eins würde sie den Fernseher einschalten, der schon auf BBC 1 eingestellt war.
Die Komplexität des menschlichen Gehirns faszinierte Althea immer wieder aufs Neue. Wie war es zum Beispiel möglich, dass ihre Schwester, die sich nicht einmal selbst um ihr Mittagessen kümmern konnte, in der Lage war, sich jede Figur der Endlos-Radioserie The Archers zu merken, oder in allen Einzelheiten zu schildern, wer in den diversen Nachmittags-Talkshows im Fernsehen aufgetreten war?
Gegen vier würde ihr Nachbar Paul Doyle auf eine Tasse Tee bei Bea vorbeischauen, und vielleicht auch auf ein einfaches Kartenspiel um Pennys. Nichts machte Bea glücklicher, als einen Stapel glänzender Kupfermünzen einheimsen zu können, und Althea vermutete, dass Paul sie nagelneu von der Bank besorgte, auch wenn er das nie zugeben mochte.
In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass sie sich nach der Arbeit ganz besonders beeilte, nach Hause zu kommen, um Paul noch anzutreffen und mit ihm ein halbes Stündchen am Kamin sitzen und etwas trinken zu können. Sie und Bea kannten ihn und seine inzwischen verstorbene Frau schon seit Jahren, aber erst nach seiner Pensionierung – er war Lehrer an einer örtlichen Schule gewesen – hatte er begonnen, sie regelmäßig zu besuchen.
Althea sagte sich, dass es nur natürlich sei, ein wenig Gesellschaft zu suchen. Mit ihren Kollegen hatte sie nie über ihr Privatleben gesprochen, und sie hatte es auch weiterhin nicht vor. Wenn sie etwas nicht ertragen konnte, dann war es Mitleid. Und es wäre auch nicht gerechtfertigt gewesen – sie brauchte Bea ebenso sehr, wie Bea sie brauchte. Doch ihre Reserviertheit machte es nicht einfach, Freundschaften zu pflegen.
Sie rief ihren Hund, der sogleich von seiner Decke neben dem Herd aufstand und sich streckte, bis die Gelenke knackten. Gerade hatte sie das Radio eingeschaltet, da klingelte es an der Tür. Der Hund ließ ein tiefes Wuff hören und trottete mit klickenden Krallen über den Fliesenboden zur Tür.
Althea runzelte die Stirn. Besucher verirrten sich kaum zu dem abgelegenen Cottage, und auch Paul schaute nur selten morgens vorbei. Sie tätschelte ihrer Schwester die Schulter und sagte: »Bin gleich wieder da, mein Herz.«
»Du gehst doch nicht weg, ohne mir Bescheid zu sagen?«
»Nein. Ich versprech’s dir.« Althea folgte dem Hund in die Diele und schob seinen Kopf zur Seite, um die Tür einen Spalt breit öffnen zu können. Verblüfft starrte sie in das Gesicht der Frau, die auf der Türschwelle stand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie es einordnen konnte – es war älter und hagerer als damals, als sie es zuletzt gesehen hatte -, doch der Name fiel ihr in dem Moment wieder ein, als die Frau sagte: »Dr. Elsworthy? Erinnern Sie sich an mich? Annie Le…« Sie hielt inne und schien sich zu korrigieren. »Annie Constantine. Tut mir leid, dass ich Sie zu Hause störe.«
Nicht so leid, als dass es Sie daran gehindert hätte, dachte Althea, doch ihre Neugier war geweckt. Sie hatte des Öfteren beruflich mit Constantine zu tun gehabt, wenn das Jugendamt in die Untersuchung eines Todesfalles involviert gewesen war, hatte sie aber schon einige Jahre nicht mehr gesehen. Sie spürte den warmen Atem des Hundes an ihrer Hüfte und bemerkte die ängstlichen Blicke, die ihre Besucherin in seine Richtung warf. »Das ist nur Dan, er ist völlig harmlos«, sagte sie, während sie die Tür weiter aufzog, damit der Hund in den Garten laufen konnte.
»Dan?«, fragte Annie Constantine und hielt die Arme steif an den Körper, als der Hund sich an ihr vorbeischob, um einem Eichhörnchen hinterherzujagen.
Althea lächelte still in sich hinein. Der Hund war eine Kreuzung von Irischem Wolfshund und Mastiff, und jeder nahm an, dass er einen Namen wie Brutus oder Cäsar haben müsse. Sie hatte ihn Danny Boy genannt und sang ihm die gleichnamige Schnulze vor, wenn sie allein mit ihm im Auto war, aber sie hatte nicht die Absicht, irgendjemanden in ihren kleinen privaten Scherz einzuweihen. Und sie würde die Frau auch nicht hereinbitten. Ein einziger fremder Besucher genügte, um Bea für mehrere Tage aus der Fassung zu bringen.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Constantine?«, fragte sie, indem sie vor die Tür trat und sie hinter sich zuzog.
»Ich heiße jetzt Lebow«, erklärte die Frau, was ihr Zögern von vorhin erklärte. »Ich habe wieder meinen Mädchennamen angenommen.«
Althea, die sich nicht sicher war, ob das ein Anlass für Glückwünsche oder Beileidsbekundungen war, nickte nur. »Bitte, fahren Sie fort.« Der klare blaue Himmel der letzten Tage war jetzt von grauen Wolkenfetzen verhüllt, passend zur Farbe des Schneematschs auf dem Boden, und die Kälte begann durch ihren dicken Pullover zu dringen.
»Ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten«, sagte Lebow und hüllte sich fester in ihre Fleecejacke, als stellte sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein. Und dann erzählte sie Althea, was sie von ihr wollte.
 
»Ich sehe nicht ein, wieso ich mir das antun muss.« Juliet Newcombe klang so trotzig wie eine Zehnjährige, die zu einem Krankenbesuch bei einer ungeliebten Tante geschleift wird.
Kincaid nahm die Augen lange genug von der Straße, um einen kritischen Blick auf seine Schwester zu werfen, die neben ihm auf dem Beifahrersitz von Gemmas Escort saß. Es schien ein grauer und unangenehm kalter Tag zu werden, und obwohl sie schon die Hälfte der Strecke nach Crewe hinter sich hatten, war es im Wagen noch nicht merklich wärmer geworden. Juliet hielt ihre Jacke am Kragen zu, und es schien, als wolle sie sich damit vor mehr als nur der kalten Luft schützen, die aus den Lüftungsschlitzen strömte. Jetzt wandte sie das Gesicht ab, doch er hatte die dunklen Schatten unter ihren Augen schon gesehen.
Als er sie mitnahm, hatte er sich damit gerechtfertigt, dass er mit seiner Schwester reden müsse – was auch stimmte. Allerdings fürchtete er, dass Gemma ihn gut genug kannte, um zu ahnen, dass er auch neugierig war, welche Fortschritte die örtliche Polizei bei der Identifizierung der mumifizierten Kinderleiche gemacht hatte.
Jetzt sah er noch einmal zu Juliet hinüber, die weiterhin unversöhnlich vor sich hin starrte, und sagte in vernünftigem Ton: »Es ist reine Routine, das habe ich dir doch schon gesagt. Und da du sowieso nicht weiterarbeiten kannst, solange die Polizei den Fundort nicht freigegeben hat, ist es doch nur in deinem Interesse, dich möglichst kooperativ zu zeigen.« Dann fiel ihm ein, dass seine eigentliche Absicht ja war, sie zum Reden zu bringen, und er fügte hinzu: »Sieh mal, ich weiß doch, dass du im Moment eine schwierige Zeit durchmachst mit Caspar. Wenn ich irgendetwas tun …«
Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass sich ein paar Strähnen ihres dunklen Haars aus der Spange lösten. Als sie antwortete, schien jedes ihrer Worte mit wilder Entschlossenheit geladen. »Es gibt nichts, was irgendwer tun könnte. Er ist ein totales Arschloch, und ich bin eine Vollidiotin, weil ich das nicht schon vor Jahren gemerkt habe.« Sie brach ab und presste die Lippen zusammen, wie um den Wortschwall abzuschneiden. Dann zuckte sie mit den Achseln. »Aber trotzdem danke.«
»Dann werdet ihr euch wohl kaum mit einem Küsschen wieder versöhnen«, meinte Kincaid und fragte dann: »Jules, hast du Angst vor ihm?«
Ihr Schulterzucken wirkte verkrampft. »Nein. Ja. Ich weiß es nicht. Er hat mich nie … geschlagen oder so was. Aber … in letzter Zeit war er so anders. Die Sachen, die er an Heiligabend gesagt hat …« Er sah, wie ihr bei der Erinnerung an die Szene das Blut in die Wangen schoss. »Und gestern … da habe ich einfach total überreagiert. Und jetzt kann ich doch nicht einfach nach Hause zurückgehen und so tun, als wäre nichts geschehen.«
»Hat er versucht, dich anzurufen?«
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht bei Mama und Papa, und mein Handy habe ich ausgeschaltet. Ich habe Lally ihres auch weggenommen – ich wollte nicht, dass er sie anruft. Sie ist furchtbar sauer auf mich. Man könnte meinen, ich hätte ihr einen Arm amputiert.«
Aber Kincaid ließ sich nicht so leicht abbringen. »Glaubst du nicht, dass Caspar sich Sorgen um dich macht?«
Diesmal sah Juliet ihn tatsächlich an, aber nur lange genug, um die Augen zu verdrehen. »Er muss wissen, wo ich bin, sonst hätte er Mama und Papa wohl schon die Tür eingerannt. Und außerdem – wo sollte ich denn sonst hingehen? Ich gehöre ja schließlich nicht zu den oberen Zehntausend, die sich mal eben die Villa von Freunden in Cap-Ferrat ausleihen können, um ein paar Tage in Ruhe nachzudenken.«
Sarkasmus war immer schon die Waffe seiner Schwester gewesen; daran hatte sich jedenfalls nichts geändert. »Na ja, irgendwann wirst du mit ihm reden müssen. Wenn du willst, kann ich mitgehen – zu euch nach Hause oder ins Büro.«
»Nein!« Panik ließ Juliets Stimme anschwellen. »Ich kann nicht mit ihm reden. Noch nicht. Nicht, bevor ich mir überlegt habe, was ich machen will. Die Kinder, das Haus … Wie kann ich denn …?«
»Jules«, unterbrach er sie sanft, »du wirst ja wohl nicht behaupten wollen, dass der gegenwärtige Zustand gut für die Kinder ist.«
»Nein, aber … ich sehe einfach keine anderen Möglichkeiten.« Inzwischen war es angenehm warm im Auto, und sie hatte den Kragen ihrer Jacke losgelassen. Dafür fingerte sie nun nervös an einem losen Knopf herum.
»Du sagst Caspar, dass er ausziehen soll. Dann besorgst du dir einen Anwalt und reichst die Scheidung ein.«
Juliet schnappte nach Luft, als hätte sie einen Schlag in den Solarplexus bekommen.
»Das ist nun mal die Konsequenz von all dem, Jules. Es sei denn, du denkst, dass man mit Eheberatung oder irgendeiner Art Vermittlung …«
»O Gott, nein.« Sie lachte bitter auf und rieb sich die Augen. »Caspar und Eheberatung? Eher würde er sterben.«
»Dann …«
»Du denkst, das ist alles so verdammt einfach, wie?« Zum ersten Mal sah sie ihn richtig an und sagte: »Dann erzähl mir doch mal, wie ich meine Kinder allein ernähren soll.«
»Deine Firma …«
»Ich schaffe es ja nur mit Müh und Not, meine Leute zu bezahlen und den Kopf über Wasser zu halten. Wenn dieser Auftrag erledigt ist, könnte vielleicht ein bisschen was übrig bleiben, aber wir sind ohnehin schon im Verzug, und jetzt …«
»Das Zauberwort heißt Alimente, Jules.« Kincaid riss allmählich der Geduldsfaden. »Caspar wird seinen Beitrag zum Unterhalt der Kinder leisten müssen. Das ist ja wohl selbstverständ…«
»Du verstehst das nicht. Du kennst ihn nicht. Er wird irgendeinen Weg finden, sich da rauszumogeln. Nur weil du dich anständig verhältst, kannst du nicht davon ausgehen, dass andere Väter es genauso machen.« Dann, als schämte sie sich für ihren Ton, sackte sie plötzlich in ihrem Sitz zusammen und legte die Hand auf seinen Arm. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das war nicht fair. Und ich hab dir nie gesagt, wie ich mich für dich gefreut habe – wie stolz ich auf dich war wegen allem, was du für Kit getan hast. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, dich um deine Vollkommenheit zu beneiden, um zu erkennen, dass das alles keineswegs selbstverständlich war.«
Kincaid sah seine Schwester verblüfft an. Was hatte er denn getan, dass sie auf die Idee kam, er sei vollkommen? War das der Grund, weshalb sie immer so wütend auf ihn zu sein schien?
»Ich war so naiv zu glauben, alle Männer wären so wie du und Papa. Manchmal denke ich, dass es eine schlechte Vorbereitung auf das wirkliche Leben ist, wenn man in einer so ›normalen‹ Familie aufwächst. Aber du – deine Erfahrungen können doch nicht so viel anders sein als meine. Wie machst du das eigentlich? Wie schaffst du es, dass solche Sachen wie der Fund eines mumifizierten Babys einfach an dir abprallen?«
»So ist es ja nun auch wieder nicht«, entgegnete er verletzt. »Es geht nicht darum, alles an sich abprallen zu lassen. Man lernt eben einfach … die Dinge voneinander zu trennen. Man sieht es als ein Problem, für das man eine Lösung finden muss, und es gefällt mir, zu wissen, dass ich konkret etwas tun kann.« Was er ihr verschwieg, war, wie oft die Grenzen sich verwischten, wie oft das Grauen auch in den Alltag hinüberschwappte – ganz besonders, seit Gemma und die Jungs in sein Leben getreten waren.
»Also geht es um Macht. Ist es das? Du siehst dich wohl gerne als ein Werkzeug der Gerechtigkeit?« Sie provozierte ihn schon wieder, und ihre Zerknirschung von vorhin schien wieder vergessen.
»Nein.« In seiner ersten Zeit bei der Polizei hätte er wohl zugeben müssen, dass an ihrer Einschätzung etwas Wahres dran war. Aber heute gab es einfach zu viele Tage, an denen die Niedertracht und die Engstirnigkeit der Menschen, mit denen er zu tun hatte, ihn zu überwältigen drohten; Tage, an denen er sich Mühe geben musste, den kleinen Funken Menschlichkeit in dem ganzen Abschaum noch zu erkennen.
Juliet musste die Mattigkeit in seiner Stimme gehört haben, denn nach einem kurzen Blick wandte sie sich wieder von ihm ab. Während er den Wagen durch den Kreisverkehr lenkte, ließ er sich die Worte seiner Schwester durch den Kopf gehen und überlegte, wie er am besten darauf reagieren könnte. Und dann begann sein Herz plötzlich schneller zu schlagen, als ihm klar wurde, welches Thema sie so geschickt umschifft hatte, indem sie das Gespräch auf ihre und Kincaids Herkunftsfamilie lenkte.
»Jules«, sagte er streng, »diese Sachen, die Caspar gestern gesagt hat – ist da irgendwas Wahres dran? Ist das der Grund, weshalb du ihm aus dem Weg gehst?«
 
Es war ja nicht so, als ob Ronnie Babcock keinen Frust gewohnt wäre. Polizeiarbeit hatte sehr viel mit Frust zu tun – selten wurde ein Fall in den ein oder zwei Tagen gelöst, die in Fernsehkrimis die Standardvorgabe waren. Aber meistens gab es doch wenigstens den einen oder anderen kleinen Fortschritt.
Es gab zum Beispiel Verwandte, Bekannte oder Nachbarn, die man vernehmen konnte. Die Spurensicherung förderte in der Regel das eine oder andere interessante Detail zutage, oder die Rechtsmedizin konnte ihnen sagen, ob der Täter Rechtshänder war oder das Opfer die Promillegrenze um das Doppelte überschritten hatte, als es von dem Auto überfahren wurde.
Aber dieser Fall war bis jetzt eine einzige Serie von Sackgassen. Dr. Elsworthy hatte den Leichnam des Kindes an die Forensische Anthropologie weitergeleitet, doch Babcock wusste, dass noch ein oder zwei Tage ins Land gehen würden, bevor er mit einem Bericht rechnen könnte.
Obwohl die Suche von dem Gebäude auf den Zufahrtsweg und die umliegenden Wiesen ausgeweitet worden war, hatte der Suchtrupp keine weiteren interessanten Entdeckungen gemacht – nicht, dass die Fundstücke im Viehstall selbst so furchtbar interessant gewesen wären. Immerhin hatten sie einen kleinen Vorrat an Wodkaflaschen gefunden, versteckt unter einem Stapel Bretter in der Ecke.
Und die Nachbarn, die ihnen vielleicht die aktuelle Adresse der spurlos verschwundenen Smiths – der früheren Besitzer des Viehstalls – liefern könnten, waren noch nicht aus dem Weihnachtsurlaub zurück. Die Fabrik, aus der die Babydecke stammte, hatte noch geschlossen, und Babcocks alter Kumpel Jim Craddock, der den Verkauf des Besitzes von den Smiths an die Fosters abgewickelt hatte, machte Urlaub auf Teneriffa.
Auch Rasanskys Nachforschungen in den Geschäften der Umgebung, in denen die Babydecke möglicherweise gekauft worden war, waren ergebnislos geblieben. Babcock hatte ihn in seinem Frust – ungerechterweise, wie er sehr wohl wusste – dazu verdonnert, die Fosters noch einmal zu vernehmen. Allerdings konnte er sich vorstellen, dass Rasansky den Auftrag gar nicht als Strafe empfinden würde – vermutlich würde er sich mit den Fosters blendend verstehen.
»Was denken Sie gerade, Chef?«, fragte Sheila Larkin und setzte sich auf die Ecke des Schreibtischs, den er für die Einsatzzentrale organisiert hatte. Er sah, dass sie heute dem winterlichen Wetter Tribut gezollt hatte und unter ihrem knappen Röckchen eine Strumpfhose und Stiefel trug. »Sie sehen aus, als wären Sie heute Morgen mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden«, fügte sie hinzu, während sie ihn kritisch beäugte.
»Die Heizung ist immer noch kaputt«, gab er zu. Er hatte die Nacht wieder auf dem Wohnzimmersofa verbracht, begraben unter sämtlichen Decken, die das Haus hergab. Natürlich hatte er schlecht geschlafen, und natürlich hatte er wieder keine Zeit für den Morgenkaffee gehabt.
»So ein Urlaub in der Karibik wäre jetzt wirklich nicht schlecht«, sagte sie mitfühlend, und ihm fiel auf, dass ihre Augen von einem so tiefen Meergrün waren, dass man darin hätte eintauchen können. Reine Assoziation, verbunden mit akutem Schlaf- und Koffeinmangel, sagte er sich, während er blinzelte und rasch wegsah.
Außer ihm und Sheila war nur ein weiterer Beamter im Raum, der damit beschäftigt war, Berichte zu sortieren. Der Fall hatte eine zu geringe Priorität, als dass er einen größeren Personaleinsatz gerechtfertigt hätte, und außerdem waren einfach noch nicht genug Informationen eingegangen. Der Hauptanschluss läutete, und Larkin rutschte von der Schreibtischkante, um den Anruf anzunehmen. Sie hörte einen Moment zu, sagte »in Ordnung, danke« und legte auf.
»Ihre Starzeugin ist da«, vermeldete sie. »Soll ich sie runterbringen?«
»Nein, ich glaube, wir machen das lieber in meinem Büro und nicht hier im Verlies. Ist auf jeden Fall vertrauenerweckender.«
»Ist es denn unbedingt notwendig, das Vertrauen Ihrer Mrs. Newcombe zu erwecken?«, fragte Larkin, als sie sich auf den Weg zum Empfang machten. »Wir brauchen doch nur ihre Aussage mit der Beschreibung der Leiche und dazu die Namen aller Männer aus ihrem Trupp.«
Babcock dachte an Juliet Newcombes verängstigten Gesichtsausdruck bei ihrer Begegnung gestern Abend und an Piers Duttons ziemlich offensichtlichen Versuch, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. »Ich denke, der Fall liegt vielleicht ein bisschen komplizierter«, meinte er, ohne seine heimliche Hoffnung zu erwähnen, dass Kincaids Freundin wie versprochen Mrs. Newcombe hergebracht hatte. Gegen einen kleinen Schwatz mit der rothaarigen Gemma James hätte er durchaus nichts einzuwenden gehabt.
Doch als sie die Eingangshalle betraten, war es Kincaid selbst, der neben seiner Schwester stand.
Mit seiner Jeans und der abgewetzten Lederjacke wirkte Kincaid schon viel lockerer als bei ihrer Begegnung an Heiligabend, während Juliet Newcombe zwar unglücklich aussah, aber nicht mehr ganz so verzweifelt.
Nachdem Babcock die beiden vorgestellt hatte, bekam Larkin große Augen und sagte zu Kincaid: »Ooh, Scotland Yard! Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Wenn Sie irgendwann mal wieder in dieser Gegend sind und Hilfe brauchen …« Auf Babcocks missbilligenden Blick reagierte sie nur mit einem alles andere als schuldbewussten Grinsen und fragte: »Soll ich Mrs. Newcombes Aussage aufnehmen, Sir?«
»Bringen Sie Mrs. Newcombe doch erst mal in den Aufenthaltsraum«, schlug er vor. So könnte Larkin schon einmal die Formalitäten erledigen, während er sich mit Kincaid auf einen Plausch in sein eigenes Büro zurückzog. Und es war immerhin denkbar, dass Larkin, vorwitzig wie sie war, aus Juliet Newcombe irgendetwas herausbekäme.
Doch Juliet drehte sich mit bestürzter Miene zu ihrem Bruder um und sagte: »Aber ich dachte, du würdest dabei sein …«
Kincaid tätschelte ihren Arm. »Mach dir keine Sorgen. Du erzählst Constable Larkin einfach nur ganz genau, was vorgestern Abend passiert ist. Es ist ja bloß für die Akten.«
»Der Kaffee hier ist beschissen«, sagte Babcock, nachdem Larkin Juliet weggeführt hatte, »aber für besondere Gäste habe ich einen Wasserkocher und ein paar Teebeutel in meinem Büro. Wie wär’s mit einem Tässchen?«
»Ich fühle mich geehrt.« Kincaid folgte ihm, und als sie es sich auf den beiden Besucherstühlen in Babcocks Büro bequem gemacht und ihre Teebeutel in die angestoßenen Becher getaucht hatten, blickte er sich in dem engen Zimmer um. »Hast es ja ganz schön weit gebracht, Ronnie«, bemerkte er.
»Tu nicht so gönnerhaft«, erwiderte Babcock schmunzelnd. »Du hast in London wahrscheinlich eine Luxussuite mit Blick auf die Themse.«
Kincaid schüttelte lachend den Kopf. »Das denkst du vielleicht – obwohl, wenn man sich im Büro meines Chefs auf den Stuhl stellt, kann man vielleicht ein Stückchen vom Fluss sehen.« Er fischte seinen Teebeutel heraus und beförderte ihn mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb. »Und, seid ihr mit dem Fall irgendwie weitergekommen?«, fragte er, während er sich zurücklehnte und die Finger um den Becher schlang, um sie zu wärmen.
»Kein Stück«, antwortete Babcock und verzog das Gesicht. Er fasste kurz den Bericht der Pathologin zusammen und beklagte das Fehlen jeglicher Fortschritte auf allen anderen Gebieten. »Du hast nicht zufällig irgendwelche Ideen? Nicht, dass ich Scotland Yard offiziell um Amtshilfe bitte, das ist ja wohl klar.«
»Wie wär’s mit ein bisschen Geduld, mein Junge?«, witzelte Kincaid und hob gleich die Hand vors Gesicht, um einen imaginären Schlag abzuwehren. »Nein, im Ernst, ich würde sagen, ihr sitzt so ziemlich auf dem Trockenen, bis die Nachbarn aus dem Urlaub zurück sind und die Geschäfte wieder aufmachen. Hast du die örtliche Presse informiert?«
»Die Chronicle bringt diese Woche einen Artikel. Vielleicht erinnert sich ja irgendjemand an ein Baby von unbestimmtem Alter, das vor einer unbestimmten Anzahl von Jahren verschwunden ist.«
»Man hat schon Pferde kotzen sehen«, meinte Kincaid. »Aber vielleicht meldet sich ja jemand, der die Adresse der Smiths hat. Ich erinnere mich übrigens noch an die beiden, auch wenn der Name mir vielleicht nicht mehr eingefallen wäre. Aber damals war der Milchhof, zu dem dieser Viehstall gehörte, noch in Betrieb. Jules und ich …«
»Jules?«
»Entschuldigung, ich meine Juliet. Juliet und ich haben uns früher immer am Kanal rumgetrieben – das würde man den Kindern heute ja kaum noch erlauben. Und es ist mehr als einmal vorgekommen, dass uns ein Bauer die Hunde auf den Hals gehetzt hat – nur nicht die Smiths. Ich habe sie als ein sehr freundliches altes Ehepaar in Erinnerung – allerdings nehme ich an, dass sie damals noch nicht ganz so alt waren, wie sie mir als kleinem Jungen vorkamen.«
»Ihr habt euch also ziemlich nahegestanden, du und deine Schwester?«, fragte Babcock.
Kincaid zögerte einen Moment und sagte dann: »Wir sind nur drei Jahre auseinander, und wir haben als Familie ein ziemlich isoliertes Leben geführt, vor allem, als wir noch klein waren. So kam es, dass wir ziemlich viel Zeit miteinander verbrachten. Aber schon damals war ich mir nie ganz sicher, ob ich sie wirklich kenne.« Er zuckte mit den Achseln. »Und ich glaube, es ist ganz normal, dass man sich auseinanderentwickelt, wenn man älter wird.«
Babcock sah eine Chance, seine Neugier bezüglich Juliet Newcombe zu befriedigen. »Ist alles in Ordnung mit deiner Schwester? Gestern schien sie mir doch mitgenommener, als ich gedacht hätte.«
»Ach, sie hat zurzeit … familiäre Probleme«, antwortete Kincaid nach kurzem Zögern.
»Hat das irgendwas mit diesem Baby zu tun?«
»Nein, natürlich nicht.« Die Frage schien Kincaid zu überraschen. »Obwohl ich mir denken kann, dass dieses Erlebnis ihrem seelischen Gleichgewicht nicht gerade gutgetan hat.«
»Verständlich.« Babcock verzog das Gesicht, als die Erinnerung an den ausgetrockneten kleinen Körper in ihm aufstieg. Er drehte seinen Teebecher in den Händen, während er darüber nachdachte, wie viel er preisgeben sollte. »Ich hab mich gestern Abend kurz mit dem Partner deines Schwagers unterhalten. Das ist ja vielleicht ein Arsch. Und ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er deine Schwester auf dem Kieker hat.«
»Auf dem Kieker …«
»Ich spreche von böswilliger Verleumdung«, stellte Babcock klar. »Ich spreche davon, dass er die erste Gelegenheit ergriffen hat, um anzudeuten, dass sie hysterisch und unzuverlässig sei.«
»Wie kommt dieser …?«, setzte Kincaid an, brach dann aber ab und nippte vorsichtig an seinem Tee, der inzwischen längst abgekühlt sein musste. Ein Ausdruck argwöhnischer Reserviertheit legte sich über sein Gesicht wie eine Maske, und Babcock wusste, dass er nicht alles zu hören bekommen würde, was sein alter Freund wusste. »Wieso sollte Piers Dutton meiner Schwester schaden wollen?«, fragte er nach einer Weile, als er seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte.
Babcock zog die Stirn in Falten und dachte laut nach. »Dutton sagte, er wohne seit fünf Jahren in seinem Haus. Aber selbst wenn das Kind vor dieser Zeit eingemauert wurde, wäre es denkbar, dass er von dem Viehstall gewusst hat, bevor er in die Gegend gezogen ist.«
»Willst du damit andeuten, dass Dutton etwas mit diesem Baby zu tun haben könnte? Aber warum hätte er dann meine Schwester für die Renovierung empfehlen sollen?«
»Nun, nehmen wir einmal an, er hätte gewusst, dass die neuen Eigentümer entschlossen waren, den Umbau durchzuführen. Wenn er sowieso sicher war, dass das Baby gefunden würde, sah er darin vielleicht eine Chance, deiner Schwester das Leben schwer zu machen.«
»Und dadurch den Verdacht auf sich selbst zu lenken? Das ist ziemlich weit hergeholt, findest du nicht, Ronnie? Und wenn er für das Baby verantwortlich war und wusste, dass es bei der Renovierung unweigerlich entdeckt würde, wieso hat er es dann nicht einfach vorher verschwinden lassen?«
»Zu riskant?«, gab Babcock zu bedenken.
»Zwischen Duttons Haus und dem Kanal ist nur ein weiteres Haus. Er hätte lediglich eine Nacht abpassen müssen, in der seine Nachbarn garantiert nicht zu Hause waren. Jules hat nicht sehr lange gebraucht, um diesen Mörtel herauszuschlagen – Dutton hätte es in ein paar Stunden schaffen und die Leiche anschließend irgendwo in einen Graben werfen können.«
Babcock seufzte. »Da hast du recht. Tom Foster ist nicht gerade der Zerberus von South Cheshire.« Er rieb sich das Kinn und entdeckte dabei ein paar Stoppeln, die er bei der hastigen Rasur in seinem arktischen Badezimmer übersehen hatte. Neidisch beäugte er seinen alten Kumpel. Kincaid gehörte zu den Männern, denen es einen verwegenen Charme verlieh, wenn sie einmal das Rasieren vergaßen, während er mit seinem zerknautschten Gesicht lediglich aussehen würde, als hätte er die Nacht in einem Müllcontainer verbracht. »Trotzdem, es lohnt sich, die Sache zu überprüfen«, fuhr er fort. »Dutton steckte damals mitten in einer Scheidung. Vielleicht hatte er ein uneheliches Kind gezeugt und wollte zusätzliche Komplikationen vermeiden …«
»Und die Mutter des Kindes war damit einverstanden, es einzumauern? Oder vielleicht hat er sie auch irgendwo verscharrt? Ronnie, du konstruierst dir da was zusammen.«
Babcock konterte mit einem Grinsen. »Wo bleibt deine Fantasie, Junge? Haben die Bürokraten vom Yard sie dir schon so gründlich ausgetrieben? Wer weiß, vielleicht hat er sie ja im Kellergeschoss seines viktorianischen Ungetüms eingemauert. Hast du denn nie Poe gelesen?«
»Wenn du einen Durchsuchungsbeschluss beantragen willst, um in Duttons Haus die Wände einreißen zu können, ist ›Das Fass Amontillado‹ vielleicht eine etwas dürftige Begründung.«
»Okay, okay. Der Punkt geht an dich. Aber ich denke, ich werde Larkin trotzdem mal ein bisschen in Duttons Vergangenheit rumschnüffeln lassen.«
»Deine Detective Constable?« Kincaid zog amüsiert eine Augenbraue hoch. »Helles Mädchen. Und weißt du was? – Ich glaube, sie steht auf dich.«
Babcock verschlug es für einen Moment die Sprache. »Du veräppelst mich doch. Sie ist zu jedem so frech – das hast du ja selbst erlebt. Und du bist schließlich in festen Händen, wenn ich mich nicht irre. Ich hab deine … Freundin ja kennengelernt.«
»Das hat sie mir erzählt – allerdings würde sie wahrscheinlich die Bezeichnung ›Lebensgefährtin‹ vorziehen. Und du weichst vom Thema ab.«
»Also, selbst wenn du recht hättest – und ich sage nicht, dass es so ist -, habe ich immer noch genug Probleme mit meiner Ex, als dass ich mich auf eine Beziehung am Arbeitsplatz einlassen könnte. Obwohl ich zugeben muss, dass meine Chancen, eine interessante Frau zu treffen, die es mit einem Polizisten aushalten würde, gegen null tendieren«, räumte Babcock ein. Noch während er das sagte, fiel ihm ein, dass Kincaid ja geschieden war und dass seine Exfrau, wie er gehört hatte, auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Um seine momentane Verlegenheit zu überspielen, sagte er: »Und wie hat das mit dir und deiner Gemma angefangen?«
Diesmal war Kincaids Grinsen boshaft: »Sie war Sergeant in meiner Abteilung.«
 
Als Althea Elsworthy Rowan Wain sah, wusste sie sofort Bescheid. Dennoch tat sie, was von ihr erwartet wurde, hörte Herz und Lungen ab, machte eine Nagelbettprobe, um die Rekapillarisierung zu prüfen, begutachtete Lippen und Zahnfleisch. Die keuchenden Atemzüge der Frau hallten in der engen Kabine wider.
Die Sozialarbeiterin – Annie Lebow, wie sie sich jetzt nannte – hatte Althea kurz die Vorgeschichte der Wains geschildert und ihr erklärt, warum Rowan Wain und ihr Mann sich weigerten, auf dem herkömmlichen Weg ärztliche Hilfe zu suchen.
»Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?«, hatte Althea erwidert. »Mein Gott. Wer hat denn die Diagnose gestellt?«
Als Annie es ihr sagte, schüttelte sie den Kopf und presste die Lippen zusammen. »Diese schleimige Kröte. Ich will ja nicht behaupten, dass so etwas nicht ab und zu vorkommen kann – dass Eltern ihre Kinder misshandeln, um Aufmerksamkeit zu erregen -, aber dann sollte man das auch genau so nennen, nämlich Kindesmisshandlung, und entsprechend reagieren. Aber dieser Sprake zieht die Diagnose Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom aus dem Hut, wann immer ihm nichts Besseres einfällt oder die Eltern ihn nicht als den Halbgott verehren, für den er sich hält.«
»Und es gibt keine Möglichkeit, die Diagnose aus Rowans Patientenakte löschen zu lassen?«
»Wohl kaum, selbst wenn die Wains unbegrenzte Mittel zur Verfügung hätten und sich die besten Anwälte leisten könnten. Dem Jungen geht es inzwischen gut?«
»Erstaunlich gut, soweit ich das beurteilen kann«, hatte Annie geantwortet, und Althea hatte genickt. Sie hatte Fälle wie diesen erlebt: Kinder, die lange kränkelten und dann aus unerfindlichen Gründen plötzlich die Kurve zu kriegen schienen. Sie hatte beide Kinder kurz gesehen, als sie in der Wohnkabine hinter dem Rücken ihres Vaters hervorgelugt hatten, und sie konnte nur bestätigen, dass beide gesund aussahen, wenngleich ein wenig zu mager. Aber besser zu dünn als so übergewichtig wie viele der Kinder, die sie in letzter Zeit zu sehen bekam – Kinder, die den größten Teil des Tages vor dem Fernseher verbrachten.
»Frau Doktor.« Rowan Wains schwaches Flüstern riss Althea aus ihrer Träumerei. Die dünnen Finger, die Rowan ihr auf den Arm legte, waren kalt und eisblau. »Es ist sehr ernst, nicht wahr?«
»Nun ja, allzu gut sieht es nicht aus«, gab Althea zu. »Ich kann Sie wohl nicht dazu überreden, sich doch einem Krankenhaus anzuvertrauen?«
Rowan schüttelte kaum merklich den Kopf, doch ihr Blick war fest, und es lag eine ruhige Schicksalsergebenheit darin, die Althea nicht ertragen konnte. Sie wandte sich ab, rollte sorgfältig ihr Stethoskop zusammen und legte es zurück in die Tasche. »Ich kann versuchen, Ihnen ein wenig Linderung zu verschaffen«, sagte sie. »Vielleicht würde etwas Sauerstoff Ihnen gut tun.«
»Und das kommt auch nicht in irgendwelche Akten?«
»Das werde ich zu verhindern wissen.«
»Dann wäre das sicher gut. Danke.« Rowan lächelte. »Werden Sie noch mit meinem Mann sprechen?«
»Ja, wenn Sie wollen.« Althea dachte an die besorgten Mienen der Menschen, die außerhalb der winzigen Kabine warteten, und sie wusste plötzlich wieder, warum sie Rechtsmedizinerin geworden war. Mit den Toten konnte sie wesentlich besser umgehen als mit dem Leid der Lebenden. »Ich komme bald wieder«, sagte sie. »Sobald ich das Sauerstoffgerät besorgt habe.«
Rowan fielen schon die Augen zu; die Untersuchung hatte sie erschöpft.
Als Althea die Wohnkabine betrat, traf sie dort nur Annie und Rowans Mann Gabriel Wain an. Die Atmosphäre zwischen den beiden schien gespannt, und Althea fragte sich für einen Moment, ob mehr als nur die Sorge um die Kranke dahintersteckte.
»Ich hab die Kinder raus an Deck geschickt«, sagte Wain, ohne sich mit höflichem Smalltalk aufzuhalten. Auch er war dünn, wie sie jetzt bemerkte, das Gesicht hager und von Sorgen zerfurcht, und seine dunklen Augen durchbohrten sie mit fieberhafter Intensität, als er sie mit knappen Worten aufforderte: »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.«
»Ich fürchte, Sie wissen schon, was ich Ihnen sagen werde, Mr. Wain«, begann Althea. Sie sprach leise, in der Hoffnung, dass ihre Worte in der Kabine nebenan nicht zu verstehen waren. »Ihre Frau leidet an Stauungsinsuffizienz, das ist eine Form von Herzschwäche. Ich verstehe ja Ihre Bedenken bezüglich einer Krankenhausbehandlung, und ich muss auch sagen, dass in Rowans Fall das Herz schon zu stark geschädigt ist, als dass eine Operation noch etwas bewirken könnte – selbst wenn sie sie überstehen sollte. Es gibt Medikamente, die ihr für eine Weile helfen könnten, aber andererseits … Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr ein Sauerstoffgerät besorge, um ihr Linderung zu verschaffen. Es ist Ihnen ja klar, dass das alles lediglich meine persönliche Meinung ist?«, fügte sie hinzu.
Er starrte sie an. »Sie wollen also sagen, dass man gar nichts für sie tun kann? Auch nicht, wenn sie ins Krankenhaus ginge?«
»Langfristig gesehen – leider nein.«
Sie hörte, wie Annie Lebow nach Luft schnappte, und sah die Bestürzung in ihrer Miene, doch Gabriel Wain blickte sie weiter unverwandt an. Seine Augen zogen sie unwiderstehlich an, und für eine Sekunde hatte sie das Gefühl, in den Abgrund seines Kummers hineingezogen zu werden. Aber dann sah sie in der Tiefe etwas aufflackern, was man für Erleichterung hätte halten können, und er schien vor ihren Augen in sich zusammenzusinken. Der eiserne Wille, seine Frau am Leben zu halten, der ihn allzu lange dazu getrieben hatte, über seine Grenzen hinauszugehen, schien gebrochen.
»Haben Sie es ihr gesagt?«, fragte er. »Dass sie sterben wird?«
»Nicht in dieser Deutlichkeit, nein. Möchten Sie, dass ich noch einmal mit ihr spreche?«
Er richtete sich zu voller Größe auf, und noch einmal schien er die enge Kabine mit seiner Persönlichkeit auszufüllen. Die Würde, die er ausstrahlte, gab ihr das Gefühl, ein Eindringling zu sein. »Nein«, sagte er ruhig. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Dr. Elsworthy, aber diese Last muss ich allein tragen.«