27
Der Neujahrstag begann klar und für die Jahreszeit
ungewöhnlich mild. Nach dem Frühstück brach Kincaid zu einem
letzten Besuch bei Ronnie Babcock im Krankenhaus auf. Er war jeden
Tag hingefahren, doch sein Freund hatte stets unter
Beruhigungsmitteln vor sich hin gedämmert, gespickt mit Schläuchen
wie ein Wesen aus einem Science-Fiction-Film. Die Schwestern hatten
aber jedes Mal felsenfest behauptet, er sei auf dem Weg der
Besserung, und sie hatten ihm versprochen, dass heute einige der
Schläuche entfernt würden; außerdem würde die Schmerzmitteldosis
herabgesetzt. »Kann aber sein, dass er dann ein bisschen schlecht
drauf ist«, hatte die Oberschwester mit einem Grinsen
hinzugefügt.
Schlecht drauf durfte er ja ruhig sein, dachte
Kincaid; Hauptsache, man konnte mit ihm reden. Am Nachmittag wollte
er mit Gemma und den Jungs nach London zurückfahren, und er hätte
Ronnie sehr gerne noch persönlich die Geschichte der Wains
erzählt.
Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz des
Krankenhauses ab, der noch immer mit Schneematsch bedeckt war. Als
er an den reservierten Stellplätzen für das Krankenhauspersonal
vorbeiging, fiel sein Blick auf einen grünen Morris Minor, und er
fuhr unwillkürlich zusammen, als ihn plötzlich aus einem zottigen
Kopf zwei tiefbraune Augen anstarrten. Er erinnerte sich an Gemmas
Beschreibung von Dr. Elsworthys Hund und musste laut lachen. Da die
Fenster halb heruntergedreht waren, sagte er: »Hallo, Junge!
Wartest du auf dein Frauchen?«
Das Viech legte die Ohren zurück, und der ganze
Wagen schaukelte, als es mit seinem riesigen Schwanz zu schlagen
begann. Kincaid betrachtete das als ein gutes Zeichen, doch er war
nicht mutig genug, die Hand durchs Fenster zu strecken, um den Hund
zu kraulen. Die Gerichtsmedizinerin musste sich wohl keine Sorgen
wegen Autoknackern machen – wobei es ohnehin nicht so aussah, als
ob in der Kiste viel zu holen wäre.
Sein Freund sah heute tatsächlich ein gutes Stück
munterer aus. Er hatte sich im Bett aufgesetzt, und obwohl er immer
noch am Tropf hing, war die Magensonde, die in seiner Nase gesteckt
hatte, verschwunden.
»Götterspeise«, sagte Babcock angewidert, als
Kincaid die positive Veränderung kommentierte. »Das nennen die hier
richtiges Essen. Götterspeise mit Zitronengeschmack und irgend so
ein scheußlicher Energietrunk.«
Kincaid grinste. »Warte nur, bald bist du wieder
fit genug für Steaks und Whisky.«
Babcock verdrehte die Augen, sagte aber: »Na ja,
irgendwann bestimmt – das erzählen sie mir jedenfalls. Offenbar
haben sie die wichtigen Teile reparieren können.« Seufzend fügte er
hinzu: »Ich will nur nach Hause. Hier riecht’s wie in einem
Beerdigungsinstitut.« Er wies auf die Blumensträuße, die jede
verfügbare Fläche bedeckten. »Alle von meinen Beamten, die sich bei
mir einschmeicheln wollen. Sogar meine Ex hat eine bescheidene Gabe
geschickt, aber selbst herkommen, um mir gute Besserung zu
wünschen, das hat sie sich dann doch gespart. Ist auch
wahrscheinlich gut so – ihr Anblick hätte mich vielleicht um Tage
zurückgeworfen.«
Er machte eine kleine Verschnaufpause, während
Kincaid sich einen Stuhl ans Bett holte, und fuhr dann fort: »Deine
Schwester hat übrigens eine Karte geschickt. Sehr nett von ihr,
wenn man bedenkt, dass wir ihren Mann wegen Brandstiftung
verhaftet haben. Wie geht es ihr denn, nach all der Aufregung?«
Obwohl seine blauen Augen noch getrübt waren, konnte Kincaid darin
jenes echte Mitgefühl lesen, das ihm Ronnie Babcock vom ersten Tag
an so sympathisch gemacht hatte.
»Sie scheint ganz gut klarzukommen. Sie hat den
Umbau des alten Viehstalls wieder in Angriff genommen, und wenn das
Wetter noch eine Weile so mild bleibt, könnte sie sogar die
verlorene Zeit bald aufgeholt haben. Und sie hat die Scheidung
eingereicht. Ich weiß nicht, was dabei herauskommen wird.«
»Dein Schwager ist ein Idiot«, sagte Babcock
gereizt. »Sie hat etwas Besseres verdient.«
»Ja«, stimmte Kincaid ihm aus vollem Herzen zu. Sie
hätte auch von ihm Besseres verdient gehabt, und er war
entschlossen, seine Fehler wiedergutzumachen.
»Ich habe gehört, was du an dem Abend gesagt
hast.«
Babcocks Worte rissen ihn aus seinen Überlegungen.
»Was?«
»Als du Leo Dutton gesagt hast, er würde nicht
wegen Mordes verurteilt werden, wenn er sich stellt. Das soll keine
Kritik sein – ich hätte es genauso gemacht, und es hat mir
wahrscheinlich das Leben gerettet. Aber dazu wird es nicht kommen,
solange ich noch unter den Lebenden weile. Es ist mir egal, dass er
erst vierzehn ist – er ist eine Gefahr für die Menschheit.«
»Ein durch und durch verdorbener Charakter?«
»Ob angeboren oder nicht, das interessiert mich
alles nicht. Aber ich werde Beweise auftreiben, die ihn mit diesen
Verbrechen in Verbindung bringen, egal, wie lange es dauert. Der
Staranwalt, den Piers Dutton für seinen Sohn anheuern wollte, hat
das Mandat abgelehnt«, fügte er mit einem befriedigten Lächeln
hinzu. »Hatte wohl Zweifel an der Zahlungsfähigkeit
des Herrn Papa, angesichts seiner derzeitigen
Schwierigkeiten.«
»Keine große Überraschung, aber jedenfalls eine
gute Nachricht.«
»Noch glücklicher würde es mich allerdings machen,
wenn ich Dutton senior das tote Baby anhängen könnte.«
»Ronnie.« Kincaid rückte seinen Stuhl ein Stück
vor. »Das wird nicht passieren.«
»Wie, bist du vielleicht ein Hellseher?«, fragte
Babcock, doch die Bissigkeit wirkte ein wenig erzwungen, und seine
Stimme klang dünn. Er wurde allmählich müde.
»Nein«, erwiderte Kincaid. »Hör ganz einfach
zu.«
Während er redete, fielen Babcock die Augen zu, und
als er geendet hatte, lag sein Freund so lange regungslos da, dass
Kincaid schon glaubte, er sei eingeschlafen.
Doch dann schlug Babcock die Augen auf und sah
Kincaid durchdringend an. »Schlafende Hunde soll man nicht wecken,
wie? Willst du das damit andeuten?« Ehe Kincaid protestieren
konnte, brachte Babcock ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Du hast wohl recht. Annie Constantine hat an die Wains geglaubt,
und auch wenn sie nur ihre früheren Fehler wiedergutmachen wollte,
war sie doch eine gute Menschenkennerin. Mir scheint, diese Familie
hat schon genug gelitten.
Aber damit du nicht denkst, ich wäre auf meine
alten Tage sentimental geworden – ich habe noch andere Gründe außer
meinem weichen Herzen, die Sache nicht weiter zu verfolgen.« Der
Schlauch tanzte, als er sie an den Fingern abzuzählen begann.
»Selbst wenn ich den Staatsanwalt überreden könnte, den Fall zu
verhandeln, glaube ich kaum, dass irgendein Geschworenengericht
einen Schuldspruch fällen würde. Es würde nur das Jugendamt auf den
Plan rufen, und dann würde der Mann auch noch den Rest seiner
Familie verlieren.
Und was das Wichtigste ist – ich habe selbst alle
Hände voll
damit zu tun, Piers und Leo Dutton möglichst lange Haftstrafen zu
verpassen. Da kann ich nicht Zeit und Resssourcen für eine Sache
vergeuden, bei der sowieso nichts rauskommt.«
Kincaid grinste. »Gesprochen wie ein guter
Bürokrat. Aber du bist trotzdem ein sentimentaler alter
Knacker.«
»Eines muss ich mir allerdings ausbedingen«, gab
Babcock zurück. »Ich muss es meiner Tante Margaret sagen dürfen.
Als ich ihr von dem Fall erzählte, meinte sie nur, dass
irgendjemand um das Kind getrauert haben müsse, und es scheint, als
hätte sie recht gehabt.« Er dachte eine Weile nach, und die Falten
in seiner Stirn wurden tiefer. »Und es gibt noch jemanden, der die
Wahrheit erfahren sollte.«
Bevor Kincaid nachfragen konnte, klopfte es leise
an der Tür, und Sheila Larkin trat ein. Sie trug einen kurzen Rock,
einen flauschigen rosa Pulli und eine gemusterte Strumpfhose, und
der Anblick ihres runden, stupsnasigen Gesichts schien neue Farbe
in Babcocks Wangen zu bringen. »Oh, störe ich Sie etwa?«, fragte
sie und machte Anstalten, sich wieder zurückzuziehen.
»Keineswegs.« Kincaid stand auf und bot ihr seinen
Stuhl an. »Ich muss sowieso los. Wir fahren heute Nachmittag zurück
nach London, gleich nach dem traditionellen Neujahrslunch meiner
Mutter.«
Larkin setzte sich auf den Stuhl und hielt Babcock
einen Strauß Nelken hin, den sie hinter dem Rücken versteckt
hatte.
»Sagen Sie bloß, Sie haben Blumen mitgebracht«,
stöhnte Babcock. »Sie wissen doch, dass ich Blumen hasse.«
»Den Single Malt hab ich leider nicht an der
Oberschwester vorbeischmuggeln können.« Larkin zwinkerte Kincaid zu
und unterdrückte ein Grinsen. »Außerdem habe ich mir gedacht, je
mehr ich Sie ärgere, desto eher werden Sie sich aufraffen, wieder
ins Büro zu kommen. Denn wenn Sie das nicht tun, könnte das fatale
Folgen haben, Chef.«
»Welche?«, konnte Babcock sich nicht verkneifen zu
fragen.
Diesmal reichte Larkins Grinsen von einem Ohr bis
zum anderen. »Dass Rasansky sich zum Chief Superintendent befördern
lässt, Chef. Er hat sich schon Ihren Schreibtisch gekrallt.«
Juliet packte gerade die Sachen der Kinder in den
Lieferwagen, als Duncan in die Auffahrt einbog. Sie hielt inne,
schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und sah zu, wie
er aus dem Wagen stieg.
»Warte, ich helfe dir«, sagte er, als er sie
erreichte. Mit einem überraschten »Uff« hievte er die letzte Tasche
in den Van. »Was hast du denn da drin? Pflastersteine?«
»Durchaus möglich. Die gehört Sammy. Er ist ein
unverbesserlicher Sammler.«
»Ihr geht also wieder zurück?«
Sie hatte Caspar noch die letzten paar Tage
gewährt, um seine Sachen aus dem Haus zu holen und sich eine andere
Bleibe zu suchen, doch an diesem Nachmittag würde sie mit den
Kindern in die North Crofts zurückkehren. »Ja. Vorläufig
jedenfalls.«
»Chief Inspector Babcock lässt dich grüßen.«
»Wie geht es ihm?«
»Der wird schon wieder«, erwiderte Duncan
beiläufig, doch sie hörte die Erleichterung heraus. Sie betrachtete
ihren Bruder eingehend und stellte fest, dass sie zum ersten Mal
die Brille des Grolls und der Missgunst ablegen und ihn als den
Menschen sehen konnte, der er war: kein Supermann, mit dem man sich
ständig messen musste, sondern ein ganz normaler – wenn auch
manchmal etwas nerviger – Mann mit seinen eigenen Sorgen und
Problemen. Und sie liebte ihn.
»Freut mich, dass es deinem Freund Ronnie besser
geht«, sagte sie. Und dann: »Duncan, was wird aus Caspar werden?
Muss er ins Gefängnis?«
»Das weiß ich nicht. Er könnte mit einer milden
Strafe davonkommen, wenn er überzeugend auf verminderte
Zurechnungsfähigkeit plädiert. Zumal, da die Polizei bisher keine
Beweise dafür gefunden hat, dass er in Piers’ Betrügereien
verwickelt war.« Er sah weg und fuhr dann ein wenig verlegen fort:
»Jules, es tut mir leid …«
»Nein. Sag das nicht. Du hattest recht. Auch wenn
Piers sich keinen Mord hat zuschulden kommen lassen. Er hatte es
verdient, dass man ihm das Handwerk legt.«
Er nickte. »Was wirst du tun – wegen Caspar, meine
ich? Mama sagt, er hat jeden Tag angerufen und wollte sich mit dir
versöhnen. Wirst du ihn wieder aufnehmen?«
Sie sah einem Auto nach, das die Landstraße
entlangfuhr und hinter der Kurve verschwand, während sie darüber
nachdachte. »Nein. Ich werde ihm vielleicht irgendwann verzeihen
können, was er mir angetan hat. Aber die Kinder – er hat sie
manipuliert. Er hat sie gegen mich ausgespielt, nur um seine
eigenen Machtgelüste zu befriedigen. Es wird ein hartes Stück
Arbeit sein, den Schaden wiedergutzumachen.«
Sie hatte an diesem Morgen damit angefangen, als
sie mit Lally ins obere Bad gegangen war und die Tür abgeschlossen
hatte. Sie hatte die Tütchen aus der Tasche gezogen, die Gemma ihr
gegeben hatte, und als Lally sie erschrocken angestarrt hatte,
hatte sie den Inhalt in die Toilette gekippt und gespült.
»Damit ist jetzt Schluss«, hatte sie gesagt. »Von
jetzt an werde ich dich beobachten wie ein Luchs, und wenn ich auch
nur den leisesten Verdacht habe, dass du dich wieder mit so was
abgibst, werde ich dich in deinem Zimmer einsperren, bis du schwarz
wirst. Verstanden?«
Lally hatte nur stumm genickt, doch die
Erleichterung in ihren Augen war unübersehbar gewesen.
Die Haustür ging auf, und Lally kam heraus, gefolgt
von Geordie, der aufgeregt um ihre Füße wuselte. Sie hatte ihm
das Fell gebürstet, unter fachkundiger Anleitung von Kit, und es
glänzte seidig in der Sonne.
»Er ist doch süß, findest du nicht, Mama?«, rief
Lally, und als Juliet den Ausdruck unkomplizierter Freude im
lächelnden Gesicht ihrer Tochter sah, dachte sie, dass vielleicht
doch alles möglich war – auch ein Neuanfang.
Gemma saß am Küchentisch und trank mit Rosemary
Tee. Die letzten Tage hatte sie sich hier richtig wohlgefühlt, und
sie konnte gar nicht verstehen, wieso sie je daran gezweifelt
hatte, dass sie in dieser Familie ihren Platz finden würde. Sogar
Juliet schien ihren Vertrauensbruch vergessen zu haben; sie hatte
Gemma fest umarmt, als sie sich gleich nach dem Neujahrslunch mit
Sam und Lally verabschiedet hatte.
Duncan war mit Kit zu einem letzten Spaziergang mit
Tess und Geordie aufgebrochen, und Hugh, der Toby unter seine
Fittiche genommen hatte, als wäre er sein leiblicher Enkel, ließ
den kleinen Jungen draußen auf der Wiese auf einem Shetlandpony im
Kreis reiten. Bis in die Küche konnte sie Jacks Gebell und Tobys
aufgeregtes Kreischen hören, und sie war nur froh, dass das Pony
einen so friedfertigen Charakter hatte.
»Die zwei verstehen sich blendend, nicht wahr?«,
fasste Rosemary in Worte, was sie gerade gedacht hatte. »Hugh fehlt
richtig was, seit Lally und Sam so groß geworden sind.«
»Er kann gut mit Kindern umgehen.«
»Zu gut, denke ich manchmal«, antwortete Rosemary
lachend. »Im Grunde ist er selbst ein großes Kind. Das ist
wahrscheinlich gar keine so schlechte Sache, auch wenn er meine
Geduld schon des Öfteren auf eine harte Probe gestellt hat. Aber im
Lauf der Jahre sind wir uns immer ähnlicher geworden.« Sie setzte
ihre Tasse ab und betrachtete Gemma, als ob sie über etwas
nachdächte, und sagte dann: »Es hat gut getan, dich und Duncan
zusammen zu sehen. Ihr seid wirkliche Partner,
auf eine Art und Weise, wie er und Victoria es nie waren. Und das
hätten sie wohl auch nie sein können, auch wenn es anders gelaufen
wäre.«
Gemma errötete. Sie hatte immer befürchtet, dass
Duncans Eltern sie mit Vic vergleichen würden und dass der
Vergleich zu ihrem Nachteil ausfallen würde. »Ich …«
Doch Rosemary unterbrach sie mit einem
Kopfschütteln. »Verzeih mir, wenn ich es so geradeheraus sage, aber
es ist ein Geschenk, was ihr beide da habt. Das darf man nicht
gering schätzen. Ich weiß, es ist ein Balanceakt, die verschiedenen
Lebensbereiche auf die Reihe zu bekommen, aber du darfst deswegen
das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. Oder zulassen, dass
ein Verlust dich dagegen abstumpft.«
Gemma wurde ganz still und nachdenklich. Als sie
den Blick der älteren Frau erwiderte, hatte sie das Gefühl, nackt
und bloß vor ihr zu stehen, und sie schämte sich plötzlich.
Doch dann lächelte Rosemary. »Er ist nicht perfekt,
das gebe ich zu – obwohl er mein Sohn ist. Aber andererseits kann
ich mir vorstellen, dass es sehr schwer wäre, mit einem perfekten
Menschen zu leben.«
Sie schlugen den Weg über das Feld ein, in
Richtung Middlewich Junction, und ließen die Hunde von der Leine.
Der Boden war schon weitgehend trocken, und sie kamen viel leichter
voran als zuvor im Schnee.
Tess blieb dicht bei Kit und ließ ihr Herrchen kaum
aus den Augen, während Geordie im Zickzack vorauslief und aufgeregt
herumschnüffelte. Dann entdeckte der Cockerspaniel einen tief
fliegenden Vogel, und er erstarrte, den kupierten Schwanz gerade
ausgetreckt, eine Pfote erhoben.
»Schau mal, er steht vor«, sagte Kit. »Das macht er
zu Hause immer, wenn er ein Eichhörnchen sieht.«
»Cockerspaniel sind eigentlich Stöberhunde, keine
Vorstehhunde«,
bemerkte Kincaid, »aber er scheint den Unterschied nicht zu
kennen.«
Er ließ den Blick wehmütig über die sanft gewellte
Landschaft von Cheshire schweifen und fragte sich, wann er sie wohl
wiedersehen würde und warum er diesen Besuch so lange vor sich
hergeschoben hatte. Er sah seinen Sohn an und fragte: »Gefällt es
dir hier?«
»Ja. Es erinnert mich ein bisschen an
Grantchester.« Dann fügte Kit nachdenklich hinzu: »Aber ich bin mir
nicht sicher, ob ich daran erinnert werden will, jedenfalls nicht
dauernd. Und ich vermisse unser Haus und Wesley und den Park und
den Markt am Samstag …«
»Okay, okay«, erwiderte Kincaid lächelnd. »Hab
schon kapiert. Das freut mich zu hören. Ich vermisse das alles
auch. Ich bin froh, nach Hause zu kommen.«
Sie gingen in entspanntem Schweigen weiter. Als sie
zum Leinpfad am Middlewich-Kanal hinunterstiegen, fragte Kit: »Wird
Lally darüber hinwegkommen?«
Kincaid überlegte eine Weile, ehe er antwortete.
»Ich glaube schon. Aber es kann nicht schaden, wenn du mit ihr in
Kontakt bleibst und sie wissen lässt, dass du für sie da bist. Sie
ist schließlich deine Cousine.«
Als sie Barbridge erreichten, blieb er stehen und
blickte den Shropshire Union hinunter. Er dachte daran, welche
Erinnerungen sich für Kit mit diesem Abschnitt des Kanals verbanden
– und nun auch für ihn selbst. »Wir sollten umkehren.«
Aber Kit verblüffte ihn, indem er sagte: »Nein. Ich
will noch weitergehen, nur ein kleines Stück.«
»Na schön.« Kincaid fügte sich mit einem
Achselzucken und fragte sich, ob dies Kits Methode war, die Dämonen
zu bannen. Die Hunde rannten voraus, und Kincaid folgte seinem
Sohn, der mit entschlossenen Schritten an Pub und Liegeplätzen
vorbeimarschierte. Das gewundene Band des Kanals wirkte
verwunschen in der frühen Nachmittagssonne, ein verträumter Ort
der Stille, wo Gewalt keinen Platz hatte.
Kits Schritte wurden langsamer, als sie um die
inzwischen vertraute Kurve bogen und die Horizon noch immer
an derselben Stelle liegen sahen. Das Absperrband war verschwunden,
doch alle Jalousien waren dicht geschlossen, und Kincaid hatte den
Eindruck, dass das Boot schon jetzt ein wenig verwahrlost
wirkte.
»Was wird aus der Horizon werden?«, fragte
Kit.
»Ich nehme an, Roger Constantine wird sie
irgendwann verkaufen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das
Boot selbst nutzen will. Es ist zu sehr mit Annie verbunden.«
»Geister«, sagte Kit leise. Und nach einem letzten
Blick zum Boot rief er die Hunde und machte kehrt.
Kincaid sah in das stille Gesicht des Jungen und
beschloss, die Frage zu stellen, die ihm schon die ganze Zeit keine
Ruhe gelassen hatte. »Kit, als du diese Dinge zu Leo gesagt hast –
dass Annie es nicht verdient gehabt hätte, zu sterben -, da hast du
doch an deine Mutter gedacht, nicht wahr?«
»Ja, ich glaube schon«, gab Kit zu, und nach einer
Weile fügte er hinzu: »Es ist komisch, aber die Träume haben
aufgehört.«
»Welche Träume?«
»Ich habe immer von Mama geträumt, ganz lange.
Albträume. Jede Nacht.« Seine Miene verriet Kincaid, dass er nicht
mehr darüber sagen würde.
»Aber nicht mehr seit der Sache mit Leo?«
Kit schüttelte den Kopf. »Ist es wahr, was du an
dem Abend gesagt hast – dass ihm nichts passieren wird?«
»Nein. Jetzt, da die Polizei weiß, dass er diese
zwei Menschen auf dem Gewissen hat, wird sie alles daransetzen,
Beweise zu finden, die Leo mit diesen Verbrechen in Verbindung
bringen. Und ich glaube nicht, dass das Gericht ihn allzu
glimpflich davonkommen lassen wird.«
»Das ist nicht genug.«
»Nein.«
»Er wird irgendwann wieder jemandem etwas antun.
Weil er Spaß daran hat.«
Verblüfft über die Menschenkenntnis seines Sohnes,
erwiderte Kincaid: »Ja. Aber wir werden unser Bestes tun, ihn daran
zu hindern.«
Kit nickte und ging schweigend weiter, doch es war
ein geselliges Schweigen, das Kincaid ermutigte, noch eine Frage zu
stellen: »Ich weiß, es scheint jetzt irgendwie nebensächlich, aber
die Sache mit der Schule … Willst du mir erzählen, warum du diese
Schwierigkeiten hattest? Abgesehen von den Träumen?«
Kit zuckte mit den Achseln und sagte: »Da waren
diese Jungen … die haben mich immer schikaniert. Aber das ist jetzt
nicht mehr wichtig.« Er blickte zu Kincaid auf. »Weißt du noch, was
Leo an dem Abend gesagt hat, ganz am Schluss? Dass er gewonnen
hätte? Da hat er sich aber gewaltig geirrt. Ich habe
gewonnen.«