18
Das lose Ende des Polizei-Absperrbands erhob sich
flatternd in die Luft, zum Leben erweckt von einem Windstoß, um
gleich darauf wieder zu sinken und schlaff am Pflock herabzuhängen,
als hätte die Anstrengung es erschöpft. Gemma und Juliet standen
vor der Absperrung und ließen den Blick über das schweifen, was von
Juliets Baustelle übrig war.
Ein Meer von Schlamm erstreckte sich vor ihnen, die
nasse Erde war übersät mit Spuren von schwerem Gerät und
Stiefelsohlen. Ein trostloser Anblick – wie eine Mondlandschaft,
nur wesentlich dreckiger. Gestalten in Blaumännern gingen in der
Ruine des Viehstalls aus und ein, und in unregelmäßigen Abständen
zerrissen Hammerschläge die kalte Luft wie Pistolenschüsse.
Betroffen starrte Juliet auf das Chaos, doch dann
schien die Wut sie zum Handeln anzustacheln. Sie schlüpfte unter
dem Absperrband hindurch und stapfte durch den Matsch wie eine
Walküre, die in die Schlacht zieht. Gemma, der es nur um ihre guten
Londoner Schuhe leidtat, folgte ihr ein wenig zögerlicher.
Sie fragte sich, worauf sie sich da wieder
eingelassen hatte. Zwar hatte sie selbst Kincaid gedrängt, mit
Chief Inspector Babcock zu fahren, doch sie war nicht auf das
Gefühl der Frustration gefasst gewesen, das sie erfasst hatte, als
sie die beiden davonfahren sah.
Auf dem Rückweg zu Duncans Eltern hatte sie jedoch
mit Erleichterung vernommen, dass Rosemary und Hugh die
Kinder in die Buchhandlung mitnehmen wollten. Juliet hatte ihr
zugeflüstert, sie wolle ein paar Sachen aus ihrem Haus holen, da
Caspar an diesem Morgen einen Termin außerhalb von Nantwich habe.
Sie hatte nicht um Hilfe gebeten, doch es war nicht zu übersehen
gewesen, wie nervös sie war, und als Gemma sich erboten hatte, sie
zu begleiten, hatte sie das Angebot gleich angenommen.
Zuvor jedoch hatte Juliet unbedingt noch bei ihrer
Baustelle vorbeischauen wollen. Sie hoffte, dass die Polizei
inzwischen mit ihrer Spurensicherung fertig wäre und sie mit ihrem
Team wieder an die Arbeit gehen könnte. Doch es war nur allzu
offensichtlich, dass es dazu in absehbarer Zeit nicht kommen
würde.
»He, Sie da!« Ein bulliger Mann, der über seinem
Anzug eine Sicherheitsjacke mit der Aufschrift Polizei trug,
hatte Juliet erspäht. Er brach sein Gespräch mit einem der Arbeiter
ab und kam auf sie zugestürmt. »Was haben Sie hier eigentlich
verloren? Können Sie nicht sehen, dass das Gelände abgesperrt
ist?«
»Was haben Sie hier eigentlich verloren?«,
schrie Juliet zurück. »Das hier ist meine Baustelle. Was machen Sie
mit meinem Gebäude?«
Auch ohne die Jacke hätte man dem Mann den
Polizisten auf zehn Meilen Entfernung angesehen – und auch, dass
ihm dieser Auftrag zum Hals heraushing. Sein Gesicht verfärbte sich
dunkelrot. »Hören Sie, Lady …«
»Sie heißt nicht ›Lady‹«, fuhr Gemma mit eisiger
Stimme dazwischen. »Sie heißt Mrs. Newcombe. Und ich bin Detective
Inspector James von der Metropolitan Police.«
»Aber klar doch, und ich bin Camilla
Parker-Bowles«, gab er zurück. »Ich sag’s Ihnen nicht noch ein…«
Mitten im Wort brach er ab und glotzte sie mit offenem Mund an, was
ihn nicht eben attraktiver machte. Die hochrote Farbe wich aus
seinem Gesicht. Gemma hatte ihren Dienstausweis aus der Tasche
gezogen und hielt ihn dem Mann vor die Nase.
»Scheiße«, bemerkte er kurz und treffend, um gleich
darauf noch entsetzter dreinzuschauen. »Verzeihung, Ma’am, ich
wusste ja nicht …«
»Wie war das noch mal mit der bürgernahen
Polizeiarbeit?«, fragte Gemma mit beißendem Sarkasmus. »Dort, wo
ich herkomme, bemühen wir uns in der Regel um ein gutes Verhältnis
zur Zivilbevölkerung, aus deren Steuergeldern wir schließlich
bezahlt werden – so schwierig es auch manchmal sein mag.«
»Ich wusste nicht …«
»Es interessiert mich nicht, ob Sie uns für zwei
Pennerinnen oder sonst was gehalten haben.« Ein Blick in Juliets
Richtung erinnerte Gemma daran, dass dieses kleine Scharmützel kaum
geeignet war, ihre Begleiterin zu beruhigen, auch wenn sie selbst
es noch so sehr genoss. Sie brachte ein Lächeln zustande. »Hören
Sie, Sergeant – ist das korrekt?« Es war nur eine Vermutung,
wenngleich eine wohlbegründete – schließlich hatte DCI Babcock dem
Mann diesen nicht gerade ruhmreichen Job aufs Auge gedrückt,
während er sich selbst unverzüglich in die Jagd nach dem Mörder der
Frau am Kanal gestürzt hatte. Und dass der Mann sofort gekuscht
hatte, als er Gemmas Dienstgrad erfahren hatte, machte es
unwahrscheinlich, dass er selbst Inspector war.
»Rasansky, Ma’am«, stieß er schmallippig
hervor.
»Sergeant Rasansky, was um alles in der Welt geht
hier vor? Haben Sie etwas Neues gefunden?«
»Nein, Ma’am. Der DCI hat einen Rückbautrupp
angefordert. Reine Zeitverschwendung, wenn Sie mich fragen.«
»Rückbau?« Juliet packte Gemmas Arm. »Was hat das
zu bedeuten?«
»Genau das, wonach es klingt, fürchte ich«,
antwortete
Gemma seufzend. »Es bedeutet, dass Chief Inspector Babcock denkt,
wo eine Leiche war, könnten möglicherweise noch weitere sein. Es
wäre nicht das erste Mal.«
»Aber …« Juliet machte unwillkürlich einen Schritt
auf das Gebäude zu, hielt aber inne, als sie Rasanskys bösen Blick
bemerkte. »Aber diese Mörtelschicht über der alten Futterkrippe war
doch ganz offensichtlich die einzige bauliche Veränderung …«
»Trotzdem muss er auf Nummer sicher gehen.« Gemma
dachte an die grausigen Funde im Garten und im Keller des Hauses
von Fred und Rosemary West in Gloucestershire, eine Lehre, die in
den Reihen der britischen Polizei niemand so schnell vergessen
würde. Babcock hatte zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht genug
Informationen, um einen mehrfachen Mord ausschließen zu
können.
»Aber das wird die Bauarbeiten um Monate verzögern!
Am Ende ziehen die Bonners den Auftrag sogar ganz zurück.« Juliet
schien den Tränen nahe. »Kann ich nicht wenigstens die Arbeiten
überwachen, damit diese Leute so wenig Schaden wie möglich
anrichten?«
Ihre Verzweiflung schien Rasansky ein wenig zu
erweichen. »Es tut mir leid, Mrs. Newcombe. Nur autorisiertes
Personal, so lautet nun mal die Vorschrift. Aber es ist ein gutes
Team, und ich bin sicher, dass man Ihnen alle eventuellen Schäden
ersetzen wird.« Er schien allerdings ein wenig von seiner
Selbstsicherheit zurückgewonnen zu haben, denn nun fixierte er
Gemma mit strengem Blick. »Entschuldigen Sie die Frage, Ma’am, aber
was hat eigentlich die Met mit diesem Fall zu tun?«
»Wir beraten DCI Babcock«, antwortete sie forsch.
»Da wir schon hier sind, würde ich mich gerne noch ein wenig auf
dem Gelände umsehen, aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich
melde mich schon, falls ich noch Fragen haben sollte.« Sie
nickte ihm zu, während sie Juliets Arm packte und sie in Richtung
Kanal herumdrehte.
Juliet schien protestieren zu wollen, als Gemma sie
auf die gewölbte Brücke zuführte. »Was sollen wir …«
»Ich bin überhaupt nicht befugt, ihm gegenüber die
Vorgesetzte herauszukehren oder auf dem Gelände herumzuschnüffeln,
und es wäre mir ganz recht, wenn er das nicht rausbekäme«,
flüsterte Gemma. »Aber ich würde mir gerne mal von hier aus den
Kanal anschauen.«
Sie staksten vorsichtig über tiefe Fahrspuren und
Schmelzwasserpfützen hinweg, bis sie an der alten Steinbrücke
angelangt waren. »Die führt ja nirgendwo hin«, bemerkte Gemma
überrascht, als sie auf dem Scheitelpunkt der Brücke stehen
blieben. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein
Schachbrettmuster von braunen und grünen Feldern, in der Ferne
gesäumt von einer Baumreihe.
»Doch.« Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte
Juliet ein wenig. »Nämlich zum Leinpfad. Es gibt jede Menge solcher
Brücken entlang des Kanalnetzes.«
Gemma drehte sich langsam um, während der Wind mit
eisigen Fingern an ihren Kleidern zerrte. Aus dem Dunst, der für
den trüben Morgen in Barbridge gesorgt hatte, war eine dichte
Wolkendecke geworden, und der Himmel schien wie eine riesige graue
Schüssel auf der Landschaft zu lasten, gespiegelt in der glatten
Wasseroberfläche des windgeschützten Kanals.
Nördlich der Brücke lagen sechs Boote
hintereinander am Ufer gegenüber dem Leinpfad. Ihr bunter Anstrich
setzte auffällige Kontraste im trüben Licht des Tages.
»Das sind feste Liegeplätze«, erklärte Juliet. »Sie
werden von den Grundstückseigentümern vermietet.«
Aus dieser Perspektive konnte Gemma erkennen, dass
man vom Viehstall aus einen ungehinderten Blick auf die Boote, die
hübsche Steinbrücke und den Kanal beiderseits der Biegung hatte.
Vielleicht war die Lage ja doch attraktiver, als sie geglaubt
hatte, aber das war es nicht, was ihr Interesse geweckt
hatte.
Sie deutete nach Norden. »Wie weit ist es von hier
bis Barbridge?« Auf der Fahrt hierher war es ihr nur wie ein
Katzensprung vorgekommen, und sie nahm an, dass die Straße mehr
oder weniger parallel zum Kanal verlief.
»Ich weiß nicht genau«, sagte Juliet. »Eine Meile
vielleicht, oder auch ein bisschen mehr.«
Gemma runzelte die Stirn. »Gibt es zwischen hier
und Barbridge irgendeine Möglichkeit, mit dem Auto an den Kanal
heranzufahren?«
»Nein. Da müsste man schon quer über die Felder
fahren. Wieso?«
»Es kommt mir einfach merkwürdig vor«, meinte Gemma
achselzuckend. »Zwei Leichen auf einem so engen Raum und die zweite
so kurz nach der Entdeckung der ersten.« Sie wandte sich zu Juliet
um. »Gab es irgendeine Verbindung zwischen der Frau, die heute
Morgen gefunden wurde, und deiner Baustelle?«
»Nicht dass ich wüsste. Aber – willst du etwa
andeuten, dass ihr Tod etwas mit der Babyleiche zu tun haben
könnte, die ich gefunden habe?« Juliets Stimme war schrill vor
Entsetzen.
»Nein, nein, ich will gar nichts andeuten, ich
denke nur laut nach. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Doch Juliet schüttelte nur den Kopf. »Das ist zu
viel. Wenn noch irgendetwas diese Renovierung aufhält, weiß ich
wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Ich weiß, das klingt
furchtbar egoistisch, und es ist wirklich nicht so, als ob mir
diese arme Frau, die gestern Abend ermordet wurde, völlig egal
wäre. Aber ich kann bald meine Leute nicht mehr bezahlen, und wenn
ich die verliere, bin ich so gut wie erledigt.«
Gemma erkannte die Zeichen der aufziehenden Panik
und
sah ein, dass sie ihre Spekulationen vorläufig würde für sich
behalten müssen. Sie legte den Arm um Juliets Schulter, drehte sie
in die Richtung, in der sie ihren Wagen geparkt hatten, und sagte:
»Das ist jetzt auch gar nicht wichtig. Jetzt müssen wir erst mal
deine Sachen holen. Und dann sehen wir weiter.«
Die Kabinentür schwang auf, bevor Althea anklopfen
konnte, und Gabriel Wain zerrte sie grob über die Schwelle. Die
Vorhänge im Salon waren ganz zugezogen, und eine einsame Lampe warf
einen gelben Lichtkreis auf den Klapptisch. Der Raum war noch
genauso kalt wie am Tag zuvor, und im Ofen brannte nur ein
schwaches Feuer.
Altheas Augen hatten sich noch nicht an das
Dämmerlicht gewöhnt, als Gabriels raue Stimme an ihr Ohr drang:
»Ist das wahr? Stimmt es, was die Leute sagen? Dass sie tot ist?«
Seine Finger bohrten sich in ihren Oberarm.
»Falls Sie Annie Constantine meinen – ja, sie ist
tot.«
Einen Augenblick lang glaubte sie, schreien zu
müssen, so heftig war der Schmerz in ihrem Arm. Doch dann ließ er
sie los und wandte sich ab, und es schien Althea, als schrumpfe er
vor ihren Augen zusammen.
Das Sauerstoffgerät fest an die Brust gedrückt,
rieb sie sich mit der freien Hand den Arm. Jetzt konnte sie sehen,
dass die Kinder auf der Bank am Klapptisch kauerten; mit großen
Augen starrten sie verängstigt zu ihr herüber. Von Rowan war nichts
zu sehen.
Ohne sich zu ihm umzudrehen, forderte Gabriel
seinen Sohn auf: »Joseph, geh an Deck und räum auf. Wir müssen
lenzen und den Wassertank auffüllen. Und nimm deine Schwester
mit.«
Die Kinder erhoben sich gehorsam, und als sie sich
an Althea vorbeischoben, musste sie dem unvermuteten Drang
widerstehen, dem Jungen über das lockige Haar zu streichen. Sobald
die zwei zur Tür hinaus waren, drehte Gabriel Wain sich zu ihr um.
Seine Miene war unergründlich.
»Tut mir leid, dass Sie sich umsonst die Mühe
gemacht haben«, sagte er. »Aber wir werden das da nicht mehr
brauchen.« Er deutete auf das Sauerstoffgerät.
Altheas Herz pochte heftig. »Ihre Frau … ist sie
…?«
»Mehr oder weniger unverändert. Sie wird schon
wieder gesund.«
Althea starrte ihn an. »Das wird sie eben nicht.
Ich dachte, ich hätte Ihnen erklärt …« Da wurde ihr plötzlich klar,
was er mit seiner Aufforderung an die Kinder gemeint hatte – und
mit seiner Bemerkung über das Sauerstoffgerät. »Sie können doch
nicht ernsthaft vorhaben weiterzufahren«, sagte sie entsetzt.
»Es ist das Beste«, entgegnete er knapp. »Würden
Sie jetzt bitte …«
»Mr. Wain, Ihnen ist wohl nicht bewusst, wie …
schwer es für Ihre Frau werden wird. Ich kann ihr helfen. Warum
wollen Sie ihr das verwehren?«
»Wir können keinen Ärger gebrauchen. Die Polizei
…«
»Warum sollte die Polizei mit Ihnen reden wollen?
Was mit Mrs. Constantine passiert ist, war entsetzlich, aber
niemand würde doch auf die Idee kommen, Sie mit dieser Tat in
Verbindung zu bringen.«
Er rieb sich mit dem Handrücken über das unrasierte
Kinn. »Woher wollen Sie das wissen? Ich … Als sie zu uns aufs Boot
kam an Heiligabend, da ist es ein bisschen laut geworden.«
»Laut?«
»Wir haben gestritten. Es war Rowan, die unbedingt
wollte, dass sie an Bord kam. Ich hatte ihr gesagt, dass wir nichts
mit ihr zu tun haben wollen, dass sie uns in Frieden lassen soll.
Warum kommt sie nach so langer Zeit plötzlich daher und mischt sich
in unser Leben ein?«
»Sie wollte Ihnen doch nur helfen.«
»Und was haben wir jetzt davon?«, fauchte er sie
an, doch sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme.
»Sie haben immerhin mich«, sagte Althea mit einer
Überzeugung, die sie nicht unbedingt empfand. Doch den Gedanken,
dass dieser Mann Annie Constantine so etwas Schreckliches angetan
haben könnte, verwarf sie ebenso schnell, wie er ihr gekommen war.
Sie hätte schwören können, dass die Nachricht von ihrem Tod ihn
tief getroffen hatte.
Dann begannen Zweifel an ihr zu nagen. War es
denkbar, dass er ein zweites Mal mit Annie in Streit geraten war,
dass er im Affekt auf sie eingeschlagen und sie anschließend liegen
gelassen hatte, ohne zu ahnen, wie schwer sie verletzt war?
»Gabriel, haben Sie Annie Constantine gestern Abend
gesehen?«
»Nein. Ich hab die Frau nicht mehr zu Gesicht
bekommen, seit Sie beide gestern das Boot verlassen haben.«
»Dann haben Sie auch nichts zu befürchten«, sagte
sie.
Er wandte sich ab und unterdrückte ein bitteres
Lachen. »Schön wär’s.« Das Boot schaukelte leicht unter den
Schritten der Kinder, die an Deck umhergingen. »Ich sag’s Ihnen,
wir müssen hier weg. Die Kinder … wir können es nicht riskieren,
länger zu bleiben.«
Althea dachte nach, ging rasch im Kopf die
Möglichkeiten durch. Er könnte ein Stück weiterfahren, und sie
könnten sich an einem vorher vereinbarten Liegeplatz treffen, um
den Sauerstoffbehälter auszutauschen – aber nein. Sie schüttelte
den Kopf über ihre eigene Dummheit.
»Hat irgendjemand Ihren Streit mit Annie
mitbekommen?«, fragte sie.
»Ganz Barbridge vermutlich.«
»Dann können Sie nicht einfach verschwinden.
Begreifen Sie denn nicht? Die Polizei wird jeden in der Umgebung
vernehmen. Irgendjemand wird bestimmt zu Protokoll geben,
dass er gehört hat, wie Sie beide sich angebrüllt haben, und die
Polizei wird Ihre Flucht als Schuldeingeständnis werten. Es wird
nicht lange dauern, bis sie Sie schnappen – das Kanalnetz ist
schließlich nicht unendlich. Sie müssen sich anders aus der Affäre
ziehen.«
»Aber was soll ich denn sagen?«
Hätte Althea noch eine Bestätigung gebraucht, dann
hätte diese Frage sie ihr geliefert, die nur ein grundehrlicher
Mann stellen konnte; ein Mann, der nicht einmal eine Notlüge
zustande brachte. »Sagen Sie ihnen, es war ein Streit unter
Bootsleuten. Sagen Sie, sie hätte ihr Boot schlecht vertäut und
Ihnen eine Schramme verpasst. Es wäre nicht dass erste Mal, dass
wegen so was die Fetzen fliegen.«
Gabriel nickte zustimmend. »War irgendjemand nahe
genug, um hören zu können, dass es um etwas anderes ging?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Dann werden sie die Sache vielleicht nicht weiter
verfolgen. Und geben Sie ja nicht von sich aus zu, dass Sie sie
gekannt haben.« Noch während sie sprach, fragte sich Althea, was
eigentlich in sie gefahren war. Sie, die den größten Teil ihres
Lebens damit verbracht hatte, der Polizei zu helfen.
»Ich hole Sams Sachen, wenn du die für Lally
einpackst«, sagte Juliet zu Gemma, als sie die Treppe zum ersten
Stock hinaufgingen.
Das Haus schien geradezu unheimlich still und
abweisend, und Gemma dachte, dass Juliets Nervosität wohl auf sie
abgefärbt haben musste. Sie hatten sich vergewissert, dass Caspars
Wagen weder vor dem Haus noch vor dem Büro stand, bevor sie
hineingegangen waren, und auch dann noch waren sie eine Weile im
Flur stehen geblieben, um zu horchen, ehe sie einen raschen Blick
in die unteren Zimmer geworfen hatten.
Doch dann schalt Gemma sich für ihre überbordende
Fantasie und fragte so munter wie möglich: »Was für Sachen soll ich
denn einstecken?«
Wäre es denn so schlimm, wenn Caspar Newcombe
plötzlich nach Hause käme?, fragte sie sich. Juliet hatte doch wohl
das Recht, hier zu sein und sich die persönlichen Dinge zu nehmen,
die sie brauchte.
Aber leider hatte Gemma schon zu oft mit eigenen
Augen gesehen, wie Ehestreitigkeiten ausarten konnten, als dass ihr
eigener vernünftiger Rat sie ganz und gar beruhigt hätte.
»Ach, einfach nur ein bisschen Unterwäsche und ein
paar saubere Jeans und Pullis.« Juliet deutete auf die erste Tür
links im oberen Flur. »Egal, was ich aussuchen würde, es wäre ja
doch verkehrt – ich denke, bei dir stellt sie sich vielleicht nicht
so an.« Die Spannungen zwischen Mutter und Tochter waren an diesem
Morgen nicht zu übersehen gewesen, und Gemma hatte Juliets
Erleichterung gespürt, als ihre Eltern angeboten hatten, die Kinder
zu nehmen.
Obwohl sie sich viel eher zugetraut hätte, für
einen Jungen anstatt für ein Mädchen Sachen auszusuchen, folgte
Gemma Juliets Anweisungen ohne Widerrede. Lallys Tür war
geschlossen, und sie hatte ein Blatt Papier mit einem sorgfältig
gezeichneten Totenkopfsymbol daran geheftet. Unter die Zeichnung
hatte sie in Blockbuchstaben KEIN ZUTRITT geschrieben, und darunter
in Klammern (DAS GILT AUCH FÜR DICH, SAM!).
»Tut mir leid, Schatz«, flüsterte sie und drehte
den Knauf um. Die Tür sprang auf, Gemma blieb auf der Schwelle
stehen und hielt verblüfft die Luft an. Sie hatte offen zur Schau
gestellte Rebellion erwartet, doch was sie sah, schien kaum die
Persönlichkeit des jungen Mädchens zu spiegeln, dem dieses Zimmer
gehörte.
Die Wände waren rosa, die Bettdecke hatte ein mint-
und
rosafarbenes Blumenmuster, und der Polstersessel am Fenster war in
den gleichen Farben gestreift. Ein paar Stofftiere saßen am
Kopfende des hastig gemachten Betts; die gerahmten Drucke an den
Wänden zeigten verträumt-impressionistische Darstellungen von
grasenden Pferden. Das waren Kindersachen. Hatte Lally sie mit
Absicht behalten? Und wenn ja, warum?
Das Zimmer war auch zu ordentlich aufgeräumt für
einen Teenager, bis auf ein paar Kleidungsstücke, die achtlos auf
eine Bank am Fußende des Betts geworfen worden waren, und die nicht
ganz geschlossenen Schubladen der Kommode, die den Eindruck eines
Gebisses mit vorstehenden Zähnen erweckten.
Gemma schnupperte und nahm einen Hauch von billigem
Parfüm wahr – die Sorte, die junge Mädchen von ihrem Taschengeld
bei Woolworth oder Body Shop kauften, und das war nun wiederum so
angenehm normal, dass Gemmas Unruhe sich legte. Ihre Fantasie war
mal wieder mit ihr durchgegangen. Jedenfalls kannte sie Lally nicht
gut genug, um allein aufgrund von Äußerlichkeiten wie dem Fehlen
von Boygroup-Postern und schwarzen Tüchern ein Urteil fällen zu
können.
Die Schritte im Nebenzimmer, wo Juliet Türen und
Schubladen auf- und zumachte, mahnten sie, endlich anzufangen.
Juliet hatte ihr keine Tüte gegeben, also galt es zunächst, eine
Tasche oder einen Koffer zu finden.
Nach einigem Kramen im Kleiderschrank war das
Beste, was sie finden konnte, ein leerer, etwas abgenutzter
Rucksack. Sie stellte ihn aufs Bett und begann eilig die Schubladen
der Kommode zu durchwühlen. Die gefalteten Slips und BHs, die sie
zutage förderte, waren kaum mehr als ein paar Quadratzentimeter
Spitze mit ein bisschen Wattierung. Sie musste lächeln, als sie an
die Zeit zurückdachte, als sie selbst solche Sachen voller Stolz
getragen und sich mit ihrer Schwester darum gestritten hatte, wer
sie am dringendsten brauchte.
Als sie die Hände voll hatte, drehte sie sich zum
Bett um und sah, dass der Rucksack umgefallen war, wobei ein buntes
Stück Papier oder Folie zu Boden gesegelt war. Sie hob es abwesend
auf – und hielt inne, als ihre Finger sich um das kleine Päckchen
schlossen und sie erkannte, was sie da in der Hand hielt.
Es war ein Kondom, verpackt in bunte Folie.
Gemma ließ den Stapel sauber gefalteter Unterwäsche
aufs Bett fallen und griff nach dem Rucksack. Sie steckte die Hand
hinein und tastete suchend, bis sie die offene Innentasche gefunden
hatte.
Eine scharfe Kante piekste sie in den Finger, und
sie zog noch mehr Kondome hervor, ein halbes Dutzend davon, die
Folienbriefchen bunt wie Konfetti. Gemma ließ sich auf die
Bettkante sinken und dachte fieberhaft nach. Gewiss, jedes
Schulmädchen kam sich ganz toll vor, wenn es bei seinen Freundinnen
mit solchen Scherzkondomen angeben konnte, die in der großen Pause
kichernd herumgereicht wurden. Dass Lally welche besaß, hieß noch
nicht, dass sie sie auch benutzte.
Sie steckte die Kondome wieder in die Tasche und
griff nach dem Stapel Unterwäsche, doch dann hielt sie erneut inne
und rümpfte die Nase. Da war noch etwas anderes, der Hauch eines
vertrauten Geruchs.
Diesmal suchte sie gründlicher und tastete die
Nähte der innersten Taschen mit einem Taschentuch ab, um ihre
Finger zu schützen. Ihre Gründlichkeit wurde belohnt, als sie auf
ein unregelmäßig geformtes, daumennagelgroßes Päckchen aus
Klarsichtfolie stieß. Vorsichtig wickelte sie es aus, doch das
flaue Gefühl im Magen setzte schon ein, ehe sie überhaupt gesehen
hatte, was in der Folie steckte. Es waren Tabletten. Weiß, ohne
Prägung; manche oval, andere kreisrund.
Es hätte natürlich alles Mögliche sein können, aber
Gemma vermutete, dass es sich bei den ovalen um Xanax oder einen
ähnlichen Tranquilizer handelte, und die runden waren
wahrscheinlich Ecstasy. Sie waren ohne Kerbe und sahen irgendwie
selbst gemacht aus. Was es auch sein mochte, sie war sich ziemlich
sicher, dass weder diese noch die anderen Pillen Lally vom Arzt
verschrieben worden waren.
Aber das war immer noch nicht alles – der Geruch
war stärker geworden. Wieder steckte sie die Hand in den Rucksack,
und ihre Finger stießen auf ein weicheres Päckchen. Sie musste im
Grunde gar nicht mehr nachschauen – es war Haschisch, und die Menge
war nicht gering.
Sie saß da und starrte den Klumpen an, den sie in
der Hand hielt, als sie draußen auf dem Flur Juliets aufgeregte
Stimme hörte. »Gemma, bist du bald so weit? Wir müssen uns
beeilen!«
Sie zuckte zusammen, ließ die Drogen hastig in
ihrer Tasche verschwinden und stopfte halblaut fluchend die Kleider
in den Rucksack. »Ich komme!«, rief sie, während sie noch schnell
ein paar Jeans und Pullis aus den Schubladen zog und sie ebenfalls
im Rucksack verstaute, bis sie glaubte, genug für ein paar Tage
zusammen zu haben.
Dann hielt sie inne, die Hand schon am Türknauf,
und schöpfte Atem. Was sollte sie nun in dieser Sache
unternehmen?
Wie konnte sie Juliet sagen, was sie gefunden hatte
– und das ausgerechnet heute? Und wie konnte sie es ihr
nicht sagen?
»Juliet …« Gemma hielt inne und konzentrierte sich
darauf, die noch viel zu heiße Lauchcremesuppe umzurühren, die vor
ihr auf dem kleinen Cafétisch stand. Sie vermutete, dass Juliet
sich den ganzen Vormittag über nur mit Adrenalin und unzähligen
Tassen Kaffee auf den Beinen gehalten hatte, und hatte deshalb
darauf bestanden, dass sie erst einmal eine Kleinigkeit essen
gingen, nachdem sie das Newcombe-Haus unbehelligt wieder verlassen
hatten.
Juliet hatte, wenn auch widerstrebend,
eingewilligt, und eine Viertelstunde später saßen sie schon im
Inglenook, einem winzigen Teehaus in der Pillory Street, nicht weit
vom Buchladen der Kincaids. Es war schon ein bisschen spät für ein
warmes Mittagessen, doch der Wirt hatte ihnen die preisgekrönte
Suppe seiner Frau empfohlen, und der Dampf, der aus Gemmas Schüssel
aufstieg, duftete in der Tat himmlisch. Es war auch ganz gut, dass
sie den Mittagsansturm vermieden hatten, dachte sie, denn jetzt war
nur ein Tisch außer ihrem besetzt, was eine einigermaßen ungestörte
Unterhaltung ermöglichte – wenn sie nur gewusst hätte, was sie
sagen sollte.
Sie hatte nur einen Moment nachdenken müssen, um zu
erkennen, dass sie nicht guten Gewissens ignorieren konnte, was sie
in Lallys Zimmer gefunden hatte. Sie versetzte sich in Juliets Lage
– was würde sie davon halten, wenn irgendjemand Beweise
dafür entdeckt hätte, dass Kit Drogen nahm und weder ihr noch
Duncan etwas sagte? Sie würde es wissen wollen, und sie würde es
nicht so schnell verzeihen, wenn ihr irgendjemand diese Information
vorenthielte.
Nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, war ihr
erster Impuls gewesen, Duncan anzurufen und ihn die Sache in die
Hand nehmen zu lassen. Aber sie hatte rasch erkannt, dass es nur
ihre Feigheit war, die dahintersteckte. Gemma kostete vorsichtig
ihre Suppe, die genauso gut schmeckte, wie sie roch, und setzte
dann erneut an. »Mit Teenagern hat man’s nie leicht, nicht wahr?
Auch nicht unter den besten Umständen.«
Juliet blickte von ihrer Suppe auf, eine dunkle
Braue überrascht hochgezogen, und Gemma fiel auf, wie sehr sie
Duncan glich – wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Zumeist
glaubte sie, vor allem Rosemary in Juliets Zügen zu sehen, und
gelegentlich erinnerte ein Lächeln oder die Art, wie Juliet den
Kopf schief legte, sie an Hugh. »Das ist wohl wahr«, erwiderte
Juliet gedehnt und drehte ihren Löffel zwischen den Fingern.
»Lally war so ein liebes Kind, immer bemüht, es allen recht zu
machen. Und heute – heute frage ich mich manchmal, was aus diesem
kleinen Mädchen geworden ist, falls es überhaupt noch irgendwo
existiert.«
Gemma hörte den Schmerz in Juliets Stimme und
wusste, dass sie einen Nerv getroffen hatte. »Ich habe so meine
Zweifel, ob Lally das selbst überhaupt weiß.« Sie aß noch ein paar
Löffel von ihrer Suppe, um dann ein Stück von dem knusprigen
dunklen Brot abzubrechen und den Deckel von einer Portionspackung
Butter zu ziehen. »Ich weiß noch, als ich so alt war wie Lally, hat
meine Mutter immer zu mir gesagt, ich müsse wohl von Außerirdischen
entführt worden sein.« Juliet lächelte, und Gemma, die das als
Ermutigung auffasste, fuhr fort: »War Lally auch schon so
schwierig, bevor die Probleme mit Caspar anfingen?«
Juliet runzelte die Stirn und erwiderte: »Das kann
ich gar nicht so richtig sagen. Das ganze letzte Jahr war wohl
nicht leicht für sie, aber inzwischen frage ich mich, ob es
vielleicht früher schon Signale gab, die ich einfach nicht
wahrgenommen habe.«
Gemma musste daran denken, wie blind sie für die
Probleme gewesen waren, die Kit offenbar in der Schule hatte, und
schluckte ein wenig zu hastig. Sie hustete, bis ihr die Tränen
kamen, winkte jedoch ab, als Juliet sich besorgt vorbeugte.
Dann dachte sie an Kits neue Freundschaft mit
Lally, und eine plötzliche Furcht erfasste sie. Gewiss konnte sie
sich darauf verlassen, dass er keine Drogen anrühren würde, ganz
gleich, was er für Lally empfinden mochte – er war doch immer so
ein vernünftiger Junge gewesen. Aber ein Splitter des Zweifels
hatte sich in ihr Herz gebohrt wie eine eisige Nadel, und sie
stellte fest, dass ihr der Appetit vergangen war.
»Nach Peters Tod ist es natürlich schlimmer
geworden«, sagte Juliet, und Gemma blickte überrascht auf.
»Peter?«
»Ein Schulfreund von Lally. Peter Llewellyn. Er ist
im Kanal ertrunken. Es war …« Juliet schob ihren Teller weg, als
könne sie plötzlich auch keinen Bissen mehr hinunterbekommen, so
gut das Essen auch sein mochte. »Es war Alkohol im Spiel. Es war
ein solcher Schock – Peter war der letzte Junge auf der ganzen
Schule, von dem irgendjemand geglaubt hätte … Und Lally, Lally
schien es sehr schwer zu nehmen, aber sie wollte mit mir nicht
darüber reden.«
Gemma erkannte ihre Chance. »Wurde sonst noch
irgendetwas im Körper des Jungen nachgewiesen?«
»Sonst noch etwas? Was meinst du damit?« Juliet
klang vollkommen verdutzt, und Gemma wusste, dass es kein leichtes
Gespräch werden würde.
»Drogen. Hat man in Peters Blut Drogen
gefunden?«
»Nein.« Juliet schüttelte den Kopf. »Nein, nicht
dass ich wüsste. Und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Diese
Teenies, das sind doch noch die reinsten Kinder. Ich meine, mit
Alkohol experimentieren, ist eine Sache, aber …«
»Jules.« Gemma ertappte sich dabei, wie sie Duncans
Spitznamen für Juliet benutzte – eine vertraute Anrede, die für sie
noch vor einer Stunde nicht in Frage gekommen wäre. »Ich muss dir
etwas sagen.«
Juliet schaute sie an, ihre dunklen grauen Augen
angstvoll geweitet, sagte jedoch nichts.
Gemma blickte sich im Lokal um und sah, dass der
einzige andere Gast – eine Frau, die ganz hinten in der Ecke saß –
ihr Handy aus der Tasche gezogen hatte und leise hineinsprach. Der
Wirt war in der Küche verschwunden. Dennoch beugte sie sich weit
vor und senkte die Stimme. »Es tut mir leid. Es gibt nun mal keine
angenehme Art, es dir beizubringen. Als ich Lallys Sachen
zusammengesucht habe, da habe ich etwas in ihrem Rucksack gefunden.
Drogen.«
»Was?«, entgegnete Juliet tonlos. Und dann: »Nein,
das ist unmöglich.« Doch ihrem Protest zum Trotz wurde ihr ovales
Gesicht leichenblass. »Sagest du ›in ihrem Rucksack‹? Lally hat
ihren Rucksack dabei.«
»Das hier war ein alter; er lag in ihrem Schrank.
Es ist der, in den ich ihre Kleider gepackt habe.«
Juliet blies erleichtert die Backen auf und wagte
ein Lächeln. »Den hat Lally schon seit letztem Jahr nicht mehr
benutzt. Sie muss ihn irgendwem geliehen haben, der vergessen hat,
die Sachen vorher rauszunehmen.«
Gemma legte die Finger sanft auf Juliets
Handgelenk. »Juliet, es tut mir wirklich leid. Aber niemand lässt
solche Sachen, wie ich sie gefunden habe, aus Versehen in einem
geliehenen Rucksack liegen. Die Pillen vielleicht, aber nicht das
andere Zeug. Es war auch Haschisch dabei. Und selbst wenn Lally die
Sachen für jemand anderen aufbewahrt hat, hat sie sich da in eine
äußerst gefährliche Sache hineinmanövriert. Das musste ich dir
einfach sagen.«
»Haschisch?«, flüsterte Juliet. Alle Einwände
schienen vergessen. »Und welche Pillen?«
Gemma seufzte. »Ich vermute, dass es sich bei der
einen Sorte Tabletten um einen Tranquilizer wie Valium oder Xanax
handeln könnte. Hat euer Arzt dir oder Caspar so etwas
verschrieben?« Als Juliet den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Die
anderen Tabletten sehen selbst gemacht aus – ich vermute, dass es
sich dabei um Ecstasy handelt.«
»Aber das ist doch nicht so furchtbar schlimm?«,
fragte Juliet mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme. »Ich
meine, ich habe über Rave-Partys gelesen …«
Juliet verschränkte die Hände im Schoß und schlang
sie umeinander, als ob die eine Trost bei der anderen suchte. Gemma
sah, dass sie zitterten. »O Gott«, flüsterte sie. »Was soll ich nur
machen …?«
Gemma brachte es noch nicht über sich, auch die
Kondome zu erwähnen. Es wurde still an ihrem kleinen Tisch. Die
Suppe in den Schüsseln war kalt geworden, die verstreuten
Brotkrümel trockneten auf der bunten Tischdecke. Juliet hatte die
Augen geschlossen und saß so regungslos da, dass man meinen konnte,
sie sei eingeschlafen. Die Frau in der Ecke beendete ihr Gespräch
und klappte das Handy zu. Als sie zur Kasse ging, spähte sie
neugierig zu Gemma und Juliet herüber.
Der Wirt kam aus der Küche und scherzte munter mit
der Frau, während er abkassierte. Offenbar war sie ein
Stammgast.
Juliet schlug die Augen auf und fixierte Gemma mit
einem lodernden Blick. In die Stimmen und das Gelächter an der
Kasse hinein sagte sie leise: »Ich bringe sie um.« Hochrote Flecken
erschienen auf ihren blassen Wangen.
»Nein.« Gemma hatte angestrengt nachgedacht, seit
sie Lallys Drogenversteck entdeckt hatte. »Juliet, warte. Ich will
dir ja nicht nahelegen, dass du die Sache einfach ignorieren sollst
– weiß Gott nicht -, aber ich finde, du solltest ein paar Tage
warten, ehe du sie darauf ansprichst.« Gemma hatte den Eindruck,
dass die Nerven von Mutter und Tochter zum Zerreißen gespannt waren
und eine Konfrontation zu diesem Zeitpunkt katastrophale Folgen
haben könnte.
»Im Moment geht bei euch alles so drunter und
drüber – ich fürchte einfach, ihr könntet beide Dinge sagen, die
ihr hinterher bereut. Warte wenigstens, bis du dir einen Plan für
dich und die Kinder zurechtgelegt hast und ihr gesagt hast, was du
vorhast.« Sie blickte sich um und sah, dass der Wirt wieder in der
Küche verschwunden war. Verstohlen zog sie die Päckchen aus ihrer
Handtasche, schob sie über den Tisch und drückte sie Juliet in ihre
ruhelosen Hände. »Geh die Sache an, wenn die Dinge sich etwas
beruhigt haben.«
Juliet blickte Gemma an, ihre Schultern sackten
herab. »Versprich mir, dass du nichts davon Duncan sagen
wirst.«
»Sag schon, wie hat sie ausgesehen?« Lally hockte
sich auf die Fersen und sah Kit über die offene Bücherkiste mit dem
neuesten Harry-Potter-Band hinweg an. Sie hatten den größten Teil
des Vormittags und die Stunde nach dem Mittagessen damit verbracht,
in dem kleinen Hinterzimmer der Buchhandlung Bücher auszupacken und
in die Regale zu stellen. »Hat sie viel geblutet?«
»Ach, hör doch auf«, sagte Kit. »Ich will nicht
darüber reden.«
Lally senkte den Blick und strich mit der
Fingerspitze über die leicht staubigen Rücken der Bücher, die sie
noch nicht ausgepackt hatten. Er dachte, er hätte sie davon
abgebracht, doch nach einer kurzen Pause fragte sie mit leiserer
Stimme: »Hat sie so ausgesehen, als würde sie schlafen?«
Ihr veränderter Tonfall ließ Kit aufmerken. »Nein.
Wieso?«
»Ich wollt’s nur wissen, das ist alles.« Sie zuckte
demonstrativ mit den Achseln und streckte sich, wobei sie einen
Streifen Bauch sehen ließ. »O Mann, ich brauch jetzt unbedingt’ne
Kippe.«
»Red keinen Unsinn«, wies Kit sie verärgert
zurecht, wenngleich er froh um den Themenwechsel war. »Du solltest
gar nicht rauchen, und außerdem glaube ich nicht, dass wir einfach
so weggehen dürfen.« Lally hatte nur gejammert, seit Rosemary ihren
Wunsch nach Hamburgern ignoriert und ihnen stattdessen belegte
Brote gebracht hatte, und von ihrer ewig gleichen Leier dröhnte Kit
allmählich der Kopf.
»Wieso denn nicht?«, protestierte Lally. »Sie
behandeln uns wie Gefangene.« Sie hievte noch ein halbes Dutzend
Bücher aus der Kiste und stapelte sie achtlos nahe der Tischkante.
»Wenigstens hätten wir Anspruch auf ein ordentliches
Gerichtsverfahren.«
Rosemary und Hugh waren sehr taktvoll vorgegangen –
sie hatten keinem der Kinder ausdrücklich verboten, den Laden
zu verlassen, hatten aber Aufgaben für sie gefunden, die sie von
der ersten Minute an in Atem gehalten hatten. Und obwohl nicht
darüber gesprochen worden war, glaubte Kit den Grund zu kennen:
Ihre Großeltern wollten verhindern, dass Lally oder Sam ihren Vater
sahen. Kit wusste ebenso, dass Lallys Mutter ihr das Handy
weggenommen hatte – auch darüber hatte Lally sich ausgiebigst
beklagt -, und er nahm an, dass Rosemary und Hugh befürchteten,
Caspar könne in die Buchhandlung kommen und verlangen, dass sie ihm
die Kinder herausgaben, wie er es gestern im Pub getan hatte.
Rosemary war beim Geräusch der Türglocke jedes Mal
ein wenig zusammengezuckt, und Hugh war mehrmals unter irgendeinem
Vorwand aus seinem kleinen Büro im ersten Stock heruntergekommen,
um nach ihnen zu sehen, wobei er einmal neben Kit stehen geblieben
war und ihm linkisch die Schulter getätschelt hatte. Kit hatte auch
Rosemary dabei ertappt, wie sie ihn beobachtete, und in ihren Augen
eine Mischung aus Freundlichkeit und Beunruhigung gelesen, die ihm
leises Unbehagen bereitete und ihm zugleich merkwürdig warm ums
Herz werden ließ.
Im Gegensatz zu seiner Cousine hatte Kit kein
Problem damit, im Laden zu bleiben. Er mochte den leicht modrigen
Geruch, den die Regale mit den antiquarischen Büchern ausströmten;
er mochte die schiefen Böden und die verwinkelten Wände des alten
Hauses; er liebte es, die schweren Bücher in der Hand zu wiegen und
ihre bunt schillernden Schutzumschläge zu betrachten, die ihn mit
Abenteuern lockten und ihn in eine andere Welt zu entführen
versprachen. Und er hatte auch nichts gegen ein bisschen
Beschäftigung – das hielt die Bilder des Morgens, die ihn unentwegt
bedrängten, in Schach.
»Pass auf die Bücher auf!«, rief er gellend, als
der Stapel hinter Lally ins Wanken geriet.
»Die blöden Bücher interessieren mich einen
Scheißdreck«, gab sie zurück, schob aber dennoch den Stapel von der
Tischkante zurück und richtete ihn ein wenig aus. Durch die dunkle
Haarlocke hindurch, die ihr ins Gesicht gefallen war, warf sie Kit
einen verschlagenen Blick zu und flüsterte: »Wir könnten uns
einfach zur Hintertür rausschleichen.«
»Nein.« Kit legte die Kiste, die er geleert hatte,
mit etwas mehr Kraftaufwand zusammen, als dafür erforderlich
gewesen wäre. »Und selbst wenn das ginge, wo willst du denn
überhaupt Zigaretten herkriegen? Du darfst ja keine kaufen.«
Lally grinste. »Ach, es gibt immer eine
Möglichkeit, an so was ranzukommen. Kennst du das Pub an der Ecke
hinter dem Laden? Der Typ, der da hinter dem Tresen arbeitet, der
kauft mir welche, wenn ich ihm das Geld gebe.«
»Aber das ist …« Das Läuten der Türglocke ließ sie
beide zusammenfahren, doch dann sah Kit, wie Lally sich entspannte,
als eine eindeutig weibliche Stimme Rosemarys Begrüßung
erwiderte.
»Es ist Mrs. Armbruster«, flüsterte Lally. »Sie
wird Oma mindestens eine Stunde lang die Ohren vollquatschen. Komm!
Wenn wir gleich gehen, können wir zurück sein, ehe irgendwer was
merkt.«
»Was ist mit Sam und Toby?«
»Opa ist mit ihnen nach oben gegangen, um Dame zu
spielen. Die werden uns schon nicht suchen. Los, komm!« Sie stand
auf und schlich zur Tür. Ihre Turnschuhe machten auf den Holzdielen
kein Geräusch.
»Lally, nein, warte!« Kit richtete sich auf, doch
seine Beine schienen sich irgendwie verknotet zu haben, und er
strauchelte unbeholfen. »Wir sollten lieber nicht … Sie werden sich
Sorgen machen …«
Sie blieb stehen, die Hand auf dem Knauf der
Hintertür. »Dann geh ich eben allein. Du kannst ihnen ja irgendwas
erzählen,
wenn sie nach mir fragen.« In ihrem Blick lag Verachtung – und
eine Herausforderung.
Kit errötete, beschämt, weil sie ihn wie ein Kind
behandelte. Aber schlimmer noch war der Gedanke, Lally allein auf
die Straße gehen zu lassen. Wenn ihr Vater sie nun zufällig sah und
sie sich schnappte? Dann wäre er, Kit, dafür verantwortlich. Wenn
Lally entschlossen war zu gehen, würde er wohl oder übel mitgehen
müssen.
»Beeil dich«, zischte Kit ihr zu, als sie auf dem
Gehsteig vor dem Pub standen. Es war nicht viel los um diese
Tageszeit, und durch das Bleiglasfenster konnte er sehen, dass die
Bar fast leer war. »Wie willst du das überhaupt anstellen? Du
darfst da doch nicht rein.«
Sie hatten keine Jacken mitgenommen, und er
zitterte jetzt schon. Der Himmel hatte sich verdunkelt und die
mattgraue Farbe angelaufenen Silbers angenommen, und er glaubte,
Schnee in der Luft riechen zu können.
»Das wirst du schon sehen.« Lally zog den Saum
ihres Baumwoll-Sweatshirts herunter, reckte das Kinn in die Höhe
und zog die Tür auf. Auf der Schwelle blieb sie stehen und rief:
»Kann ich mal bei euch aufs Klo?«
Durch das Fenster sah Kit, wie der Barmann
aufblickte. Sein rundliches Gesicht war mit Pickeln übersät, und
Kit schätzte ihn kaum älter als achtzehn.
»Tut mir leid.« Der Barmann schüttelte den Kopf,
während er den Tresen mit einem Lappen abwischte. »Du bist noch
nicht volljährig. Benutz die öffentlichen Toiletten oder geh ins
Crown. Die lassen dich rein.«
Lally trat mit gespielter Ungeduld von einem Fuß
auf den anderen und jammerte: »Bitte! Ich muss ganz dringend. Ich
glaub nicht, dass ich noch so weit gehen kann. Ich werd mich auch
beeilen.«
»Na gut. Aber mach die verdammte Tür zu und trödel
nicht.«
Lally warf Kit ein triumphierendes Lächeln zu und
schlüpfte hinein. Er sah sie in einem Gang verschwinden, der zum
hinteren Teil des Pubs führte. Nachdem der Barmann noch ein paar
Sekunden den Lappen geschwungen hatte, holte er etwas unter dem
Tresen hervor und schlenderte dann wie beiläufig den Flur hinunter,
durch den Lally gegangen war.
Einen Augenblick später kam er zurück, und gleich
hinter ihm tauchte Lally auf. Die Hände in die Taschen ihres
Sweatshirts gestopft, durchquerte sie eilig die Bar. »Danke, ey«,
warf sie dem Barmann lässig über die Schulter zu, während sie die
Tür aufstieß.
»Das ist Sean«, erklärte sie, als sie zum Buchladen
zurückgingen und Kit sie mit einer Hand an ihrem Ellbogen zur Eile
drängte. »Wohnt nur ein paar Häuser weiter von uns. Der würde alles
für mich tun.« Lally angelte eine Schachtel Benson & Hedges aus
ihrer Sweatshirttasche und begann das Zellophan abzuziehen. Der
Wind erfasste den federleichten Fetzen, als sie ihn achtlos
wegwarf, und wirbelte ihn umher wie einen Lamettafaden, der kurz
aufblitzte und verschwand.
Lally zog eine Zigarette aus der Schachtel und ein
Plastikfeuerzeug aus der Tasche, während sie ihren Schritt
verlangsamte und unter der Markise eines Ladens stehen blieb.
»Warte mal einen Moment«, sagte sie. Sie steckte sich die Zigarette
zwischen die Lippen und hielt die hohle Hand über die Spitze,
während sie das Feuerzeug anklickte.
»Lally, hör auf mit dem Scheiß! Du kannst dich doch
nicht hier mitten auf die Straße stellen und rauchen. Was ist, wenn
dich jemand sieht?« Kits Stimme bebte vor nervöser Ungeduld.
»Na und? Was soll ich denn sonst machen? Warten,
bis wir wieder im Laden sind und mir im Hinterzimmer eine
anstecken?
Das war schließlich der Sinn der ganzen Übung, falls du es schon
vergessen hast – dass ich eine rauchen wollte.« Sie inhalierte,
beugte sich ein Stück weiter unter die schützende Markise und
musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, ehe sie sich
abwandte.
Kit starrte ihr Profil an. Einen kurzen Moment lang
hatte er das sonderbare Gefühl, sie so sehen zu können, wie sie in
zehn Jahren aussehen würde oder in zwanzig, die zarten Konturen
ihres Gesichts verhärmt und verhärtet durch die Zeit und die
Erfahrung.
Zugleich mit dieser Vision überkam ihn ein Gefühl
der Ohnmacht und eine tiefe Traurigkeit, aber er sagte nur: »Sie
werden sich fragen, wo wir sind. Was sollen wir denn sagen, wenn
sie uns schon gesucht haben?«
»Mir fällt schon was ein«, fuhr sie ihn an. »Mein
Gott, Kit, nun sei doch nicht so ein Weichei. Du klingst schon wie
mein Freund Peter. ›Du sollst nicht rauchen, Lally‹«, äffte sie ihn
nach. »›Du sollst nicht trinken, Lally. Du sollst dies nicht, du
sollst das nicht. Du könntest Ärger kriegen, Lally.‹« Sie ließ ihre
halb aufgerauchte Zigarette fallen und zertrampelte sie grimmig mit
dem Absatz. »Das war alles nur dummes Geschwätz. Am Ende war er
auch nicht anders – nein, er war schlimmer.« Sie funkelte Kit an,
wie um ihn zum Widerspruch herauszufordern. Mühsam zurückgehaltene
Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie sich unwillig abwandte
und Richtung Buchladen weiterging.
Eine kalte Nadel traf Kit an der Wange, dann noch
eine. Eisregen fiel vom Himmel. Er rannte ihr nach und mühte sich,
seine Stimme wiederzufinden. »Warum? Warum war er schlimmer?«
Der auffrischende Wind trug ihm ihre Worte zu, und
er glaubte, ihre Wut in dem kalten Luftstoß zu spüren. »Darum. Weil
er ein beschissener Heuchler war, deswegen.«