18
Das lose Ende des Polizei-Absperrbands erhob sich flatternd in die Luft, zum Leben erweckt von einem Windstoß, um gleich darauf wieder zu sinken und schlaff am Pflock herabzuhängen, als hätte die Anstrengung es erschöpft. Gemma und Juliet standen vor der Absperrung und ließen den Blick über das schweifen, was von Juliets Baustelle übrig war.
Ein Meer von Schlamm erstreckte sich vor ihnen, die nasse Erde war übersät mit Spuren von schwerem Gerät und Stiefelsohlen. Ein trostloser Anblick – wie eine Mondlandschaft, nur wesentlich dreckiger. Gestalten in Blaumännern gingen in der Ruine des Viehstalls aus und ein, und in unregelmäßigen Abständen zerrissen Hammerschläge die kalte Luft wie Pistolenschüsse.
Betroffen starrte Juliet auf das Chaos, doch dann schien die Wut sie zum Handeln anzustacheln. Sie schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und stapfte durch den Matsch wie eine Walküre, die in die Schlacht zieht. Gemma, der es nur um ihre guten Londoner Schuhe leidtat, folgte ihr ein wenig zögerlicher.
Sie fragte sich, worauf sie sich da wieder eingelassen hatte. Zwar hatte sie selbst Kincaid gedrängt, mit Chief Inspector Babcock zu fahren, doch sie war nicht auf das Gefühl der Frustration gefasst gewesen, das sie erfasst hatte, als sie die beiden davonfahren sah.
Auf dem Rückweg zu Duncans Eltern hatte sie jedoch mit Erleichterung vernommen, dass Rosemary und Hugh die Kinder in die Buchhandlung mitnehmen wollten. Juliet hatte ihr zugeflüstert, sie wolle ein paar Sachen aus ihrem Haus holen, da Caspar an diesem Morgen einen Termin außerhalb von Nantwich habe. Sie hatte nicht um Hilfe gebeten, doch es war nicht zu übersehen gewesen, wie nervös sie war, und als Gemma sich erboten hatte, sie zu begleiten, hatte sie das Angebot gleich angenommen.
Zuvor jedoch hatte Juliet unbedingt noch bei ihrer Baustelle vorbeischauen wollen. Sie hoffte, dass die Polizei inzwischen mit ihrer Spurensicherung fertig wäre und sie mit ihrem Team wieder an die Arbeit gehen könnte. Doch es war nur allzu offensichtlich, dass es dazu in absehbarer Zeit nicht kommen würde.
»He, Sie da!« Ein bulliger Mann, der über seinem Anzug eine Sicherheitsjacke mit der Aufschrift Polizei trug, hatte Juliet erspäht. Er brach sein Gespräch mit einem der Arbeiter ab und kam auf sie zugestürmt. »Was haben Sie hier eigentlich verloren? Können Sie nicht sehen, dass das Gelände abgesperrt ist?«
»Was haben Sie hier eigentlich verloren?«, schrie Juliet zurück. »Das hier ist meine Baustelle. Was machen Sie mit meinem Gebäude?«
Auch ohne die Jacke hätte man dem Mann den Polizisten auf zehn Meilen Entfernung angesehen – und auch, dass ihm dieser Auftrag zum Hals heraushing. Sein Gesicht verfärbte sich dunkelrot. »Hören Sie, Lady …«
»Sie heißt nicht ›Lady‹«, fuhr Gemma mit eisiger Stimme dazwischen. »Sie heißt Mrs. Newcombe. Und ich bin Detective Inspector James von der Metropolitan Police.«
»Aber klar doch, und ich bin Camilla Parker-Bowles«, gab er zurück. »Ich sag’s Ihnen nicht noch ein…« Mitten im Wort brach er ab und glotzte sie mit offenem Mund an, was ihn nicht eben attraktiver machte. Die hochrote Farbe wich aus seinem Gesicht. Gemma hatte ihren Dienstausweis aus der Tasche gezogen und hielt ihn dem Mann vor die Nase.
»Scheiße«, bemerkte er kurz und treffend, um gleich darauf noch entsetzter dreinzuschauen. »Verzeihung, Ma’am, ich wusste ja nicht …«
»Wie war das noch mal mit der bürgernahen Polizeiarbeit?«, fragte Gemma mit beißendem Sarkasmus. »Dort, wo ich herkomme, bemühen wir uns in der Regel um ein gutes Verhältnis zur Zivilbevölkerung, aus deren Steuergeldern wir schließlich bezahlt werden – so schwierig es auch manchmal sein mag.«
»Ich wusste nicht …«
»Es interessiert mich nicht, ob Sie uns für zwei Pennerinnen oder sonst was gehalten haben.« Ein Blick in Juliets Richtung erinnerte Gemma daran, dass dieses kleine Scharmützel kaum geeignet war, ihre Begleiterin zu beruhigen, auch wenn sie selbst es noch so sehr genoss. Sie brachte ein Lächeln zustande. »Hören Sie, Sergeant – ist das korrekt?« Es war nur eine Vermutung, wenngleich eine wohlbegründete – schließlich hatte DCI Babcock dem Mann diesen nicht gerade ruhmreichen Job aufs Auge gedrückt, während er sich selbst unverzüglich in die Jagd nach dem Mörder der Frau am Kanal gestürzt hatte. Und dass der Mann sofort gekuscht hatte, als er Gemmas Dienstgrad erfahren hatte, machte es unwahrscheinlich, dass er selbst Inspector war.
»Rasansky, Ma’am«, stieß er schmallippig hervor.
»Sergeant Rasansky, was um alles in der Welt geht hier vor? Haben Sie etwas Neues gefunden?«
»Nein, Ma’am. Der DCI hat einen Rückbautrupp angefordert. Reine Zeitverschwendung, wenn Sie mich fragen.«
»Rückbau?« Juliet packte Gemmas Arm. »Was hat das zu bedeuten?«
»Genau das, wonach es klingt, fürchte ich«, antwortete Gemma seufzend. »Es bedeutet, dass Chief Inspector Babcock denkt, wo eine Leiche war, könnten möglicherweise noch weitere sein. Es wäre nicht das erste Mal.«
»Aber …« Juliet machte unwillkürlich einen Schritt auf das Gebäude zu, hielt aber inne, als sie Rasanskys bösen Blick bemerkte. »Aber diese Mörtelschicht über der alten Futterkrippe war doch ganz offensichtlich die einzige bauliche Veränderung …«
»Trotzdem muss er auf Nummer sicher gehen.« Gemma dachte an die grausigen Funde im Garten und im Keller des Hauses von Fred und Rosemary West in Gloucestershire, eine Lehre, die in den Reihen der britischen Polizei niemand so schnell vergessen würde. Babcock hatte zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht genug Informationen, um einen mehrfachen Mord ausschließen zu können.
»Aber das wird die Bauarbeiten um Monate verzögern! Am Ende ziehen die Bonners den Auftrag sogar ganz zurück.« Juliet schien den Tränen nahe. »Kann ich nicht wenigstens die Arbeiten überwachen, damit diese Leute so wenig Schaden wie möglich anrichten?«
Ihre Verzweiflung schien Rasansky ein wenig zu erweichen. »Es tut mir leid, Mrs. Newcombe. Nur autorisiertes Personal, so lautet nun mal die Vorschrift. Aber es ist ein gutes Team, und ich bin sicher, dass man Ihnen alle eventuellen Schäden ersetzen wird.« Er schien allerdings ein wenig von seiner Selbstsicherheit zurückgewonnen zu haben, denn nun fixierte er Gemma mit strengem Blick. »Entschuldigen Sie die Frage, Ma’am, aber was hat eigentlich die Met mit diesem Fall zu tun?«
»Wir beraten DCI Babcock«, antwortete sie forsch. »Da wir schon hier sind, würde ich mich gerne noch ein wenig auf dem Gelände umsehen, aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich melde mich schon, falls ich noch Fragen haben sollte.« Sie nickte ihm zu, während sie Juliets Arm packte und sie in Richtung Kanal herumdrehte.
Juliet schien protestieren zu wollen, als Gemma sie auf die gewölbte Brücke zuführte. »Was sollen wir …«
»Ich bin überhaupt nicht befugt, ihm gegenüber die Vorgesetzte herauszukehren oder auf dem Gelände herumzuschnüffeln, und es wäre mir ganz recht, wenn er das nicht rausbekäme«, flüsterte Gemma. »Aber ich würde mir gerne mal von hier aus den Kanal anschauen.«
Sie staksten vorsichtig über tiefe Fahrspuren und Schmelzwasserpfützen hinweg, bis sie an der alten Steinbrücke angelangt waren. »Die führt ja nirgendwo hin«, bemerkte Gemma überrascht, als sie auf dem Scheitelpunkt der Brücke stehen blieben. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein Schachbrettmuster von braunen und grünen Feldern, in der Ferne gesäumt von einer Baumreihe.
»Doch.« Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Juliet ein wenig. »Nämlich zum Leinpfad. Es gibt jede Menge solcher Brücken entlang des Kanalnetzes.«
Gemma drehte sich langsam um, während der Wind mit eisigen Fingern an ihren Kleidern zerrte. Aus dem Dunst, der für den trüben Morgen in Barbridge gesorgt hatte, war eine dichte Wolkendecke geworden, und der Himmel schien wie eine riesige graue Schüssel auf der Landschaft zu lasten, gespiegelt in der glatten Wasseroberfläche des windgeschützten Kanals.
Nördlich der Brücke lagen sechs Boote hintereinander am Ufer gegenüber dem Leinpfad. Ihr bunter Anstrich setzte auffällige Kontraste im trüben Licht des Tages.
»Das sind feste Liegeplätze«, erklärte Juliet. »Sie werden von den Grundstückseigentümern vermietet.«
Aus dieser Perspektive konnte Gemma erkennen, dass man vom Viehstall aus einen ungehinderten Blick auf die Boote, die hübsche Steinbrücke und den Kanal beiderseits der Biegung hatte. Vielleicht war die Lage ja doch attraktiver, als sie geglaubt hatte, aber das war es nicht, was ihr Interesse geweckt hatte.
Sie deutete nach Norden. »Wie weit ist es von hier bis Barbridge?« Auf der Fahrt hierher war es ihr nur wie ein Katzensprung vorgekommen, und sie nahm an, dass die Straße mehr oder weniger parallel zum Kanal verlief.
»Ich weiß nicht genau«, sagte Juliet. »Eine Meile vielleicht, oder auch ein bisschen mehr.«
Gemma runzelte die Stirn. »Gibt es zwischen hier und Barbridge irgendeine Möglichkeit, mit dem Auto an den Kanal heranzufahren?«
»Nein. Da müsste man schon quer über die Felder fahren. Wieso?«
»Es kommt mir einfach merkwürdig vor«, meinte Gemma achselzuckend. »Zwei Leichen auf einem so engen Raum und die zweite so kurz nach der Entdeckung der ersten.« Sie wandte sich zu Juliet um. »Gab es irgendeine Verbindung zwischen der Frau, die heute Morgen gefunden wurde, und deiner Baustelle?«
»Nicht dass ich wüsste. Aber – willst du etwa andeuten, dass ihr Tod etwas mit der Babyleiche zu tun haben könnte, die ich gefunden habe?« Juliets Stimme war schrill vor Entsetzen.
»Nein, nein, ich will gar nichts andeuten, ich denke nur laut nach. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Doch Juliet schüttelte nur den Kopf. »Das ist zu viel. Wenn noch irgendetwas diese Renovierung aufhält, weiß ich wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Ich weiß, das klingt furchtbar egoistisch, und es ist wirklich nicht so, als ob mir diese arme Frau, die gestern Abend ermordet wurde, völlig egal wäre. Aber ich kann bald meine Leute nicht mehr bezahlen, und wenn ich die verliere, bin ich so gut wie erledigt.«
Gemma erkannte die Zeichen der aufziehenden Panik und sah ein, dass sie ihre Spekulationen vorläufig würde für sich behalten müssen. Sie legte den Arm um Juliets Schulter, drehte sie in die Richtung, in der sie ihren Wagen geparkt hatten, und sagte: »Das ist jetzt auch gar nicht wichtig. Jetzt müssen wir erst mal deine Sachen holen. Und dann sehen wir weiter.«
 
Die Kabinentür schwang auf, bevor Althea anklopfen konnte, und Gabriel Wain zerrte sie grob über die Schwelle. Die Vorhänge im Salon waren ganz zugezogen, und eine einsame Lampe warf einen gelben Lichtkreis auf den Klapptisch. Der Raum war noch genauso kalt wie am Tag zuvor, und im Ofen brannte nur ein schwaches Feuer.
Altheas Augen hatten sich noch nicht an das Dämmerlicht gewöhnt, als Gabriels raue Stimme an ihr Ohr drang: »Ist das wahr? Stimmt es, was die Leute sagen? Dass sie tot ist?« Seine Finger bohrten sich in ihren Oberarm.
»Falls Sie Annie Constantine meinen – ja, sie ist tot.«
Einen Augenblick lang glaubte sie, schreien zu müssen, so heftig war der Schmerz in ihrem Arm. Doch dann ließ er sie los und wandte sich ab, und es schien Althea, als schrumpfe er vor ihren Augen zusammen.
Das Sauerstoffgerät fest an die Brust gedrückt, rieb sie sich mit der freien Hand den Arm. Jetzt konnte sie sehen, dass die Kinder auf der Bank am Klapptisch kauerten; mit großen Augen starrten sie verängstigt zu ihr herüber. Von Rowan war nichts zu sehen.
Ohne sich zu ihm umzudrehen, forderte Gabriel seinen Sohn auf: »Joseph, geh an Deck und räum auf. Wir müssen lenzen und den Wassertank auffüllen. Und nimm deine Schwester mit.«
Die Kinder erhoben sich gehorsam, und als sie sich an Althea vorbeischoben, musste sie dem unvermuteten Drang widerstehen, dem Jungen über das lockige Haar zu streichen. Sobald die zwei zur Tür hinaus waren, drehte Gabriel Wain sich zu ihr um. Seine Miene war unergründlich.
»Tut mir leid, dass Sie sich umsonst die Mühe gemacht haben«, sagte er. »Aber wir werden das da nicht mehr brauchen.« Er deutete auf das Sauerstoffgerät.
Altheas Herz pochte heftig. »Ihre Frau … ist sie …?«
»Mehr oder weniger unverändert. Sie wird schon wieder gesund.«
Althea starrte ihn an. »Das wird sie eben nicht. Ich dachte, ich hätte Ihnen erklärt …« Da wurde ihr plötzlich klar, was er mit seiner Aufforderung an die Kinder gemeint hatte – und mit seiner Bemerkung über das Sauerstoffgerät. »Sie können doch nicht ernsthaft vorhaben weiterzufahren«, sagte sie entsetzt.
»Es ist das Beste«, entgegnete er knapp. »Würden Sie jetzt bitte …«
»Mr. Wain, Ihnen ist wohl nicht bewusst, wie … schwer es für Ihre Frau werden wird. Ich kann ihr helfen. Warum wollen Sie ihr das verwehren?«
»Wir können keinen Ärger gebrauchen. Die Polizei …«
»Warum sollte die Polizei mit Ihnen reden wollen? Was mit Mrs. Constantine passiert ist, war entsetzlich, aber niemand würde doch auf die Idee kommen, Sie mit dieser Tat in Verbindung zu bringen.«
Er rieb sich mit dem Handrücken über das unrasierte Kinn. »Woher wollen Sie das wissen? Ich … Als sie zu uns aufs Boot kam an Heiligabend, da ist es ein bisschen laut geworden.«
»Laut?«
»Wir haben gestritten. Es war Rowan, die unbedingt wollte, dass sie an Bord kam. Ich hatte ihr gesagt, dass wir nichts mit ihr zu tun haben wollen, dass sie uns in Frieden lassen soll. Warum kommt sie nach so langer Zeit plötzlich daher und mischt sich in unser Leben ein?«
»Sie wollte Ihnen doch nur helfen.«
»Und was haben wir jetzt davon?«, fauchte er sie an, doch sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme.
»Sie haben immerhin mich«, sagte Althea mit einer Überzeugung, die sie nicht unbedingt empfand. Doch den Gedanken, dass dieser Mann Annie Constantine so etwas Schreckliches angetan haben könnte, verwarf sie ebenso schnell, wie er ihr gekommen war. Sie hätte schwören können, dass die Nachricht von ihrem Tod ihn tief getroffen hatte.
Dann begannen Zweifel an ihr zu nagen. War es denkbar, dass er ein zweites Mal mit Annie in Streit geraten war, dass er im Affekt auf sie eingeschlagen und sie anschließend liegen gelassen hatte, ohne zu ahnen, wie schwer sie verletzt war?
»Gabriel, haben Sie Annie Constantine gestern Abend gesehen?«
»Nein. Ich hab die Frau nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit Sie beide gestern das Boot verlassen haben.«
»Dann haben Sie auch nichts zu befürchten«, sagte sie.
Er wandte sich ab und unterdrückte ein bitteres Lachen. »Schön wär’s.« Das Boot schaukelte leicht unter den Schritten der Kinder, die an Deck umhergingen. »Ich sag’s Ihnen, wir müssen hier weg. Die Kinder … wir können es nicht riskieren, länger zu bleiben.«
Althea dachte nach, ging rasch im Kopf die Möglichkeiten durch. Er könnte ein Stück weiterfahren, und sie könnten sich an einem vorher vereinbarten Liegeplatz treffen, um den Sauerstoffbehälter auszutauschen – aber nein. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit.
»Hat irgendjemand Ihren Streit mit Annie mitbekommen?«, fragte sie.
»Ganz Barbridge vermutlich.«
»Dann können Sie nicht einfach verschwinden. Begreifen Sie denn nicht? Die Polizei wird jeden in der Umgebung vernehmen. Irgendjemand wird bestimmt zu Protokoll geben, dass er gehört hat, wie Sie beide sich angebrüllt haben, und die Polizei wird Ihre Flucht als Schuldeingeständnis werten. Es wird nicht lange dauern, bis sie Sie schnappen – das Kanalnetz ist schließlich nicht unendlich. Sie müssen sich anders aus der Affäre ziehen.«
»Aber was soll ich denn sagen?«
Hätte Althea noch eine Bestätigung gebraucht, dann hätte diese Frage sie ihr geliefert, die nur ein grundehrlicher Mann stellen konnte; ein Mann, der nicht einmal eine Notlüge zustande brachte. »Sagen Sie ihnen, es war ein Streit unter Bootsleuten. Sagen Sie, sie hätte ihr Boot schlecht vertäut und Ihnen eine Schramme verpasst. Es wäre nicht dass erste Mal, dass wegen so was die Fetzen fliegen.«
Gabriel nickte zustimmend. »War irgendjemand nahe genug, um hören zu können, dass es um etwas anderes ging?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Dann werden sie die Sache vielleicht nicht weiter verfolgen. Und geben Sie ja nicht von sich aus zu, dass Sie sie gekannt haben.« Noch während sie sprach, fragte sich Althea, was eigentlich in sie gefahren war. Sie, die den größten Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, der Polizei zu helfen.
 
»Ich hole Sams Sachen, wenn du die für Lally einpackst«, sagte Juliet zu Gemma, als sie die Treppe zum ersten Stock hinaufgingen.
Das Haus schien geradezu unheimlich still und abweisend, und Gemma dachte, dass Juliets Nervosität wohl auf sie abgefärbt haben musste. Sie hatten sich vergewissert, dass Caspars Wagen weder vor dem Haus noch vor dem Büro stand, bevor sie hineingegangen waren, und auch dann noch waren sie eine Weile im Flur stehen geblieben, um zu horchen, ehe sie einen raschen Blick in die unteren Zimmer geworfen hatten.
Doch dann schalt Gemma sich für ihre überbordende Fantasie und fragte so munter wie möglich: »Was für Sachen soll ich denn einstecken?«
Wäre es denn so schlimm, wenn Caspar Newcombe plötzlich nach Hause käme?, fragte sie sich. Juliet hatte doch wohl das Recht, hier zu sein und sich die persönlichen Dinge zu nehmen, die sie brauchte.
Aber leider hatte Gemma schon zu oft mit eigenen Augen gesehen, wie Ehestreitigkeiten ausarten konnten, als dass ihr eigener vernünftiger Rat sie ganz und gar beruhigt hätte.
»Ach, einfach nur ein bisschen Unterwäsche und ein paar saubere Jeans und Pullis.« Juliet deutete auf die erste Tür links im oberen Flur. »Egal, was ich aussuchen würde, es wäre ja doch verkehrt – ich denke, bei dir stellt sie sich vielleicht nicht so an.« Die Spannungen zwischen Mutter und Tochter waren an diesem Morgen nicht zu übersehen gewesen, und Gemma hatte Juliets Erleichterung gespürt, als ihre Eltern angeboten hatten, die Kinder zu nehmen.
Obwohl sie sich viel eher zugetraut hätte, für einen Jungen anstatt für ein Mädchen Sachen auszusuchen, folgte Gemma Juliets Anweisungen ohne Widerrede. Lallys Tür war geschlossen, und sie hatte ein Blatt Papier mit einem sorgfältig gezeichneten Totenkopfsymbol daran geheftet. Unter die Zeichnung hatte sie in Blockbuchstaben KEIN ZUTRITT geschrieben, und darunter in Klammern (DAS GILT AUCH FÜR DICH, SAM!).
»Tut mir leid, Schatz«, flüsterte sie und drehte den Knauf um. Die Tür sprang auf, Gemma blieb auf der Schwelle stehen und hielt verblüfft die Luft an. Sie hatte offen zur Schau gestellte Rebellion erwartet, doch was sie sah, schien kaum die Persönlichkeit des jungen Mädchens zu spiegeln, dem dieses Zimmer gehörte.
Die Wände waren rosa, die Bettdecke hatte ein mint- und rosafarbenes Blumenmuster, und der Polstersessel am Fenster war in den gleichen Farben gestreift. Ein paar Stofftiere saßen am Kopfende des hastig gemachten Betts; die gerahmten Drucke an den Wänden zeigten verträumt-impressionistische Darstellungen von grasenden Pferden. Das waren Kindersachen. Hatte Lally sie mit Absicht behalten? Und wenn ja, warum?
Das Zimmer war auch zu ordentlich aufgeräumt für einen Teenager, bis auf ein paar Kleidungsstücke, die achtlos auf eine Bank am Fußende des Betts geworfen worden waren, und die nicht ganz geschlossenen Schubladen der Kommode, die den Eindruck eines Gebisses mit vorstehenden Zähnen erweckten.
Gemma schnupperte und nahm einen Hauch von billigem Parfüm wahr – die Sorte, die junge Mädchen von ihrem Taschengeld bei Woolworth oder Body Shop kauften, und das war nun wiederum so angenehm normal, dass Gemmas Unruhe sich legte. Ihre Fantasie war mal wieder mit ihr durchgegangen. Jedenfalls kannte sie Lally nicht gut genug, um allein aufgrund von Äußerlichkeiten wie dem Fehlen von Boygroup-Postern und schwarzen Tüchern ein Urteil fällen zu können.
Die Schritte im Nebenzimmer, wo Juliet Türen und Schubladen auf- und zumachte, mahnten sie, endlich anzufangen. Juliet hatte ihr keine Tüte gegeben, also galt es zunächst, eine Tasche oder einen Koffer zu finden.
Nach einigem Kramen im Kleiderschrank war das Beste, was sie finden konnte, ein leerer, etwas abgenutzter Rucksack. Sie stellte ihn aufs Bett und begann eilig die Schubladen der Kommode zu durchwühlen. Die gefalteten Slips und BHs, die sie zutage förderte, waren kaum mehr als ein paar Quadratzentimeter Spitze mit ein bisschen Wattierung. Sie musste lächeln, als sie an die Zeit zurückdachte, als sie selbst solche Sachen voller Stolz getragen und sich mit ihrer Schwester darum gestritten hatte, wer sie am dringendsten brauchte.
Als sie die Hände voll hatte, drehte sie sich zum Bett um und sah, dass der Rucksack umgefallen war, wobei ein buntes Stück Papier oder Folie zu Boden gesegelt war. Sie hob es abwesend auf – und hielt inne, als ihre Finger sich um das kleine Päckchen schlossen und sie erkannte, was sie da in der Hand hielt.
Es war ein Kondom, verpackt in bunte Folie.
Gemma ließ den Stapel sauber gefalteter Unterwäsche aufs Bett fallen und griff nach dem Rucksack. Sie steckte die Hand hinein und tastete suchend, bis sie die offene Innentasche gefunden hatte.
Eine scharfe Kante piekste sie in den Finger, und sie zog noch mehr Kondome hervor, ein halbes Dutzend davon, die Folienbriefchen bunt wie Konfetti. Gemma ließ sich auf die Bettkante sinken und dachte fieberhaft nach. Gewiss, jedes Schulmädchen kam sich ganz toll vor, wenn es bei seinen Freundinnen mit solchen Scherzkondomen angeben konnte, die in der großen Pause kichernd herumgereicht wurden. Dass Lally welche besaß, hieß noch nicht, dass sie sie auch benutzte.
Sie steckte die Kondome wieder in die Tasche und griff nach dem Stapel Unterwäsche, doch dann hielt sie erneut inne und rümpfte die Nase. Da war noch etwas anderes, der Hauch eines vertrauten Geruchs.
Diesmal suchte sie gründlicher und tastete die Nähte der innersten Taschen mit einem Taschentuch ab, um ihre Finger zu schützen. Ihre Gründlichkeit wurde belohnt, als sie auf ein unregelmäßig geformtes, daumennagelgroßes Päckchen aus Klarsichtfolie stieß. Vorsichtig wickelte sie es aus, doch das flaue Gefühl im Magen setzte schon ein, ehe sie überhaupt gesehen hatte, was in der Folie steckte. Es waren Tabletten. Weiß, ohne Prägung; manche oval, andere kreisrund.
Es hätte natürlich alles Mögliche sein können, aber Gemma vermutete, dass es sich bei den ovalen um Xanax oder einen ähnlichen Tranquilizer handelte, und die runden waren wahrscheinlich Ecstasy. Sie waren ohne Kerbe und sahen irgendwie selbst gemacht aus. Was es auch sein mochte, sie war sich ziemlich sicher, dass weder diese noch die anderen Pillen Lally vom Arzt verschrieben worden waren.
Aber das war immer noch nicht alles – der Geruch war stärker geworden. Wieder steckte sie die Hand in den Rucksack, und ihre Finger stießen auf ein weicheres Päckchen. Sie musste im Grunde gar nicht mehr nachschauen – es war Haschisch, und die Menge war nicht gering.
Sie saß da und starrte den Klumpen an, den sie in der Hand hielt, als sie draußen auf dem Flur Juliets aufgeregte Stimme hörte. »Gemma, bist du bald so weit? Wir müssen uns beeilen!«
Sie zuckte zusammen, ließ die Drogen hastig in ihrer Tasche verschwinden und stopfte halblaut fluchend die Kleider in den Rucksack. »Ich komme!«, rief sie, während sie noch schnell ein paar Jeans und Pullis aus den Schubladen zog und sie ebenfalls im Rucksack verstaute, bis sie glaubte, genug für ein paar Tage zusammen zu haben.
Dann hielt sie inne, die Hand schon am Türknauf, und schöpfte Atem. Was sollte sie nun in dieser Sache unternehmen?
Wie konnte sie Juliet sagen, was sie gefunden hatte – und das ausgerechnet heute? Und wie konnte sie es ihr nicht sagen?
 
»Juliet …« Gemma hielt inne und konzentrierte sich darauf, die noch viel zu heiße Lauchcremesuppe umzurühren, die vor ihr auf dem kleinen Cafétisch stand. Sie vermutete, dass Juliet sich den ganzen Vormittag über nur mit Adrenalin und unzähligen Tassen Kaffee auf den Beinen gehalten hatte, und hatte deshalb darauf bestanden, dass sie erst einmal eine Kleinigkeit essen gingen, nachdem sie das Newcombe-Haus unbehelligt wieder verlassen hatten.
Juliet hatte, wenn auch widerstrebend, eingewilligt, und eine Viertelstunde später saßen sie schon im Inglenook, einem winzigen Teehaus in der Pillory Street, nicht weit vom Buchladen der Kincaids. Es war schon ein bisschen spät für ein warmes Mittagessen, doch der Wirt hatte ihnen die preisgekrönte Suppe seiner Frau empfohlen, und der Dampf, der aus Gemmas Schüssel aufstieg, duftete in der Tat himmlisch. Es war auch ganz gut, dass sie den Mittagsansturm vermieden hatten, dachte sie, denn jetzt war nur ein Tisch außer ihrem besetzt, was eine einigermaßen ungestörte Unterhaltung ermöglichte – wenn sie nur gewusst hätte, was sie sagen sollte.
Sie hatte nur einen Moment nachdenken müssen, um zu erkennen, dass sie nicht guten Gewissens ignorieren konnte, was sie in Lallys Zimmer gefunden hatte. Sie versetzte sich in Juliets Lage – was würde sie davon halten, wenn irgendjemand Beweise dafür entdeckt hätte, dass Kit Drogen nahm und weder ihr noch Duncan etwas sagte? Sie würde es wissen wollen, und sie würde es nicht so schnell verzeihen, wenn ihr irgendjemand diese Information vorenthielte.
Nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, war ihr erster Impuls gewesen, Duncan anzurufen und ihn die Sache in die Hand nehmen zu lassen. Aber sie hatte rasch erkannt, dass es nur ihre Feigheit war, die dahintersteckte. Gemma kostete vorsichtig ihre Suppe, die genauso gut schmeckte, wie sie roch, und setzte dann erneut an. »Mit Teenagern hat man’s nie leicht, nicht wahr? Auch nicht unter den besten Umständen.«
Juliet blickte von ihrer Suppe auf, eine dunkle Braue überrascht hochgezogen, und Gemma fiel auf, wie sehr sie Duncan glich – wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Zumeist glaubte sie, vor allem Rosemary in Juliets Zügen zu sehen, und gelegentlich erinnerte ein Lächeln oder die Art, wie Juliet den Kopf schief legte, sie an Hugh. »Das ist wohl wahr«, erwiderte Juliet gedehnt und drehte ihren Löffel zwischen den Fingern. »Lally war so ein liebes Kind, immer bemüht, es allen recht zu machen. Und heute – heute frage ich mich manchmal, was aus diesem kleinen Mädchen geworden ist, falls es überhaupt noch irgendwo existiert.«
Gemma hörte den Schmerz in Juliets Stimme und wusste, dass sie einen Nerv getroffen hatte. »Ich habe so meine Zweifel, ob Lally das selbst überhaupt weiß.« Sie aß noch ein paar Löffel von ihrer Suppe, um dann ein Stück von dem knusprigen dunklen Brot abzubrechen und den Deckel von einer Portionspackung Butter zu ziehen. »Ich weiß noch, als ich so alt war wie Lally, hat meine Mutter immer zu mir gesagt, ich müsse wohl von Außerirdischen entführt worden sein.« Juliet lächelte, und Gemma, die das als Ermutigung auffasste, fuhr fort: »War Lally auch schon so schwierig, bevor die Probleme mit Caspar anfingen?«
Juliet runzelte die Stirn und erwiderte: »Das kann ich gar nicht so richtig sagen. Das ganze letzte Jahr war wohl nicht leicht für sie, aber inzwischen frage ich mich, ob es vielleicht früher schon Signale gab, die ich einfach nicht wahrgenommen habe.«
Gemma musste daran denken, wie blind sie für die Probleme gewesen waren, die Kit offenbar in der Schule hatte, und schluckte ein wenig zu hastig. Sie hustete, bis ihr die Tränen kamen, winkte jedoch ab, als Juliet sich besorgt vorbeugte.
Dann dachte sie an Kits neue Freundschaft mit Lally, und eine plötzliche Furcht erfasste sie. Gewiss konnte sie sich darauf verlassen, dass er keine Drogen anrühren würde, ganz gleich, was er für Lally empfinden mochte – er war doch immer so ein vernünftiger Junge gewesen. Aber ein Splitter des Zweifels hatte sich in ihr Herz gebohrt wie eine eisige Nadel, und sie stellte fest, dass ihr der Appetit vergangen war.
»Nach Peters Tod ist es natürlich schlimmer geworden«, sagte Juliet, und Gemma blickte überrascht auf.
»Peter?«
»Ein Schulfreund von Lally. Peter Llewellyn. Er ist im Kanal ertrunken. Es war …« Juliet schob ihren Teller weg, als könne sie plötzlich auch keinen Bissen mehr hinunterbekommen, so gut das Essen auch sein mochte. »Es war Alkohol im Spiel. Es war ein solcher Schock – Peter war der letzte Junge auf der ganzen Schule, von dem irgendjemand geglaubt hätte … Und Lally, Lally schien es sehr schwer zu nehmen, aber sie wollte mit mir nicht darüber reden.«
Gemma erkannte ihre Chance. »Wurde sonst noch irgendetwas im Körper des Jungen nachgewiesen?«
»Sonst noch etwas? Was meinst du damit?« Juliet klang vollkommen verdutzt, und Gemma wusste, dass es kein leichtes Gespräch werden würde.
»Drogen. Hat man in Peters Blut Drogen gefunden?«
»Nein.« Juliet schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Diese Teenies, das sind doch noch die reinsten Kinder. Ich meine, mit Alkohol experimentieren, ist eine Sache, aber …«
»Jules.« Gemma ertappte sich dabei, wie sie Duncans Spitznamen für Juliet benutzte – eine vertraute Anrede, die für sie noch vor einer Stunde nicht in Frage gekommen wäre. »Ich muss dir etwas sagen.«
Juliet schaute sie an, ihre dunklen grauen Augen angstvoll geweitet, sagte jedoch nichts.
Gemma blickte sich im Lokal um und sah, dass der einzige andere Gast – eine Frau, die ganz hinten in der Ecke saß – ihr Handy aus der Tasche gezogen hatte und leise hineinsprach. Der Wirt war in der Küche verschwunden. Dennoch beugte sie sich weit vor und senkte die Stimme. »Es tut mir leid. Es gibt nun mal keine angenehme Art, es dir beizubringen. Als ich Lallys Sachen zusammengesucht habe, da habe ich etwas in ihrem Rucksack gefunden. Drogen.«
»Was?«, entgegnete Juliet tonlos. Und dann: »Nein, das ist unmöglich.« Doch ihrem Protest zum Trotz wurde ihr ovales Gesicht leichenblass. »Sagest du ›in ihrem Rucksack‹? Lally hat ihren Rucksack dabei.«
»Das hier war ein alter; er lag in ihrem Schrank. Es ist der, in den ich ihre Kleider gepackt habe.«
Juliet blies erleichtert die Backen auf und wagte ein Lächeln. »Den hat Lally schon seit letztem Jahr nicht mehr benutzt. Sie muss ihn irgendwem geliehen haben, der vergessen hat, die Sachen vorher rauszunehmen.«
Gemma legte die Finger sanft auf Juliets Handgelenk. »Juliet, es tut mir wirklich leid. Aber niemand lässt solche Sachen, wie ich sie gefunden habe, aus Versehen in einem geliehenen Rucksack liegen. Die Pillen vielleicht, aber nicht das andere Zeug. Es war auch Haschisch dabei. Und selbst wenn Lally die Sachen für jemand anderen aufbewahrt hat, hat sie sich da in eine äußerst gefährliche Sache hineinmanövriert. Das musste ich dir einfach sagen.«
»Haschisch?«, flüsterte Juliet. Alle Einwände schienen vergessen. »Und welche Pillen?«
Gemma seufzte. »Ich vermute, dass es sich bei der einen Sorte Tabletten um einen Tranquilizer wie Valium oder Xanax handeln könnte. Hat euer Arzt dir oder Caspar so etwas verschrieben?« Als Juliet den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Die anderen Tabletten sehen selbst gemacht aus – ich vermute, dass es sich dabei um Ecstasy handelt.«
»Aber das ist doch nicht so furchtbar schlimm?«, fragte Juliet mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme. »Ich meine, ich habe über Rave-Partys gelesen …«
Juliet verschränkte die Hände im Schoß und schlang sie umeinander, als ob die eine Trost bei der anderen suchte. Gemma sah, dass sie zitterten. »O Gott«, flüsterte sie. »Was soll ich nur machen …?«
Gemma brachte es noch nicht über sich, auch die Kondome zu erwähnen. Es wurde still an ihrem kleinen Tisch. Die Suppe in den Schüsseln war kalt geworden, die verstreuten Brotkrümel trockneten auf der bunten Tischdecke. Juliet hatte die Augen geschlossen und saß so regungslos da, dass man meinen konnte, sie sei eingeschlafen. Die Frau in der Ecke beendete ihr Gespräch und klappte das Handy zu. Als sie zur Kasse ging, spähte sie neugierig zu Gemma und Juliet herüber.
Der Wirt kam aus der Küche und scherzte munter mit der Frau, während er abkassierte. Offenbar war sie ein Stammgast.
Juliet schlug die Augen auf und fixierte Gemma mit einem lodernden Blick. In die Stimmen und das Gelächter an der Kasse hinein sagte sie leise: »Ich bringe sie um.« Hochrote Flecken erschienen auf ihren blassen Wangen.
»Nein.« Gemma hatte angestrengt nachgedacht, seit sie Lallys Drogenversteck entdeckt hatte. »Juliet, warte. Ich will dir ja nicht nahelegen, dass du die Sache einfach ignorieren sollst – weiß Gott nicht -, aber ich finde, du solltest ein paar Tage warten, ehe du sie darauf ansprichst.« Gemma hatte den Eindruck, dass die Nerven von Mutter und Tochter zum Zerreißen gespannt waren und eine Konfrontation zu diesem Zeitpunkt katastrophale Folgen haben könnte.
»Im Moment geht bei euch alles so drunter und drüber – ich fürchte einfach, ihr könntet beide Dinge sagen, die ihr hinterher bereut. Warte wenigstens, bis du dir einen Plan für dich und die Kinder zurechtgelegt hast und ihr gesagt hast, was du vorhast.« Sie blickte sich um und sah, dass der Wirt wieder in der Küche verschwunden war. Verstohlen zog sie die Päckchen aus ihrer Handtasche, schob sie über den Tisch und drückte sie Juliet in ihre ruhelosen Hände. »Geh die Sache an, wenn die Dinge sich etwas beruhigt haben.«
Juliet blickte Gemma an, ihre Schultern sackten herab. »Versprich mir, dass du nichts davon Duncan sagen wirst.«
»Sag schon, wie hat sie ausgesehen?« Lally hockte sich auf die Fersen und sah Kit über die offene Bücherkiste mit dem neuesten Harry-Potter-Band hinweg an. Sie hatten den größten Teil des Vormittags und die Stunde nach dem Mittagessen damit verbracht, in dem kleinen Hinterzimmer der Buchhandlung Bücher auszupacken und in die Regale zu stellen. »Hat sie viel geblutet?«
»Ach, hör doch auf«, sagte Kit. »Ich will nicht darüber reden.«
Lally senkte den Blick und strich mit der Fingerspitze über die leicht staubigen Rücken der Bücher, die sie noch nicht ausgepackt hatten. Er dachte, er hätte sie davon abgebracht, doch nach einer kurzen Pause fragte sie mit leiserer Stimme: »Hat sie so ausgesehen, als würde sie schlafen?«
Ihr veränderter Tonfall ließ Kit aufmerken. »Nein. Wieso?«
»Ich wollt’s nur wissen, das ist alles.« Sie zuckte demonstrativ mit den Achseln und streckte sich, wobei sie einen Streifen Bauch sehen ließ. »O Mann, ich brauch jetzt unbedingt’ne Kippe.«
»Red keinen Unsinn«, wies Kit sie verärgert zurecht, wenngleich er froh um den Themenwechsel war. »Du solltest gar nicht rauchen, und außerdem glaube ich nicht, dass wir einfach so weggehen dürfen.« Lally hatte nur gejammert, seit Rosemary ihren Wunsch nach Hamburgern ignoriert und ihnen stattdessen belegte Brote gebracht hatte, und von ihrer ewig gleichen Leier dröhnte Kit allmählich der Kopf.
»Wieso denn nicht?«, protestierte Lally. »Sie behandeln uns wie Gefangene.« Sie hievte noch ein halbes Dutzend Bücher aus der Kiste und stapelte sie achtlos nahe der Tischkante. »Wenigstens hätten wir Anspruch auf ein ordentliches Gerichtsverfahren.«
Rosemary und Hugh waren sehr taktvoll vorgegangen – sie hatten keinem der Kinder ausdrücklich verboten, den Laden zu verlassen, hatten aber Aufgaben für sie gefunden, die sie von der ersten Minute an in Atem gehalten hatten. Und obwohl nicht darüber gesprochen worden war, glaubte Kit den Grund zu kennen: Ihre Großeltern wollten verhindern, dass Lally oder Sam ihren Vater sahen. Kit wusste ebenso, dass Lallys Mutter ihr das Handy weggenommen hatte – auch darüber hatte Lally sich ausgiebigst beklagt -, und er nahm an, dass Rosemary und Hugh befürchteten, Caspar könne in die Buchhandlung kommen und verlangen, dass sie ihm die Kinder herausgaben, wie er es gestern im Pub getan hatte.
Rosemary war beim Geräusch der Türglocke jedes Mal ein wenig zusammengezuckt, und Hugh war mehrmals unter irgendeinem Vorwand aus seinem kleinen Büro im ersten Stock heruntergekommen, um nach ihnen zu sehen, wobei er einmal neben Kit stehen geblieben war und ihm linkisch die Schulter getätschelt hatte. Kit hatte auch Rosemary dabei ertappt, wie sie ihn beobachtete, und in ihren Augen eine Mischung aus Freundlichkeit und Beunruhigung gelesen, die ihm leises Unbehagen bereitete und ihm zugleich merkwürdig warm ums Herz werden ließ.
Im Gegensatz zu seiner Cousine hatte Kit kein Problem damit, im Laden zu bleiben. Er mochte den leicht modrigen Geruch, den die Regale mit den antiquarischen Büchern ausströmten; er mochte die schiefen Böden und die verwinkelten Wände des alten Hauses; er liebte es, die schweren Bücher in der Hand zu wiegen und ihre bunt schillernden Schutzumschläge zu betrachten, die ihn mit Abenteuern lockten und ihn in eine andere Welt zu entführen versprachen. Und er hatte auch nichts gegen ein bisschen Beschäftigung – das hielt die Bilder des Morgens, die ihn unentwegt bedrängten, in Schach.
»Pass auf die Bücher auf!«, rief er gellend, als der Stapel hinter Lally ins Wanken geriet.
»Die blöden Bücher interessieren mich einen Scheißdreck«, gab sie zurück, schob aber dennoch den Stapel von der Tischkante zurück und richtete ihn ein wenig aus. Durch die dunkle Haarlocke hindurch, die ihr ins Gesicht gefallen war, warf sie Kit einen verschlagenen Blick zu und flüsterte: »Wir könnten uns einfach zur Hintertür rausschleichen.«
»Nein.« Kit legte die Kiste, die er geleert hatte, mit etwas mehr Kraftaufwand zusammen, als dafür erforderlich gewesen wäre. »Und selbst wenn das ginge, wo willst du denn überhaupt Zigaretten herkriegen? Du darfst ja keine kaufen.«
Lally grinste. »Ach, es gibt immer eine Möglichkeit, an so was ranzukommen. Kennst du das Pub an der Ecke hinter dem Laden? Der Typ, der da hinter dem Tresen arbeitet, der kauft mir welche, wenn ich ihm das Geld gebe.«
»Aber das ist …« Das Läuten der Türglocke ließ sie beide zusammenfahren, doch dann sah Kit, wie Lally sich entspannte, als eine eindeutig weibliche Stimme Rosemarys Begrüßung erwiderte.
»Es ist Mrs. Armbruster«, flüsterte Lally. »Sie wird Oma mindestens eine Stunde lang die Ohren vollquatschen. Komm! Wenn wir gleich gehen, können wir zurück sein, ehe irgendwer was merkt.«
»Was ist mit Sam und Toby?«
»Opa ist mit ihnen nach oben gegangen, um Dame zu spielen. Die werden uns schon nicht suchen. Los, komm!« Sie stand auf und schlich zur Tür. Ihre Turnschuhe machten auf den Holzdielen kein Geräusch.
»Lally, nein, warte!« Kit richtete sich auf, doch seine Beine schienen sich irgendwie verknotet zu haben, und er strauchelte unbeholfen. »Wir sollten lieber nicht … Sie werden sich Sorgen machen …«
Sie blieb stehen, die Hand auf dem Knauf der Hintertür. »Dann geh ich eben allein. Du kannst ihnen ja irgendwas erzählen, wenn sie nach mir fragen.« In ihrem Blick lag Verachtung – und eine Herausforderung.
Kit errötete, beschämt, weil sie ihn wie ein Kind behandelte. Aber schlimmer noch war der Gedanke, Lally allein auf die Straße gehen zu lassen. Wenn ihr Vater sie nun zufällig sah und sie sich schnappte? Dann wäre er, Kit, dafür verantwortlich. Wenn Lally entschlossen war zu gehen, würde er wohl oder übel mitgehen müssen.
 
»Beeil dich«, zischte Kit ihr zu, als sie auf dem Gehsteig vor dem Pub standen. Es war nicht viel los um diese Tageszeit, und durch das Bleiglasfenster konnte er sehen, dass die Bar fast leer war. »Wie willst du das überhaupt anstellen? Du darfst da doch nicht rein.«
Sie hatten keine Jacken mitgenommen, und er zitterte jetzt schon. Der Himmel hatte sich verdunkelt und die mattgraue Farbe angelaufenen Silbers angenommen, und er glaubte, Schnee in der Luft riechen zu können.
»Das wirst du schon sehen.« Lally zog den Saum ihres Baumwoll-Sweatshirts herunter, reckte das Kinn in die Höhe und zog die Tür auf. Auf der Schwelle blieb sie stehen und rief: »Kann ich mal bei euch aufs Klo?«
Durch das Fenster sah Kit, wie der Barmann aufblickte. Sein rundliches Gesicht war mit Pickeln übersät, und Kit schätzte ihn kaum älter als achtzehn.
»Tut mir leid.« Der Barmann schüttelte den Kopf, während er den Tresen mit einem Lappen abwischte. »Du bist noch nicht volljährig. Benutz die öffentlichen Toiletten oder geh ins Crown. Die lassen dich rein.«
Lally trat mit gespielter Ungeduld von einem Fuß auf den anderen und jammerte: »Bitte! Ich muss ganz dringend. Ich glaub nicht, dass ich noch so weit gehen kann. Ich werd mich auch beeilen.«
»Na gut. Aber mach die verdammte Tür zu und trödel nicht.«
Lally warf Kit ein triumphierendes Lächeln zu und schlüpfte hinein. Er sah sie in einem Gang verschwinden, der zum hinteren Teil des Pubs führte. Nachdem der Barmann noch ein paar Sekunden den Lappen geschwungen hatte, holte er etwas unter dem Tresen hervor und schlenderte dann wie beiläufig den Flur hinunter, durch den Lally gegangen war.
Einen Augenblick später kam er zurück, und gleich hinter ihm tauchte Lally auf. Die Hände in die Taschen ihres Sweatshirts gestopft, durchquerte sie eilig die Bar. »Danke, ey«, warf sie dem Barmann lässig über die Schulter zu, während sie die Tür aufstieß.
»Das ist Sean«, erklärte sie, als sie zum Buchladen zurückgingen und Kit sie mit einer Hand an ihrem Ellbogen zur Eile drängte. »Wohnt nur ein paar Häuser weiter von uns. Der würde alles für mich tun.« Lally angelte eine Schachtel Benson & Hedges aus ihrer Sweatshirttasche und begann das Zellophan abzuziehen. Der Wind erfasste den federleichten Fetzen, als sie ihn achtlos wegwarf, und wirbelte ihn umher wie einen Lamettafaden, der kurz aufblitzte und verschwand.
Lally zog eine Zigarette aus der Schachtel und ein Plastikfeuerzeug aus der Tasche, während sie ihren Schritt verlangsamte und unter der Markise eines Ladens stehen blieb. »Warte mal einen Moment«, sagte sie. Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und hielt die hohle Hand über die Spitze, während sie das Feuerzeug anklickte.
»Lally, hör auf mit dem Scheiß! Du kannst dich doch nicht hier mitten auf die Straße stellen und rauchen. Was ist, wenn dich jemand sieht?« Kits Stimme bebte vor nervöser Ungeduld.
»Na und? Was soll ich denn sonst machen? Warten, bis wir wieder im Laden sind und mir im Hinterzimmer eine anstecken? Das war schließlich der Sinn der ganzen Übung, falls du es schon vergessen hast – dass ich eine rauchen wollte.« Sie inhalierte, beugte sich ein Stück weiter unter die schützende Markise und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, ehe sie sich abwandte.
Kit starrte ihr Profil an. Einen kurzen Moment lang hatte er das sonderbare Gefühl, sie so sehen zu können, wie sie in zehn Jahren aussehen würde oder in zwanzig, die zarten Konturen ihres Gesichts verhärmt und verhärtet durch die Zeit und die Erfahrung.
Zugleich mit dieser Vision überkam ihn ein Gefühl der Ohnmacht und eine tiefe Traurigkeit, aber er sagte nur: »Sie werden sich fragen, wo wir sind. Was sollen wir denn sagen, wenn sie uns schon gesucht haben?«
»Mir fällt schon was ein«, fuhr sie ihn an. »Mein Gott, Kit, nun sei doch nicht so ein Weichei. Du klingst schon wie mein Freund Peter. ›Du sollst nicht rauchen, Lally‹«, äffte sie ihn nach. »›Du sollst nicht trinken, Lally. Du sollst dies nicht, du sollst das nicht. Du könntest Ärger kriegen, Lally.‹« Sie ließ ihre halb aufgerauchte Zigarette fallen und zertrampelte sie grimmig mit dem Absatz. »Das war alles nur dummes Geschwätz. Am Ende war er auch nicht anders – nein, er war schlimmer.« Sie funkelte Kit an, wie um ihn zum Widerspruch herauszufordern. Mühsam zurückgehaltene Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie sich unwillig abwandte und Richtung Buchladen weiterging.
Eine kalte Nadel traf Kit an der Wange, dann noch eine. Eisregen fiel vom Himmel. Er rannte ihr nach und mühte sich, seine Stimme wiederzufinden. »Warum? Warum war er schlimmer?«
Der auffrischende Wind trug ihm ihre Worte zu, und er glaubte, ihre Wut in dem kalten Luftstoß zu spüren. »Darum. Weil er ein beschissener Heuchler war, deswegen.«