19
»Er lügt, wenn du mich fragst.« Babcock blickte sich noch ein letztes Mal nach dem Haus um, ehe er den BMW auf die Hauptstraße lenkte.
»Wegen gestern Abend?« Kincaid ließ seinen Sicherheitsgurt einrasten und drehte am Lüftungsregler, bis ihm die kalte Luft nicht mehr ins Gesicht blies. »Ja, ich denke schon«, pflichtete er Babcock bei. »Und vielleicht auch in anderen Punkten – aber irgendetwas an der letzten Frage hat ihn echt ins Schwitzen gebracht.«
Er versuchte immer noch, seine Eindrücke von Roger Constantine zu sortieren, und musste feststellen, dass er Gemmas Kommentare vermisste. Sie waren es gewohnt, ihre Ideen auszutauschen und kritisch unter die Lupe zu nehmen, und dabei war nichts zu weit hergeholt, um es aufs Tapet bringen zu können. Ronnie Babcock hatte sich allerdings als guter Zuhörer erwiesen. »Constantine scheint mir jedoch ein kluger Mann zu sein«, dachte er laut nach. »Man sollte meinen, dass er sich ein wasserdichtes Alibi zurechtlegen würde, wenn er vorhätte, seine Frau zu ermorden.«
Als sie die ländliche Idylle von Tilston hinter sich gelassen hatten und das Gebläse endlich angenehm warme Luft von sich zu geben begann, sagte Babcock: »Aber was ist, wenn die Tat nicht geplant war? Wenn Annie ihn nicht nur angerufen hat, um sich mit ihm zum Essen zu verabreden? Was diesen Punkt betrifft, haben wir nur seine Aussage. Vielleicht hat sie ja am Telefon eine Bombe platzen lassen? Vielleicht hat sie ihm gesagt, sie wolle sich mit ihm treffen, um über die Scheidung zu diskutieren? Dann wäre für den armen Roger Schluss gewesen mit dem angenehmen Leben in der viktorianischen Villa.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Er hätte ja nicht nur das Haus verloren. Ich glaube kaum, dass er mit seinem Journalistengehalt einen vergleichbaren Lebensstandard hätte aufrechterhalten können. Und jetzt kriegt er alles, plus die Lebensversicherung, ohne jegliche Verpflichtungen. Ich würde sagen, er hatte eine ganze Menge zu verlieren.«
Kincaid dachte darüber nach und runzelte die Stirn. »Wenn es nun aber genau andersherum war – sie ruft ihn an und sagt, dass sie wieder zu Hause einziehen will? In den fünf Jahren, seit sie weg ist, hat er sich vielleicht allzu sehr mit dem Status quo angefreundet. Vielleicht wollte er nicht, dass sie zurückkommt. So oder so …«
»So oder so hatte er ein Motiv, aber die Logistik ist ein Problem. Angenommen, er wurde von ihrem Anruf überrascht und wollte mit ihr persönlich sprechen, aus welchem Grund auch immer. Ich bin mir nicht sicher, ob er in dem Nebel gestern Abend von Tilston nach Barbridge hätte fahren können, geschweige denn den Weg zu ihrem Boot finden – zumal, wenn er nicht genau wusste, wo sie angelegt hatte.«
Sie waren gerade um eine schwer einsehbare, nahezu rechtwinklige Kurve auf eine kleine Landstraße abgebogen, die kaum breiter war als das Auto. Kincaid schauderte bei dem Gedanken, diese Strecke nachts und bei widrigen Bedingungen fahren zu müssen. Es war möglich, aber war es auch wahrscheinlich? »War der Nebel weiter westlich auch so dicht?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht, aber das werden wir herausfinden.« Babcock zog sein Handy aus der Tasche und drückte die Schnellwahltaste. »Sheila? Sind Sie noch auf dem Boot? Okay, hören Sie zu. Sie müssen ein paar Sachen für mich recherchieren. Ich muss wissen, ob der Nebel sich gestern Abend bis nach Tilston erstreckt hat. Was?« Er sah Kincaid an und grinste. »Ich weiß, dass Sie nicht der Wetterdienst sind«, fuhr er fort. »Aber es sollte dort sowieso mal jemand, der aus der Ecke stammt, von Haus zu Haus gehen und mit den Nachbarn ein bisschen über Roger Constantine plaudern. Wir müssen wissen, was man sich über ihn und seine Frau so erzählt, und natürlich auch, ob er gestern Abend von irgendwem gesehen wurde. Und wenn Sie sowieso schon jemanden aus Tilston an der Strippe haben, kann der Ihnen sicher auch sagen, ob sie da gestern so richtig dicken Nebel hatten.
Ach ja, und wenn Sie das erledigt haben, nehmen Sie sich sämtliche Finanztransaktionen vor, die das Boot betreffen – oder besser gleich alle Papiere, die Sie finden können. Und was ist eigentlich mit den Zeugenbefragungen in Barbridge?«
Ein empörtes Quäken tönte blechern aus dem Lautsprecher des Telefons, und Babcock verdrehte die Augen. »Natürlich schaffen Sie das alles«, sagte er beschwichtigend. »Ich habe großes Vertrauen in Sie. Ich rufe Sie an, wenn wir wieder auf dem Revier sind. Also, bis dann.
Klagen über Klagen«, sagte er zu Kincaid, während er das Handy zuklappte. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir früher so viel gejammert hätten. Was ist bloß aus der Arbeitsmoral der Truppe geworden?« Er bremste ab, und Kincaid sah, dass sie wieder an der Abzweigung nach No Man’s Heath waren, dem Dorf mit dem berühmten Pub. »Na«, meinte Babcock, der schon ganz glänzende Augen bekam, »wie wär’s jetzt mit einem kleinen Imbiss?«
 
Sheila Larkin fluchte halblaut vor sich hin. Was glaubte dieser blöde DCI denn, wer sie war? So eine Art Wonder Woman vielleicht? Sie war es ja gewohnt, dass er von ihr erwartete, an mindestens zwei Orten gleichzeitig zu sein, aber jetzt hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, sie in Gegenwart seines alten Kumpels herumzukommandieren, und das stank ihr gewaltig.
Sie hatte sich gerade in der Kombüse des Boots umgesehen, als das Telefon klingelte, und während ihr Magen lautstark protestierte, beäugte sie sehnsüchtig eine ungeöffnete Packung Ingwerkekse im Schrank. Doch die Versuchung währte nur einen Augenblick, und sie schloss rasch die Schranktür. Es schien ihr nicht richtig, sich an den Vorräten einer toten Frau zu vergreifen, auch wenn am Ende sowieso alles auf dem Müll landen würde.
Sie zog ihr Notizbuch und einen Stift aus der Jackentasche und schrieb sich Babcocks Liste von Aufträgen auf. Punkt eins war, auf dem Revier anzurufen und die Ermittlungen in Tilston in Gang zu bringen.
Nachdem die Leitstelle sie verbunden hatte, bat sie den diensthabenden Sergeant, einen Beamten zu schicken, der das Dorf kannte – das würde ihre Chancen erhöhen, nützliche Informationen zu bekommen. Sie fragte auch wegen des Nebels nach, und der Sergeant sagte ihr, dass er am gestrigen Abend in ganz West-Cheshire und bis nach Wales hinein sehr dicht gewesen sei. Damit wäre ein Punkt auf der Liste schon abgehakt, dachte sie und legte befriedigt auf.
Dann wandte sie sich wieder der Aufgabe zu, das Boot nach allem Möglichen zu durchsuchen, was irgendwie Licht auf die Ermordete oder die Umstände ihres Todes werfen könnte. Sie hatte im Salon angefangen, den sie in wenigen Minuten gründlich durchsucht hatte – Annie Lebow hatte offenbar großen Wert darauf gelegt, nicht zu viel Krempel anzuhäufen.
Sheila dachte an die Doppelhaushälfte am Stadtrand, die sie sich mit ihrer Mutter teilte, und seufzte. Wenn ihr oder ihrer Mutter zu Hause irgendetwas zustieße, würde die Polizei eine Woche brauchen, bis sie sich ins Wohnzimmer vorgearbeitet hatte. Dabei war es gar nicht so, als ob sie oder ihre Mutter dazu neigten, überflüssigen Kram anzuhäufen – das Zeug vermehrte sich so schnell, dass sie mit dem Aufräumen nicht nachkamen, und sie hatten beide nie genug Zeit.
Sie kamen ganz gut miteinander klar, sie und ihre Mutter. Diane war erst siebzehn gewesen, als sie Sheila bekommen hatte, und Sheilas Vater hatte sich vor seiner Verantwortung gedrückt und war bald auf Nimmerwiedersehen verschwunden. So kam es, dass sie sich zu zweit durchs Leben geschlagen hatten, seit Sheila sich erinnern konnte.
Sie war vorläufig sehr zufrieden damit, in einer WG mit ihrer Mutter zu wohnen. Sie zahlte ihren Anteil an allen Kosten – Hypothekenzinsen, Nebenkosten und Lebensmittel. Dabei kamen sie beide selten genug dazu, zu Hause zu essen, schon gar nicht zusammen. Ihre Mutter arbeitete in Nachtschicht als Krankenschwester in der Notaufnahme des Leighton Hospital, und so kommunizierten sie oft tagelang nur über Zettel, die sie an die Kühlschranktür klebten.
Trotzdem – auch wenn das Haus leer war, hatte Sheila immer noch das Gefühl, nicht ganz allein zu sein, und das fand sie beruhigend, besonders nach einem schwierigen Fall.
Als sie nun ins Schlafzimmer ging – oder in die Schlafkabine, wie man hier wohl sagen musste -, schien es ihr, als könne sie die Einsamkeit spüren, die sich wie ein Schatten auf sie legte. Aller Neid, den sie angesichts der noblen Wohnverhältnisse der toten Frau empfunden hatte, war verflogen. Annie Lebow hatte sich in einen Kokon eingesponnen – geschmackvoll, luxuriös und emotional isoliert.
Sheila stellte jedoch bald fest, dass Lebows spartanisch-exklusiver Lebensstil von Vorteil war. Ein Teil der Wandverkleidung in der Schlafkabine ließ sich als Schreibtisch herausklappen, und der Raum dahinter war fein säuberlich in Nischen und Schubfächer aufgeteilt. Dort fand sie rasch alle Papiere, die Annie Lebow für aufhebenswert befunden hatte.
Eine ledergebundene Fächermappe enthielt sorgfältig geordnete Kreditkarten- und Handyrechnungen sowie die vierteljährlichen Auszüge diverser Investmentfonds. In einem anderen Fach fand sie ein persönliches Adressbuch, ebenfalls in Leder gebunden.
Unter dem vorderen Deckel des Büchleins steckten ein halbes Dutzend lose Fotos. Alle zeigten das Boot, und nach der Vegetation im Hintergrund zu schließen, waren sie alle im Frühling oder Sommer entstanden. Doch nur eines davon zeigte das Opfer.
Annie Lebow stand am Ruder; ihre rechte Hand ruhte leicht auf dem Ende der S-förmigen Ruderpinne. Ihre nackten Arme und Beine sahen braun gebrannt aus, ihre Züge entspannt, mit dem Anflug eines Lächelns in den Mundwinkeln. Es schien Sheila, als habe Annie die Person, die das Foto gemacht hatte, mit einer Art nachsichtiger Sympathie betrachtet.
Das Foto war nicht datiert, doch Sheila schätzte, dass es einige Jahre alt war; vielleicht aufgenommen, als Lebow das Boot gerade gekauft hatte. Ihr Haar war damals länger und dunkler gewesen, ihre Gesichtszüge weicher, weniger markant, und je länger Sheila das Foto betrachtete, desto mehr glaubte sie eine Art zaghaften Stolz in der Art zu erkennen, wie die Frau das Ruder hielt.
Sheila warf einen letzten Blick auf das Foto, verzog das Gesicht und klappte das Adressbuch zu. Sie hatte Annie Lebows Leiche gesehen, hatte das Entsetzen und die Wut empfunden, die sie am Tatort eines Mordes stets überkamen. Sie hatte die Kleider und die intimsten Gegenstände der Frau durchwühlt, und immer noch war es ihr gelungen, eine gewisse Distanz zu dem Opfer zu wahren. Man konnte lernen, diese Dinge zu trennen, und sie gab sich alle Mühe, es weiterhin zu tun – in ihrem Job war das eine schiere Notwendigkeit.
Aber als sie auf dem Foto in Annie Lebows Augen geblickt hatte, da hatte sie eine Verbindung zu ihr gespürt. Aus dem zusammengesunkenen Körper am Wegrand war eine Frau geworden, die gelebt und gearbeitet, geschlafen und geträumt hatte, die diese engen Kabinen bewohnt hatte, so wenige Spuren sie auch darin hinterlassen haben mochte. In diesem Augenblick der Nähe, über Zeit und Raum hinweg, war Annie Lebow für Sheila wirklich geworden, ihr Tod hatte eine persönliche Bedeutung für sie gewonnen.
 
Sie trug Stiefel, Hosen und eine dicke Wolljacke, doch selbst auf die Entfernung und ohne die Uniform konnte er erkennen, dass sie Polizistin war. Es war irgendetwas an der Art, wie sie sich bewegte – selbstsicher und zugleich stets wachsam -, das sie so eindeutig identifizierte wie ein Brandzeichen.
Während er auf dem Boot umherging, von einer kleinen Arbeit zur nächsten, beobachtete er sie heimlich. Sie war aus der Richtung des Tatorts den Leinpfad heruntergekommen, und nachdem sie einem der uniformierten Beamten, die auf dem Parkplatz Wache standen, ein Päckchen übergeben hatte, klingelte sie an den Türen der Häuser, die den Kanal unterhalb von Barbridge säumten.
Als die Frau mit den krausen Haaren und dem rosa Bademantel herauskam und mit ihr redete, stieg erstmals Panik in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zu. Es kostete ihn eine ungeheure Willensanstrengung, sich einfach nur ruhig zu verhalten, sich auf das zu konzentrieren, was die Ärztin ihm gesagt hatte. Einfach davonzulaufen war keine Lösung. Er konnte seine Familie und sein Boot nicht tarnen oder verstecken, und auf dem Cut kannte jeder jeden. Schon einmal hatte die Angst ihn dazu getrieben, die Daphne in die Industrieslums von Manchester zu steuern, aber die Zeiten hatten sich geändert. Auch die innerstädtischen Abschnitte des Kanals wandelten sich, nachdem immer mehr Lagerhäuser zu »Luxusresidenzen mit Wasserblick« umfunktioniert wurden. Und damals war auch niemand hinter ihm her gewesen.
Die Frau in dem rosa Bademantel gestikulierte, und selbst auf die Entfernung konnte er ihre laute Stimme hören. Die Worte musste er nicht verstehen. Er beugte sich über den Halteriemen, den er reparierte, hielt den Blick gesenkt und pfiff leise durch die Zähne. Der weiche Rasen des Uferpfads dämpfte alle Schritte, doch er musste sie nicht hören, um zu wissen, welchen Weg die Polizistin eingeschlagen hatte. Als kurz darauf eine Stimme »Mr. Wain?« rief, blickte er mit gespielter Überraschung auf.
Sie stand am Ufer, auf Höhe des Bugs. Aus der Nähe konnte er sehen, dass sie recht attraktiv war, mit einem hübschen, etwas stupsnasigen Gesicht und auch ein wenig älter, als ihr federnder Schritt ihn hatte vermuten lassen. Ihre Augen blitzten intelligent, und sein Mut sank.
Er nickte, ohne den Halteriemen loszulassen, als sei er ungehalten über die Störung. »Jawohl. Und was geht Sie das an, Miss?«
»Detective Constable Larkin, Cheshire Police.« Sie hielt ihren Ausweis hoch, obwohl sie wissen musste, dass er ihn auf die Entfernung nicht lesen konnte. »Könnte ich Sie kurz sprechen?«
»Wüsste nicht, was Sie daran hindern könnte«, erwiderte er und begann die Riemen aufzurollen.
Sie verlagerte ihr Gewicht ganz leicht auf die Fußballen und straffte die Schultern. »Sie haben sicher gehört, dass gestern Abend hier ganz in der Nähe eine Frau ums Leben gekommen ist, gleich unterhalb von Barbridge.« Sie deutete mit dem Kopf zur Brücke. »Ihr Name war Annie Lebow.«
»So?«, erwiderte er, während er sich aufrichtete und sich die Hände an der Hose abwischte. Jetzt war sie ihm gegenüber im Nachteil – sie musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzublicken.
»Haben Sie sie gekannt?«
Er zuckte mit den Achseln. »Auf dem Cut trifft man alle möglichen Leute.«
Larkin zog ein Foto aus der Jackentasche und hielt es ihm hin. Gabriel blieb nichts anders übrig, als sich über das Dollbord zu beugen und es zu nehmen. Er studierte das Bild einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen und gab es der Frau zurück. »Die Horizon. Sie hätten mir den Namen des Boots sagen sollen. Die sind es, an die ich mich erinnere, viel mehr als Namen oder Gesichter.«
»Das heißt, Sie haben Ms. Lebow gekannt?«, fragte die Kriminalbeamtin.
»Flüchtig.« Er spürte, wie er unter dem dicken Wollpullover schwitzte, als wäre die Sonne plötzlich herausgekommen, und er hoffte, sie würde den Schweißfilm auf seiner Stirn nicht sehen. Einen Moment lang war er versucht, ihr die ganze Wahrheit zu sagen, einfach nur, um es hinter sich zu bringen, um diesen Druck los zu sein, der ihm das Herz zusammenschnürte, aber er wusste, dass er das nicht machen konnte. Nicht, wenn es um die Sicherheit Rowans und der Kinder ging.
Larkin deutete auf die Häuser unterhalb von Barbridge. Die Frau in dem rosa Bademantel stand noch immer da und sah zu ihnen herüber. Die alte Schachtel würde sich noch Frostbeulen holen, nur um ihre Neugier zu befriedigen. »Mrs. Millsap sagt, Sie hätten einen Streit mit der Verstorbenen gehabt. An Heiligabend.«
Gabriel überlegte blitzschnell. Mrs. Millsap mochte laute Stimmen gehört haben, aber sie konnte unmöglich verstanden haben, was gesagt worden war, nicht auf diese Entfernung. »Dieses blöde Weib hat mein Boot gerammt«, gab er zu und versuchte dabei möglichst entrüstet zu klingen. »Ist mir einfach rückwärts reingefahren, die dumme Kuh.« Er beugte sich über das Dollbord und deutete auf eine lange Schramme dicht über der Wasserlinie der Daphne. Den Schaden hatte er selbst verursacht, als er vor einer Woche an der Schleuse von Huddleston gegen die Mauer gefahren war, und er hatte einfach nicht die Energie aufgebracht, ihn zu reparieren.
»Ich weiß, über Tote soll man nicht schlecht reden«, fügte er hinzu, »aber ich war einfach stinksauer.«
»Haben Sie ihr gedroht?«
»Gedroht? Ich hab ihr gesagt, sie soll gefälligst aufpassen, wohin sie fährt. Wenn Sie das eine Drohung nennen …«
Die Polizistin begutachtete die Schramme und schüttelte den Kopf, als ob sie ihn bedauerte. »Und was ist dann passiert?«
»Sie hat gesagt, es täte ihr leid, sie sei einen Moment abgelenkt gewesen. Und sie hat mir angeboten, für die Reparatur aufzukommen, das muss ich ihr immerhin lassen. Aber ich hab gesagt, das ist nicht nötig, ich würde das schon selbst in Ordnung bringen.« Er blickte zu der bleifarbenen Wolkendecke auf. »Da muss ich allerdings warten, bis es ein bisschen trockener ist.«
»Sie haben also Ihre Animositäten beigelegt?«, fragte sie. »Sie sind im Frieden auseinandergegangen, meine ich«, fügte sie hinzu.
Er sollte es ja inzwischen gewohnt sein – die Leute nahmen immer an, dass alle Schiffer grundsätzlich dumm waren oder zumindest Analphabeten. Es mochte ja sein, dass in der Vergangenheit die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben konnten, aber dumm waren sie nie gewesen, und Gabriels Eltern hatten wenigstens dafür gesorgt, dass er ordentlich lesen gelernt hatte. Sie hatten gewusst, dass die Zeiten sich änderten, dass Fleiß und Erfahrung auch für einen Kanalschiffer irgendwann nicht mehr ausreichen würden.
Er unterdrückte die aufwallende Wut und antwortete: »Jedenfalls nicht in Feindschaft. Hören Sie, es war nichts als ein stinknormaler Streit; so was kommt immer wieder mal vor, wenn ein anderes Boot sich an der Schleuse vordrängelt oder vergisst, das Tor zu schließen. Was hat das mit dem Tod dieser Frau zu tun?«
»Annie Lebow wurde das Opfer einer Gewalttat, Mr. Wain. Wir müssen alle Personen befragen, die möglicherweise einen Groll gegen sie gehegt haben.«
»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich eine Frau, die ich kaum gekannt habe, wegen eines kleinen Lackkratzers umbringen würde?«, erwiderte er, nun tatsächlich von gerechtem Zorn beseelt, den er nur mit Mühe im Zaum halten konnte. »Das ist doch totaler Quatsch.«
»Wir müssen diese Fragen aber stellen. Das werden Sie verstehen. Wir müssen Sie auch fragen, wo Sie gestern Abend waren.«
»Ich war hier, bei meiner Frau und meinen Kindern. Aber ich lasse nicht zu, dass meine Familie da reingezogen wird. Die haben damit überhaupt nichts …«
»Im Augenblick muss ich von Ihnen nur wissen, dass Sie für weitere Fragen zur Verfügung stehen. Sie hatten doch nicht vor, Barbridge zu verlassen?«
Gabriel sah, wie die Ermittlerin verstohlen auf ihre Uhr schielte, und er wusste, dass sie mit ihm fertig war und wahrscheinlich schon überlegte, wie sie es schaffen sollte, bis Dienstschluss noch alles zu erledigen, was ihr Chef ihr aufgebrummt hatte.
Das Gefühl der Erleichterung, das ihn durchflutete, war so intensiv, dass seine Hände zitterten. Sie würde sicher überall an diesem Abschnitt des Kanals herumfragen, um sich seine Geschichte bestätigen zu lassen, aber keines der Boote, die in der Nähe lagen, war bewohnt, und er bezweifelte, dass außer dieser Millsap irgendjemand etwas von Annies Besuch auf seinem Boot an Heiligabend mitbekommen hatte.
Er stopfte die verräterisch zitternden Hände in die Hosentaschen und nickte knapp. »Im Moment haben wir nicht vor, die Leinen loszumachen«, sagte er. Während er ihr nachsah, wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich keinerlei Pläne hatte. Für ihn war hier in Barbridge die Zeit stehen geblieben, und seine Zukunft hatte aufgehört zu existieren.
 
Kit hatte Mühe, mit Lally Schritt zu halten, als sie zum Laden zurückgingen. Er versuchte immer noch zu verstehen, warum sie sauer auf ihn war und was das alles mit ihrem Freund Peter zu tun hatte, doch von ihrem straff gespannten Rücken, so schön er auch anzusehen war, konnte er keine Antworten erwarten.
»Lally!«, rief er, als sie sich schon der Hintertür des Ladens näherten. »Warte doch! Willst du nicht mit mir reden?«
Sie wurde langsamer, drehte sich aber nicht um. »Es gibt nichts, worüber …«
Aus dem Augenwinkel heraus nahm Kit eine undeutliche Bewegung wahr, und im nächsten Moment stand Leo vor ihnen, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. »Was ist denn los, Lal? Streit mit deinem kleinen Cousin gehabt?«
Lally quiekte überrascht auf, dann fuhr sie herum und stemmte die Hände in die Hüften. »Verdammt noch mal, Leo! Willst du, dass ich mir in die Hose mache? Und außerdem haben wir nicht gestritten, aber selbst wenn es so wäre, geht dich das einen Dreck an.«
Leo ging nicht auf die Provokation ein. Stattdessen fragte er: »Wo bist du gewesen?«, und zu Kits Überraschung klang er eher besorgt als streitlustig. »Ich versuche seit gestern, dich anzurufen, und immer springt sofort die Mailbox an!«
»Du hast doch nicht … irgendwas Persönliches auf die Mailbox gesprochen?« Lallys Stimme war plötzlich ganz heiser vor Panik. Sie zog die beiden Jungen in den Hauseingang neben dem Buchladen, und Kit begriff, dass Leo ihnen dort aufgelauert haben musste. »Meine Mutter hat mir gestern das Telefon weggenommen. Sie will nicht, dass ich mit meinem Vater rede. Deswegen hab ich nicht zurückgerufen.«
»Hättest du dir nicht von irgendwem ein Handy leihen können? Zum Beispiel von deinem kleinen Cousin hier?«
Kit fragte sich, ob Leo erraten hatte, dass er gar kein Handy besaß, und ihn absichtlich zu demütigen versuchte. »Ich hab meins zu Hause liegen lassen«, sagte er so lässig, wie er nur konnte.
»Lügner.« Leo verdrehte die Augen. »Niemand lässt sein Handy daheim liegen, nicht mal der allergrößte Waschlappen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lally zu. »Ich bin gestern in die Stadt getrampt und hab vor dem Bowling Green gewartet. Sag mir nicht, du hättest nicht mal für ein Stündchen weggekonnt.«
»Sie lässt uns nicht nach Hause gehen, meine Mutter. Wir schlafen bei meinen Großeltern.«
»Na prima, umso besser.« Leo klang, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. »Dann sind wir ja praktisch Nachbarn. Schleich dich heute Abend einfach raus, wenn alle im Bett sind. Wir könnten uns am alten Viehstall treffen, wo deine Mutter die Mumie gefunden hat. Da kann man sich in Ruhe einen hinter die Binde gießen, und ich hab auch einen spitzenmäßigen St…«
»Du verstehst nicht«, entgegnete Lally heftig. »Nach dem, was heute Morgen passiert ist, lassen meine Mutter und meine Großeltern uns nicht mehr aus den Augen.«
Leo starrte sie an. »Was? Wovon redest du eigentlich? Was ist heute Morgen passiert?«
»Das weißt du nicht?« Ihre Befriedigung war nicht zu überhören. »Kit hat eine Leiche gefunden. Am Kanal, kurz vor Barbridge.« Lally warf Kit einen Blick zu, dessen vereinnahmender Stolz ihm ganz und gar nicht schmeichelte. »Es war die Frau, die wir gestern auf ihrem Boot gesehen haben. Jemand hat sie umgebracht.«
»Ist nicht wahr.« Leo blickte von Lally zu Kit, die Augen ungläubig aufgerissen.
»Ist wohl wahr«, gab Lally mit selbstzufriedenem Grinsen zurück. »Sie war …«
»Lally, wir müssen gehen«, mischte sich Kit ein. Er war sich nicht sicher, wie viel Lally tatsächlich von den Gesprächen der Erwachsenen am Morgen mitbekommen hatte, aber er hätte es nicht ausgehalten, wenn sie Leo eine detaillierte Schilderung von Annies Verletzungen geliefert hätte. »Wir sollten schon längst zurück sein«, drängte er und packte sie am Arm, um sie zur Tür zu zerren. Aber dann sah er Leos Gesichtsausdruck, und seine Finger lösten sich, plötzlich kraftlos und schlaff.
Lally wandte sich ungehalten von den beiden Jungen ab. »Ja, ja, ist ja schon gut. Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.«
Als sie sich zur Tür des Buchladens umdrehte, rief Leo: »Versprich wenigstens, dass du’s heute Abend versuchen wirst. Ruf mich nur vorher kurz an, damit wir eine Zeit ausmachen können. Du kannst doch bei deinen Großeltern telefonieren, ohne dass jemand mithört – unser kleiner Freund hier soll die anderen so lange ablenken«, redete er auf sie ein. »Du könntest ja auch mitkommen«, fügte er an Kit gewandt hinzu. Die Feindseligkeit, die er ihm noch vor einer Minute entgegengebracht hatte, schien vergessen. »Dann zeigen wir dir mal, wie man richtig einen draufmacht, was, Lal?«
»Halt’s Maul, Leo.« Sie war wieder wütend, und Kit war genauso ratlos wie zuvor. Aber immerhin war er froh, als sie die Tür des Buchladens aufzog und ihn hineinschob, um sie dann fest hinter sich zu verschließen.
Das Lager war leer. Kit lehnte sich an die Zwischentür und lauschte mit pochendem Herzen. Doch aus dem Laden drang ein stetiges Gemurmel, und eine der Stimmen gehörte eindeutig Mrs. Armbruster. Sie hatten es geschafft – niemand hatte ihre Abwesenheit bemerkt.
Die plötzliche Erleichterung machte ihm Mut. Er drehte sich zu Lally um, die sich lässig auf eine Bücherkiste gehockt hatte und ihre Fingernägel inspizierte. Als sie mit einem kleinen herausfordernden Lächeln zu ihm aufblickte und »Siehst du?« sagte, platzte er ohne zu überlegen heraus: »Ist Leo dein Freund?«
»Nein!«, entgegnete sie heftig, offenbar überrumpelt von seiner Frage.
»Und wieso tust du dann alles, was er sagt?«
»Tu ich ja gar nicht!« Sie musste die Skepsis in Kits Blick bemerkt haben, denn sie fuhr fort: »Es ist nicht so, wie du meinst. Das verstehst du nicht. Es ist bloß, weil Leo … er weiß nun mal … alles Mögliche.«
»Was weiß er?«
Lally sah Kit an, und für einen kurzen Moment blickte er in die Augen eines verängstigten Kindes. Dann verschloss sich ihre Miene wieder – so, als sei ein Eisengitter zwischen ihnen heruntergerasselt; und während sie sich von ihm abwandte, sagte sie: »Nichts. Gar nichts.«