20
»Bist du sicher, dass du mich jetzt nicht mehr
brauchst?«, fragte Gemma Juliet, als sie vor dem kleinen Laden mit
Büro stehen blieben, den Juliet in der Castle Street angemietet
hatte, einer versteckten Nebenstraße hinter dem Marktplatz.
Vom Teehaus waren sie die Pillory Street
hinuntergegangen. Als sie am Buchladen vorbeikamen und Gemma
Juliets Zögern bemerkte, drängte Gemma sie zum Weitergehen und
sagte: »Ich bin sicher, dass es den Kindern gut geht. Es ist
vielleicht besser, wenn du eine Weile wartest, ehe du Lally siehst,
findest du nicht?«
»Du hast wohl recht«, meinte Juliet seufzend.
»Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass es mir in ein paar
Stunden leichter fallen wird, mit ihr zu reden und so zu tun, als
wäre nichts passiert. Mein Gott, sie muss mich ja wirklich für eine
Idiotin halten«, fügte sie hinzu, als die Wut sie erneut
übermannte.
»Ich habe auch nicht mehr Erfahrung als du, aber
ich fürchte, dass die meisten Vierzehnjährigen ihre Eltern für
Idioten halten – und das auch nur, wenn sie gerade gnädig gestimmt
sind.« Gemma drückte Juliets Arm und erntete ein kleines Lächeln
für ihre Bemerkung.
Dann hatte Juliet gesagt, wenn sie schon nichts für
die Kinder tun könne, müsse sie wenigstens ihre Mitarbeiter
informieren und versuchen, die Bonners zu erreichen – die Kunden,
die ihr den Auftrag zur Renovierung des Viehstalls erteilt
hatten.
Gemma befürchtete, dass Caspar zuallererst in
Juliets Büro nach ihr suchen würde, wenn er wieder in Zorn geriet,
weshalb ihr bei dem Gedanken, sie dort allein zurückzulassen, alles
andere als wohl war. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Juliet sie
und deutete auf einen verbeulten Lieferwagen, der vor dem Büro auf
dem Gehsteig parkte. »Mein Polier ist da, und Caspar wird sich
hüten, sich in seiner Gegenwart danebenzubenehmen – Jims Hobby ist
nämlich zufällig Kickboxen. Wenn ich im Büro fertig bin, bitte ich
Jim, mich zum Buchladen zu begleiten. Und dann können Mutter oder
Vater mich nach Hause fahren.«
Gemma zögerte. Sie wollte ihre Grenzen nicht
überschreiten, aber wenn sie daran dachte, was sie Juliet heute
schon alles hatte beibringen müssen, fand sie, dass sie nicht auf
halbem Weg stehen bleiben konnte. »Juliet, du weißt, dass Duncan
und ich dir jederzeit den Rücken stärken können, wenn du dich
entschließen solltest, mit Caspar zu reden. Du musst das nicht
allein durchstehen.«
Juliet hatte den Türgriff schon in der Hand; jetzt
drehte sie sich noch einmal um. »Ich … ich bin mir nicht sicher, ob
ich schon so weit bin. Aber danke jedenfalls.«
Gemma blieb stehen, bis Juliet im Laden
verschwunden war. Ihr Unbehagen hatte sich noch nicht gelegt. Aber
sie konnte sich schlecht als Leibwächterin aufspielen, wenn Juliet
das gar nicht wollte, und im Übrigen war Caspar Juliet gegenüber
nie wirklich handgreiflich geworden oder hatte ihr auch nur damit
gedroht. Vielleicht war es nur der Schatten des Mordes an Annie
Lebow, der über allem lag und sie so unruhig machte.
Und dazu kam die Tatsache, dass sie sich wieder
einmal vorkam wie das fünfte Rad am Wagen. Juliet musste sich um
ihr Geschäft kümmern, die Kinder waren bei Rosemary und Hugh, und
Duncan trieb sich immer noch mit Ronnie Babcock
herum und genoss es vermutlich, eine alte Männerfreundschaft
wiederzubeleben.
Während sie langsam zum Parkplatz am Ende der
Castle Street schlenderte, fiel ihr auf, dass die Ladengeschäfte,
die die Straße im Bereich des Stadtzentrums prägten, bald
gepflegten georgianischen Wohnhäusern wichen. An manchen prangten
Schilder von Anwaltskanzleien und Versicherungsbüros, doch die
kommerzielle Nutzung konnte der Atmosphäre heiterer Ruhe, welche
die von Alleebäumen gesäumte Straße prägte, nichts anhaben.
Die Gegend erinnerte Gemma an Islington, wo sie in
der Garagenwohnung ihrer Freundin Hazel gewohnt hatte, und mit
einem Anflug von Nostalgie dachte sie an ihre Zeit dort zurück; an
ein Leben, das zumindest im Rückblick einfacher gewesen war als das
jetzige. Aber das war eine Täuschung, wie ihr sehr wohl bewusst war
– ihr Leben war damals vielleicht weniger kompliziert gewesen, aber
gewiss auch ärmer.
Auf jeden Fall mochte sie das Leben, das sie jetzt
führte, nicht mehr missen – ja, sie konnte sich kaum noch etwas
anderes vorstellen als den hektischen und chaotischen Alltag mit
Duncan und den Jungen in ihrem Haus in Notting Hill. Und wenn sie
sich manchmal insgeheim wünschte, Duncan hätte sich nicht
verpflichtet gefühlt, mit ihr und Toby zusammenzuziehen, versuchte
sie den Gedanken gleich wieder zu verdrängen. Sie konnte das
Geschehene nicht ungeschehen machen, genauso wenig, wie sie das
Kind zurückholen konnte, das sie verloren hatte.
Etwas Kaltes streifte leicht ihre Wange, wie eine
gefrorene Träne. Als sie aufblickte, sah sie eine einzelne
Schneeflocke herabwirbeln, doch der Himmel sah weniger bedrohlich
aus als vorhin, als sie und Juliet auf dem Weg vom Parkplatz zum
Café von einem Eisregenschauer überrascht worden waren.
Juliet hatte ihr einen illustrierten Stadtplan in
die Hand gedrückt
und vorgeschlagen, dass sie einen kleinen Rundgang machte, doch
als Gemma am Parkplatz ankam, blieb sie zunächst eine Weile stehen
und blickte über die Straße hinweg auf den Weaver, der die Stadt
durchfloss. Ihre Gedanken schweiften zu dem Kanal, der eine halbe
Meile weiter westlich parallel zum Fluss verlief, um dann ein Stück
außerhalb der Stadt einen anderen Verlauf zu nehmen – nach
Nordwesten über Barbridge bis ins ferne Chester. Derselbe Kanal,
der an Juliets Viehstall vorbeiführte und am Tatort des Mordes an
Annie Lebow.
Es war gewiss ein Zufall, dass die Leiche des
Kindes, die vielleicht schon vor sehr langer Zeit dort versteckt
worden war, so nahe der Stelle gelegen hatte, wo gestern Abend eine
Frau gewaltsam zu Tode gekommen war. Sie konnte keine logische
Verbindung erkennen, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie
ihre Zeit wesentlich sinnvoller verbringen könnte als mit
Sightseeing.
Derselbe uniformierte Constable, mit dem sie am
Morgen gesprochen hatte, überwachte noch immer den Verkehr an der
Ortseinfahrt von Barbridge, doch er erkannte Gemma wieder und
winkte sie durch. Der Transporter der Spurensicherung parkte noch
in der Nähe der Brücke, und sie wusste, dass die örtliche Polizei
versuchen würde, den Verkehr weitgehend umzuleiten, bis die
Spurensicherung abgeschlossen war.
Nachdem sie ihren Wagen abgestellt hatte, sprach
sie den Beamten an, der den Fußgängerverkehr über die Brücke zum
Leinpfad überwachte. »Was ist mit Booten – kontrollieren Sie die
auch?«, fragte sie ihn, nachdem er einen Blick auf ihren
Dienstausweis geworfen hatte.
»Um diese Jahreszeit ist nicht viel los auf dem
Kanal«, antwortete er. »Wir haben trotzdem Leute an der Middlewich
Junction stationiert, um die Bootsführer vorzuwarnen, und
auch an der Huddleston Junction unterhalb des Tatorts. Bis jetzt
war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die Schaulustigen
zurückzuweisen, die im Pub von der Geschichte gehört haben«, fügte
er hinzu und deutete auf den Barbridge Inn.
Gemma dankte ihm und ging über die gewölbte Brücke
hinunter zum Leinpfad. Nur ein einziges Boot hatte unterhalb der
Brücke festgemacht. Es war mattschwarz lackiert, mit einer Reihe
kleiner, mit Messing eingefasster Bullaugen. Im Vorbeigehen spähte
Gemma neugierig in die runden Fensteröffnungen, doch die Vorhänge
an der Innenseite waren dicht zugezogen, und sowohl das Vorder- als
auch das Hinterdeck waren mit schweren schwarzen Planen verhüllt.
Das Boot sah verlassen aus und erinnerte fatal an eine
venezianische Totengondel.
Die beiden Boote, die am anderen Kanalufer vor
Anker lagen, gaben mit ihrem traditionellen rot-grünen Anstrich ein
fröhlicheres Bild ab, doch auch auf ihnen war keine Spur von Leben
zu entdecken.
Gemma ging weiter den Kanal entlang, der bald eine
scharfe Linkskurve beschrieb. Als die Boote und die Häuser von
Barbridge hinter ihr verschwanden, hatte sie das Gefühl, in eine
andere, geheimnisvolle Welt einzutreten. Ringsum war nichts zu
sehen als das breite, geschwungene Band des Kanals, das sich durch
immer neue Windungen dem Blick entzog, und das schwarze
Filigranmuster der kahlen Baumkronen vor dem Hintergrund des grauen
Himmels. Die Landschaft kam ihr unsagbar einsam vor – und doch
fühlte sie sich auf merkwürdige Weise davon angezogen; verspürte
den unbändigen Drang zu sehen, was hinter der nächsten Biegung lag.
Und sie konnte sich vorstellen, dass es im Sommer, wenn die Bäume
dicht belaubt waren und eine milde Brise wehte, ein ganz
bezauberndes Fleckchen wäre.
Als sie den Blick senkte, sah sie, dass der
matschige Pfad und
des Gras daneben von zahllosen Fußabdrücken zertrampelt waren –
ein Albtraum für die Spurensicherer. Sie ging weiter und lauschte
auf das Geräusch ihres eigenen Atems, begleitet vom gelegentlichen
leisen Rauschen des Windes oder dem Rascheln eines Tieres im
Unterholz des nahen Waldes. Als hinter der nächsten Kurve ein Trio
von Schwänen auf sie zuglitt, registrierte sie überrascht, wie ein
Teil der Anspannung von ihr abfiel. Immerhin war sie nicht ganz
allein – auch wenn es nur Vögel waren, die ihr Gesellschaft
leisteten.
Sie redete mit ihnen, obwohl sie sich dabei ein
wenig albern vorkam, doch sie änderten tatsächlich ihren Kurs und
kamen in strenger Formation direkt auf sie zugeschwommen, wobei sie
geometrisch exakte Kielwassermuster hinter sich herzogen. Doch als
sie sahen, dass Gemma ihnen kein Futter zu bieten hatte, verloren
sie rasch das Interesse und begannen halbherzig an dem Schilf zu
knabbern, das die Uferbefestigung säumte.
»Dumme Kuh«, schalt Gemma sich laut. Was hatte sie
denn erwartet – etwa eine gepflegte Konversation? Ein Blick hinauf
zu der dicken Wolkenbank, die sich immer tiefer auf den Horizont
herabsenkte, sagte ihr, dass sie die Gelegenheit beim Schopf packen
musste. Wenn sie noch irgendetwas sehen wollte, sollte sie sich
beeilen und nicht die knappe Zeit hier mit den Schwänen
vertrödeln.
Mit entschlosseneren Schritten setzte sie ihren Weg
fort, und nach ein paar weiteren Kurven gelangte sie zu einem
geraden Abschnitt des Kanals, wo die Bäume allmählich von Hecken
abgelöst wurden. In der Ferne erblickte Gemma eine schwarze
Eisenbrücke, die nichts von der Anmut der alten gewölbten
Steinbrücken ausstrahlte, und daneben die knorrige, verdrehte
schwarze Silhouette eines Baums, der wie eine groteske Imitation
der Metallkonstruktion wirkte.
Und dahinter sah sie schon die erste
fluoreszierende gelbe Polizeijacke aufblitzen. Sie hatte den Tatort
erreicht. Nachdem
sie sich ausgewiesen hatte, blieb sie einen Moment an der
Absperrung stehen und blickte sich um. Die Beamten suchten immer
noch jeden Grashalm und jedes Zweiglein in der Hecke nach
verwertbaren Spuren ab. Das Boot mit dem tiefblauen Anstrich lag
still und friedlich am Ufer, als hätte es mit der ganzen Aufregung
nichts zu tun, doch als Gemma genauer hinsah, konnte sie die feine
Schicht Fingerabdruckpulver erkennen, die den Rumpf und das Deck
überzog. Von der Leiche war natürlich nichts mehr zu sehen – bis
auf einen dunklen Fleck im Gras, der von dort, wo sie stand, nicht
als Blut zu identifizieren war.
»Die Kollegen sind mit dem Boot schon fertig, falls
Sie sich mal umschauen möchten«, ließ der Beamte an der Absperrung
sie wissen, doch Gemma widerstand der Versuchung. Sie konnte sich
denken, dass Babcocks Team das Boot äußerst gründlich durchsucht
hatte, und das war auch nicht der Grund, weshalb sie gekommen
war.
»Komme ich hier irgendwie vorbei, ohne den Tatort
zu kontaminieren?«, fragte sie. Die Hecke schien so
undurchdringlich wie die im Märchen von Dornröschen.
»Da gibt’s einen Zauntritt ein paar Meter weiter in
Richtung Brücke – Sie sind dran vorbeigekommen. Ist ein bisschen
zugewachsen, aber ich glaube, der führt aufs freie Feld.« Er fragte
nicht, was sie vorhatte, und wenngleich sie vermutete, dass er ihr
hätte sagen können, was sie wissen wollte, zog sie es wie immer
vor, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.
»Danke«, sagte sie und fügte hinzu: »Wenn ich
stecken bleibe, schreie ich einfach ganz laut.« Dafür erntete sie
ein freundliches und amüsiertes Grinsen.
Wenige Augenblicke später hatte sie den Zauntritt
bereits gefunden und war froh, dass die Biegung der Hecke sie vor
den Blicken des Constables schützte. Zugewachsen war eine
schamlose Untertreibung, dachte sie, als sie die Zweige beiseite
schob und den Fuß auf die hohe Stufe setzte. Sie schwang das
andere Bein unbeholfen über den Zaun, und als sie rittlings darauf
balancierte, blieb sie mit dem Rücken ihrer Jacke in einem
Dornengestrüpp hängen. »Verfluchtes Landleben«, schimpfte sie,
während sie mit einer Hand hinter sich griff, um ihre Jacke zu
befreien, und sich dabei wünschte, sie wäre nur ein kleines
bisschen gelenkiger. Als sie schließlich mit der Grazie einer
Ballerina in Bleistiefeln auf der anderen Seite hinunterplumpste,
spürte sie, wie der Ärger und die Verlegenheit ihr die Röte ins
Gesicht trieben. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass ihr kein
wütender Bulle in die Quere kam.
Doch bald schon musste sie feststellen, dass es
eher die unbelebte Natur war, die ihr Probleme bereitete. Das Feld
war gepflügt, und während auf den aufgeworfenen Reihen frisches
grünes Gras wuchs, waren die Furchen mit einer Grütze aus Schlamm
und Schmelzwasser angefüllt. Gemma stapfte unerschrocken los. Mit
jedem Schritt wurden ihre Stiefel schwerer, doch endlich lichtete
sich die Hecke und wich einem niedrigen Drahtzaun, über den sie
zurück auf den Leinpfad gelangte. Ein Stück weiter erblickte sie
die inzwischen vertrauten Umrisse einer Steinbrücke, halb verdeckt
durch die Biegung des Kanals.
Als sie um die Kurve bog, sah sie den roten
Ziegelbau, der sich am anderen Kanalufer an den Hang schmiegte –
Juliets Viehstall. Sie befand sich jetzt auf der anderen Seite der
Brücke, die scheinbar nirgendwohin führte.
Um auf die Brücke selbst zu gelangen, musste sie
noch einen weiteren Zauntritt überwinden, aber diesmal machte sie
dabei keine so unglückliche Figur. Als sie dann auf dem höchsten
Punkt der Brücke stand, konnte sie sehen, dass am Viehstall immer
noch gearbeitet wurde. Nur von dem jähzornigen Sergeant, mit dem
sie und Juliet am Morgen das Vergnügen gehabt hatten, war nichts zu
sehen. Ohne diesen argusäugigen
Aufpasser, dachte sie sich, würde sie sicher einen Blick in das
Gebäude selbst werfen können, aber zunächst wollte sie noch das
erledigen, weswegen sie gekommen war.
Sie trat an die Brüstung und blickte in die
Richtung, aus der sie gekommen war, über den stillen, abgelegenen
Abschnitt des Kanals hinweg, wo keine Bewegung zu sehen war bis auf
ein leichtes Kräuseln im Schilf nahe dem Ufer. Dann drehte sie sich
um, ging zur anderen Seite der Brücke und schaute nach Süden. In
der Ferne konnte sie den schrägen Uferdamm des
Huddleston-Reservoirs erkennen, ein nüchterner Anblick nach den von
Bäumen gesäumten Mäandern, die sie im Norden gesehen hatte. Sie
wusste auch, dass jenseits des Reservoirs die Schleuse von
Huddleston lag und die Einmündung des Llangollen-Kanals. Wenn man
dann noch weiterginge, käme man durch das Dorf Acton und
schließlich nach Nantwich.
Ganz in der Nähe der Brücke, im Windschatten des
Viehstalls, waren gegenüber dem Leinpfad ein halbes Dutzend
Kanalboote vertäut; wie eine bunte Schar von Entenküken lagen sie
dort aufgereiht. Sie konnte auch den Pfad erkennen, der von der
Zufahrtsstraße zum Viehstall am Feldrain entlang zu den Booten
hinunterführte. Doch die Kabinentüren waren alle fest verschlossen
oder mit Planen verhüllt, und aus den messinggefassten
Schornsteinen stieg kein Rauch auf. Gemma bezweifelte, dass
Babcocks Leute hier irgendwelche Zeugen angetroffen hatten.
Warum hatte Annie sich einen so menschenleeren
Abschnitt des Kanals ausgesucht, um ihr Boot festzumachen? Hatte es
irgendetwas mit der Nähe zu dem Viehstall zu tun?
Nun, man konnte die Sache auch von der anderen
Seite angehen, dachte Gemma. Falls Annie jedes Mal, wenn sie in die
Gegend von Barbridge kam, an dieser Stelle festmachte, hatte sie
dann vielleicht am Viehstall irgendetwas beobachtet? Und
wenn das der Fall war, könnte die Entdeckung der Kinderleiche die
Aufmerksamkeit des Mörders auf sie gelenkt haben?
Aber möglicherweise war das Kind ja schon lange,
bevor Annie Lebow das Boot gekauft hatte, im Viehstall eingemauert
worden. Gemma schüttelte frustriert den Kopf. Sie stellte hier
Hypothesen auf, dabei hatte sie überhaupt keine gesicherten Fakten,
auf denen sie aufbauen konnte. Und das war immer gefährlich.
Ein Ergebnis hatte ihr die Exkursion immerhin
eingebracht, abgesehen von verdreckten Stiefeln und halb erfrorenen
Fingern. Sie wusste jetzt definitiv, was sie nach einem Blick auf
die Karte nur vermutet hatte – dass Annie Lebows Mörder entweder
aus Barbridge gekommen war oder über die Straße, die zum Viehstall
führte. Gewiss, es war nicht ausgeschlossen, dass er zu Fuß den
ganzen Leinpfad von Nantwich im Süden oder von irgendwo jenseits
von Barbridge im Norden gekommen war. Angesichts des dichten
Nebels, der am Abend zuvor geherrscht hatte, hielt sie das jedoch
für sehr unwahrscheinlich – ebenso unwahrscheinlich wie die
Vorstellung, dass der Mörder oder die Mörderin sich querfeldein
über Zäune und durch Hecken bis zum Leinpfad durchgeschlagen
hatte.
Weiter kam sie mit ihren Spekulationen nicht – doch
sie musste feststellen, dass sie nicht bereit war, es damit
bewenden zu lassen. Sobald sie wieder im Auto war, würde sie sich
auf die Suche nach Kincaid und Ronnie Babcock machen und sie
fragen, was sie herausgefunden hatten. Es wurde Zeit, dass sie das
tat, was sie am besten konnte – die Puzzleteile
zusammensetzen.
Doch als sie schon auf dem Weg zum Leinpfad war,
hielt sie plötzlich inne. Sie drehte sich um und warf noch einen
Blick auf den aus roten Ziegeln gemauerten Viehstall. Von Sergeant
Rasansky war immer noch nichts zu sehen, und es schien, als wolle
der Rückbautrupp bald Feierabend machen. Es war niemand
in der Nähe, der sie gut genug kannte, um ihre Neugier morbid zu
nennen – was sprach also dagegen, dass sie sich die letzte
Ruhestätte des geheimnisvollen Kindes mit eigenen Augen
ansah?
Das war eine Sache, die er an Frauen so
hasste – dass sie immer wieder das eine sagten und doch das andere
meinten. Oder diesen speziellen Blick, mit dem sie einen
durchbohrten, schlimmer als alle Worte – und man konnte sich nicht
einmal richtig dagegen zur Wehr setzen, weil sie einem nie einen
konkreten Angriffspunkt boten.
Es erinnerte ihn daran, wie seine Mutter
damit umgegangen war, dass er noch ins Bett gemacht hatte, als er
schon längst aus dem Alter heraus gewesen war, in dem so etwas
entschuldbar war.
Sie hatte gewartet, bis er das Zimmer
verlassen hatte, und war dann rasch hineingeschlüpft, um die
beschmutzten Laken zusammenzuraffen und das Bett neu zu beziehen.
Manchmal hatte er sie dabei vom Flur aus heimlich beobachtet.
Wenn sie ihm dann hinterher begegnet war,
hatte sie ihm einen Blick zugeworfen, der verriet, dass sie genau
wusste, was er getan hatte. Und so hatte sie ihn, ohne ein Wort
gesprochen zu haben, in ein Komplott der Scham hineingezogen.
In seiner hilflosen Wut hatte er schließlich
begonnen, absichtlich ins Bett zu machen – seine Methode, die Macht
wieder an sich zu reißen, über sie und über seinen eigenen Körper.
Aber irgendwie schien seine Mutter ihn durchschaut zu haben. Sie
hatte einfach aufgehört, die Bettwäsche zu wechseln, und eine Nacht
auf den stinkenden, durchnässten Laken hatte ihm die Freude an
diesem Spielchen verdorben.
Und immer noch hatte sie gelächelt und nichts
gesagt.
Die Zeit hatte sie zermürbt. Sie war des
Spiels überdrüssig geworden, wie er ihrer überdrüssig geworden war,
und er hatte sie aufgeben müssen.
Aber diesmal würde ihm das nicht passieren,
nicht bei dieser Frau. Mit ihren verschlagenen Blicken und ihrer
verräterischen Zunge – o ja,
er kannte die Signale, kannte sie nur zu gut. Aber sie würde ihm
nicht entkommen, sie würde ihm nicht wie Quecksilber durch die
Finger gleiten. Dafür würde er schon sorgen.
Als Kincaid und Babcock nach Crewe zurückkehrten,
herrschte in der provisorischen Soko-Zentrale erfreulich rege
Aktivität. Sowohl Larkin als auch Rasansky waren von ihren
Einsätzen zurück und saßen an verschiedenen Schreibtischen, doch
ein Blick in Rasanskys mürrisches Gesicht verriet Kincaid, dass er
nichts Positives zu berichten hatte.
»Na, bei der Rückbauaktion ist wohl nicht viel
rausgekommen?«, fragte Babcock, als hätte auch er schon erraten,
wie die Antwort lauten würde.
»Die reinste Zeitverschwendung«, brummte Rasansky.
»Und obendrein hab ich mir wahrscheinlich noch eine doppelseitige
Lungenentzündung geholt.« Die Farbe seiner Nase erinnerte in der
Tat an die des Rentiers aus dem bekannten Weihnachtslied, doch bei
Constable Larkin konnte er damit jedenfalls kein Mitleid
schinden.
»Ist mir schleierhaft, wieso es Ihnen leid tut,
dass Sie nicht noch eine Leiche gefunden haben«, meinte Larkin
schnippisch und beäugte Rasansky über den Papierstapel auf ihrem
Schreibtisch hinweg. »Oder hatten Sie vielleicht gehofft, auf ein
Massengrab voller toter Säuglinge zu stoßen?«
»Sind Sie bei der Identifizierung des Säuglings,
den wir gefunden haben, irgendwie weitergekommen?«, fragte
Babcock, um den sich anbahnenden Streit zu unterbinden.
»Wir haben uns zunächst einmal das Geburtenregister
von Cheshire für die letzten fünfzehn Jahre vorgenommen«,
antwortete Larkin, »da ich mir kaum vorstellen kann, dass die Decke
und die Babykleidung älter sind. Bis jetzt ist nichts dabei
rausgekommen, aber es dauert eben seine Zeit, die Unterlagen zu
sichten. Und dabei ist die Tatsache noch nicht berücksichtigt,
dass die Geburt möglicherweise gar nicht gemeldet wurde.«
»Was ist mit Hebammen?«
Larkin deutete mit einem Nicken auf einen
uniformierten Constable, der an einem Schreibtisch in der Ecke saß
und ununterbrochen telefonierte. »Wir fragen auch bei allen in der
Region gemeldeten Hebammen nach, obwohl die in der Regel alle
Geburten gewissenhaft eintragen lassen. Trotzdem, ein
Flüchtigkeitsfehler kann immer mal passieren.« Mit einem
Achselzucken fügte sie hinzu: »Wir werden uns auch noch die
Hausärzte vornehmen – kann ja sein, dass einer bei einer nicht
eingetragenen Hausgeburt geholfen hat.«
»Und die Smiths haben wir auch noch nicht
gefunden?« Babcocks Miene war finster, doch Larkin wirkte
keineswegs eingeschüchtert.
»Tut mir leid, Boss. Ich schicke schon alle paar
Stunden jemanden los, um nachzusehen, ob dieses Paar, das angeblich
noch Kontakt mit den Smiths hat, endlich aus dem Urlaub zurück ist.
Wir haben schon die Nachbarn informiert, einen Zettel an die
Haustür gehängt und ihnen auf den AB gesprochen.«
Kincaid, der sich auf die Kante eines Schreibtischs
gepflanzt und die Szene unauffällig aus dem Hintergrund beobachtet
hatte, meldete sich zu Wort. »Haben Sie sich mit Scotland Yard in
Verbindung gesetzt und gefragt, ob es dort Unterlagen über ähnlich
gelagerte Fälle gibt?«
»Gestern.« Rasanskys genervter Blick verriet, dass
er es gar nicht mochte, wenn ihm jemand sagte, wie er seine Arbeit
zu machen hatte, und sei der Rat auch noch so höflich formuliert.
»Als ich die Beschreibung des Kindes und der Kleidungsstücke an
alle Dienststellen geschickt habe.«
Babcock hatte begonnen, auf und ab zu gehen. »Wir
sitzen hier ziemlich auf dem Trockenen, solange das
Innenministerium uns keine weiteren Informationen liefert«, sagte
er. »Die
Forensische Anthropologie wird uns doch wenigstens ungefähr sagen
können, wie lange das Baby schon dort lag. Rufen Sie noch mal an,
Sheila, ja? Und wenn Sie sie schon an der Strippe haben, fragen Sie
gleich nach, ob sie eine Gesichtsrekonstruktion machen
können.«
»Sehen Babys in dem Alter nicht alle mehr oder
weniger gleich aus?«, fragte Larkin, wobei sie eine sorgfältig
gezupfte Augenbraue hochzog.
»Tun Sie es einfach. Was ist mit der DNA-Probe, die
Dr. Elsworthy eingereicht hat?«
Larkin schüttelte den Kopf. »Das wird noch ein
bisschen dauern, bis die mit der Datenbank abgeglichen ist.« Sie
warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Sieht aus, als ob uns im Moment
nur die Medien bleiben, Chef. Wer von uns darf sich an Lois Lane
von der Chronicle ranmachen?«
Kincaid bemerkte die Blicke, die zwischen den
beiden hin und her gingen, und auch Larkins dezentes Nicken in
Rasanskys Richtung entging ihm nicht. Offenbar steckte in ihrer
Frage eine unausgesprochene Botschaft. So, wie Kincaid den Sergeant
bisher erlebt hatte, konnte er sich vorstellen, dass er alles
daransetzen würde, die besondere Bedeutung des Falles
herauszustellen – und seine Rolle bei seiner Aufklärung. Und das
war Larkin und Babcock offenbar nur recht.
»Na schön, Kevin«, wandte sich Babcock an Rasansky.
»Dann füttern Sie unsere rasende Reporterin mal mit dem ungefähren
Alter des Kindes und der Beschreibung der Kleidung – und bitten Sie
sie, ihre Leser zu fragen, ob irgendjemand von einem Kind weiß, das
in den letzten Jahren auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Wir
werden eine Telefonnummer veröffentlichen, wenn der Artikel
erscheint, und jemanden einteilen, der die Anrufe entgegennimmt.
Aber erzählen Sie ihr nur ja nicht, dass die Leiche eingemauert war
– das müssen wir vorläufig noch für uns behalten.«
Larkin ließ ihren Aktenstapel mit einem dumpfen
Knall auf die Schreibtischplatte fallen, um die Kanten
auszurichten. »Können wir jetzt mal zur Hauptsache kommen, Chef?
Ich weiß, wir müssen das Kind identifizieren, aber das kleine
Mädchen ist schon ziemlich lange tot, und seit heute Morgen haben
wir einen Mord direkt vor der Haustür. Was haben Sie bei dem
Ehemann alles herausgefunden?«
»Ziemlich dubiose Verhältnisse, wenn Sie mich
fragen. Er wohnt in ihrem Haus – einer viktorianischen Villa, die
dem Polizeipräsidenten alle Ehre machen würde -, und anscheinend
lebt er auch teilweise von ihrem Geld. Durch ihren Tod erleidet er
jedenfalls keinen finanziellen Schaden, da er der Alleinerbe ist.
Und er hat für gestern Abend kein Alibi. Er sagt, sie habe ihn
angerufen, weil sie mit ihm reden wollte, und sie hätten sich für
heute Abend zum Essen verabredet.«
»Also unser Hauptverdächtiger, wie?«, fragte
Larkin. »Ich habe jeden Fetzen Papier, der auch nur im
Entferntesten relevant sein könnte, aus dem Boot
mitgenommen.«
»Das Motiv hätten wir möglicherweise«, meinte
Kincaid, »und es dürfte interessant sein, zu sehen, was Sie in den
Papieren alles zutage fördern. Aber beim Punkt Gelegenheit bin ich
mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob er in dem Nebel gestern
Abend zu ihrem Boot hätte vordringen können oder überhaupt nur bis
zum Kanal – und selbst wenn er wusste, wo es lag, hätte er Mühe
gehabt, es zu finden.«
»Was ist mit der Hausermittlung in Barbridge?«,
fragte Babcock. »Ist dabei irgendwas rausgekommen?«
»›Bootsermittlung‹ muss man wohl eher sagen.«
Larkin grinste. »Ich hab da eine alte Klatschbase aufgetan, eine
gewisse Mrs. Millsap, die sagte, sie hätte an Heiligabend gehört,
wie das Opfer sich auf einem Boot auf der Höhe des Pubs mit einem
Mann gestritten hat. Er war noch da, und ich habe ihn gleich
vernommen. Sein Name ist Gabriel Wain, und er behauptet,
Ms. Lebow habe sein Boot gerammt, weswegen sie sich ein bisschen
in die Haare geraten seien. Er hat mir die Schramme gezeigt. Aber
dann sagte er, sie habe sich erboten, für sämtliche Reparaturkosten
aufzukommen, und sich bei ihm entschuldigt, und damit sei die Sache
erledigt gewesen. Ich habe mir alles aufgeschrieben, aber es sah
mir nicht nach einer Fehde aus, die damit enden könnte, dass einer
dem anderen Tage später auflauert, um ihm eins über den Schädel zu
ziehen.«
Kincaid runzelte die Stirn. »Er sagte, Annie habe
sein Boot gerammt?«
»Ja. Als sie neben ihm anlegen wollte«, erläuterte
Larkin. »Eine fette Schramme am Bug.«
»Das ist merkwürdig.« Kincaid rieb sich
nachdenklich das Kinn und spürte schon die sprießenden Stoppeln.
»Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie die Horizon
manövriert hat, und ich hätte gesagt, dass sie eine sehr fähige
Bootsführerin war.«
Als Gemma sich am Ende ihrer Exkursion wieder
Barbridge näherte – nachdem sie Hecke und Zauntritt diesmal relativ
ungeschoren hinter sich gebracht hatte -, hatte sie das Gefühl,
dass die Kälte ihr bis in die Knochen drang. Sie war sich jedoch
nicht sicher, wie viel von ihrem Unbehagen auf die physische Kälte
zurückzuführen war und wie viel auf die Erinnerung an das klaffende
Loch in der Wand des alten Viehstalls.
Nachdem der Sergeant nicht mehr da war, hatten die
Männer vom Rückbautrupp nichts dagegen gehabt, dass sie sich in dem
Gemäuer ein wenig umsah, solange sie nicht ihr Suchraster
durcheinanderbrachte. Sie hatte sich nur so weit hineingewagt, bis
sie die Stelle sehen konnte, wo Juliet die Kinderleiche gefunden
hatte. Doch dieser eine Blick hatte genügt, um ihr klar zu machen,
dass sie bei allem Mitgefühl für Juliet bis zu
diesem Moment nicht begriffen hatte, wie zutiefst erschütternd das
Erlebnis für sie gewesen sein musste.
Ob Juliets Kunden, die geplant hatten, das alte
Gemäuer in ein ruhiges, gemütliches Heim umzuwandeln, sich wohl
jemals wieder für das Projekt würden begeistern können? Ob Juliet
selbst je wieder Freude daran finden würde, es zu vollenden –
vorausgesetzt, sie bekam die Gelegenheit dazu?
Es schien ein wenig milder geworden zu sein, und
der leichte Temperaturanstieg hatte die Eiskügelchen des
nachmittäglichen Schauers in feine Tröpfchen verwandelt, die Gemmas
Kleider tränkten und ihr Haar benetzten. Es sah so aus, als würde
die Abenddämmerung den dichten Nebel der vergangenen Nacht
zurückbringen.
Bei dem Gedanken spürte Gemma urplötzlich ein
Kribbeln zwischen den Schulterblättern, und die Härchen in ihrem
Nacken richteten sich auf. Sie fuhr herum, wie schon mehrmals zuvor
auf ihrem Rückweg vom Viehstall, doch da war niemand auf dem
Leinpfad. Sie schüttelte sich und beschleunigte ihren Schritt.
Schon konnte sie die geschwungene Form der Steinbrücke sehen; in
wenigen Minuten würde sie sicher im warmen Auto sitzen und über
ihren krankhaften Verfolgungswahn lachen.
Doch wenige Schritte vor den Stufen, die zur Straße
hinaufführten, blieb sie stehen, gefangen genommen von dem Anblick,
der sich ihr durch den verwitterten Bogen der Brücke hindurch bot.
Ein kleines Mädchen, kaum älter als Toby, saß ein paar Meter hinter
der Brücke am Kanalufer, zusammengekauert unter einem riesigen
schwarzen Regenschirm. Es hielt eine Angelrute in der Hand und saß
so reglos da, dass man glauben konnte, eine Skulptur vor sich zu
haben.
Ein Boot lag ganz in der Nähe, seine Farben durch
den Dunst gedämpft, doch Gemma erkannte es als dasjenige, dem die
Rechtsmedizinerin am Morgen einen Besuch abgestattet
hatte. Neugierig geworden, beobachtete sie die Szene eine Weile,
um dann langsam weiterzugehen, bis sie auf der anderen Seite unter
der Brücke heraustrat.
Das Mädchen blickte auf, als es sie bemerkte. Sein
blondes, lockiges Haar wirkte durch die Feuchtigkeit dunkler, doch
nichts konnte das leuchtende Kornblumenblau der Augen trüben.
»Nicht gerade das beste Wetter zum Angeln, findest
du nicht?«, fragte Gemma und blieb einige Schritte vor dem Mädchen
stehen.
Das Kind betrachtete sie mit ernster Miene. »Papi
sagt, im Regen beißen die Fische besser. Ich glaube, das ist, weil
sie dann nicht mehr wissen, wo das Wasser aufhört und die Luft
anfängt.« Sie war älter, als Gemma zunächst geglaubt hatte; die
Lücke, die ihre ausgefallenen Milchschneidezähne hinterlassen
hatten, begann sich schon wieder zu füllen.
Gemma trat ein wenig näher und ging so elegant, wie
sie es eben fertig brachte, in die Hocke, bis sie auf Augenhöhe mit
dem Mädchen war. »Was fängst du denn so?«
»Plötzen. Barsche. Brassen. Manchmal auch
Gründlinge.«
Gemmas Miene musste ihren Ekel verraten haben, denn
das Mädchen lachte plötzlich hell auf. »Das sind ganz winzige
Dinger, die Gründlinge«, erklärte sie. »Aber man braucht Maden, um
sie zu fangen, und das mag ich nicht so. Ich mag es auch nicht, die
Fische auszunehmen, aber Papi sagt, das ist auch nichts anderes als
Kartoffeln schälen oder ein Huhn zerlegen.«
»Kannst du das denn alles schon?«, fragte Gemma
beeindruckt. Kit stellte sich zwar in der Küche schon recht
geschickt an, aber Toby lernte gerade erst, Toast und Butterbrote
zu machen, und sie hätte ihm jedenfalls niemals ein scharfes Messer
anvertraut.
»Nicht so gut wie mein Bruder«, antwortete das
Mädchen. »Aber ich kann super Käsemakkaroni kochen. Schmeckt viel
besser als Fisch, aber Papi sagt, warum sollen wir fürs Essen
bezahlen, wenn wir uns auch selbst was besorgen können.« Ihre
Stimme verriet keinerlei Groll.
Jetzt begriff Gemma, dass dies nicht das Kind war,
das sie kurz gesehen hatte, als es der Pathologin die Tür geöffnet
hatte – das war ein Junge gewesen, vielleicht zwei oder drei Jahre
älter. »Seid ihr nur zwei Geschwister – du und dein Bruder?«
Das Mädchen nickte. »Er heißt Joseph. Und ich bin
Marie«, fügte sie hinzu und schenkte Gemma ein ernstes
Lächeln.
»Ich heiße Gemma.« Sie verlagerte ihr Gewicht ein
wenig auf die Fersen, in dem Bemühen, eine etwas bequemere Position
zu finden, ohne dass ihr Hosenboden mit dem nassen Rasen in
Berührung kam. Marie nahm eine Hand von der Angelrute und streckte
sie aus. Die kleinen, schwieligen Finger fühlten sich in Gemmas
Hand eiskalt an, doch dem Kind schienen Kälte und Regen nichts
auszumachen.
»Wohnt ihr mit eurem Vater auf dem Boot dort, du
und dein Bruder?«, fragte Gemma.
»Und unserer Mama. Aber sie liegt im Sterben«,
fügte Marie in dem gleichen sachlichen Ton hinzu. »Mami und Papi
wissen nicht, dass wir das wissen, aber wir wissen’s doch.«
Gemma starrte das Mädchen an, vorübergehend um eine
Antwort verlegen. Schließlich fragte sie: »Ist eure Mama schon
lange krank?«
»Ich weiß nicht genau.« Eine kleine Falte erschien
auf Maries glatter Stirn. »Aber ich glaube, sie ist müde. Sie will
uns bloß nicht alleinlassen.«
»Das kann ich verstehen«, meinte Gemma, während
sich ihr Herz zusammenkrampfte. »Sie muss euch sehr lieben.«
Im Nachhinein konnte Gemma nicht sagen, welches
Signal das Mädchen vorgewarnt hatte, doch plötzlich reckte Marie
den Kopf unter dem Rand des Schirms hervor und spähte den Leinpfad
hinauf. In der Ferne erblickte Gemma einen Mann
und einen Jungen. Beide hatten die Arme voller Brennholz und kamen
von der Middlewich Junction her auf das Boot zu.
»Da kommt mein Papi«, sagte Marie, während sie den
Kopf wieder unter den Regenschirm zurückzog wie eine Schildkröte,
die sich in ihren Panzer verkriecht. »Du solltest jetzt lieber
gehen.« Die kornblumenblauen Augen, die Gemma fixierten, waren so
ruhig und so alt wie die See. »Er mag es nicht, wenn wir mit
Fremden reden.«