20
»Bist du sicher, dass du mich jetzt nicht mehr brauchst?«, fragte Gemma Juliet, als sie vor dem kleinen Laden mit Büro stehen blieben, den Juliet in der Castle Street angemietet hatte, einer versteckten Nebenstraße hinter dem Marktplatz.
Vom Teehaus waren sie die Pillory Street hinuntergegangen. Als sie am Buchladen vorbeikamen und Gemma Juliets Zögern bemerkte, drängte Gemma sie zum Weitergehen und sagte: »Ich bin sicher, dass es den Kindern gut geht. Es ist vielleicht besser, wenn du eine Weile wartest, ehe du Lally siehst, findest du nicht?«
»Du hast wohl recht«, meinte Juliet seufzend. »Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass es mir in ein paar Stunden leichter fallen wird, mit ihr zu reden und so zu tun, als wäre nichts passiert. Mein Gott, sie muss mich ja wirklich für eine Idiotin halten«, fügte sie hinzu, als die Wut sie erneut übermannte.
»Ich habe auch nicht mehr Erfahrung als du, aber ich fürchte, dass die meisten Vierzehnjährigen ihre Eltern für Idioten halten – und das auch nur, wenn sie gerade gnädig gestimmt sind.« Gemma drückte Juliets Arm und erntete ein kleines Lächeln für ihre Bemerkung.
Dann hatte Juliet gesagt, wenn sie schon nichts für die Kinder tun könne, müsse sie wenigstens ihre Mitarbeiter informieren und versuchen, die Bonners zu erreichen – die Kunden, die ihr den Auftrag zur Renovierung des Viehstalls erteilt hatten.
Gemma befürchtete, dass Caspar zuallererst in Juliets Büro nach ihr suchen würde, wenn er wieder in Zorn geriet, weshalb ihr bei dem Gedanken, sie dort allein zurückzulassen, alles andere als wohl war. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Juliet sie und deutete auf einen verbeulten Lieferwagen, der vor dem Büro auf dem Gehsteig parkte. »Mein Polier ist da, und Caspar wird sich hüten, sich in seiner Gegenwart danebenzubenehmen – Jims Hobby ist nämlich zufällig Kickboxen. Wenn ich im Büro fertig bin, bitte ich Jim, mich zum Buchladen zu begleiten. Und dann können Mutter oder Vater mich nach Hause fahren.«
Gemma zögerte. Sie wollte ihre Grenzen nicht überschreiten, aber wenn sie daran dachte, was sie Juliet heute schon alles hatte beibringen müssen, fand sie, dass sie nicht auf halbem Weg stehen bleiben konnte. »Juliet, du weißt, dass Duncan und ich dir jederzeit den Rücken stärken können, wenn du dich entschließen solltest, mit Caspar zu reden. Du musst das nicht allein durchstehen.«
Juliet hatte den Türgriff schon in der Hand; jetzt drehte sie sich noch einmal um. »Ich … ich bin mir nicht sicher, ob ich schon so weit bin. Aber danke jedenfalls.«
Gemma blieb stehen, bis Juliet im Laden verschwunden war. Ihr Unbehagen hatte sich noch nicht gelegt. Aber sie konnte sich schlecht als Leibwächterin aufspielen, wenn Juliet das gar nicht wollte, und im Übrigen war Caspar Juliet gegenüber nie wirklich handgreiflich geworden oder hatte ihr auch nur damit gedroht. Vielleicht war es nur der Schatten des Mordes an Annie Lebow, der über allem lag und sie so unruhig machte.
Und dazu kam die Tatsache, dass sie sich wieder einmal vorkam wie das fünfte Rad am Wagen. Juliet musste sich um ihr Geschäft kümmern, die Kinder waren bei Rosemary und Hugh, und Duncan trieb sich immer noch mit Ronnie Babcock herum und genoss es vermutlich, eine alte Männerfreundschaft wiederzubeleben.
Während sie langsam zum Parkplatz am Ende der Castle Street schlenderte, fiel ihr auf, dass die Ladengeschäfte, die die Straße im Bereich des Stadtzentrums prägten, bald gepflegten georgianischen Wohnhäusern wichen. An manchen prangten Schilder von Anwaltskanzleien und Versicherungsbüros, doch die kommerzielle Nutzung konnte der Atmosphäre heiterer Ruhe, welche die von Alleebäumen gesäumte Straße prägte, nichts anhaben.
Die Gegend erinnerte Gemma an Islington, wo sie in der Garagenwohnung ihrer Freundin Hazel gewohnt hatte, und mit einem Anflug von Nostalgie dachte sie an ihre Zeit dort zurück; an ein Leben, das zumindest im Rückblick einfacher gewesen war als das jetzige. Aber das war eine Täuschung, wie ihr sehr wohl bewusst war – ihr Leben war damals vielleicht weniger kompliziert gewesen, aber gewiss auch ärmer.
Auf jeden Fall mochte sie das Leben, das sie jetzt führte, nicht mehr missen – ja, sie konnte sich kaum noch etwas anderes vorstellen als den hektischen und chaotischen Alltag mit Duncan und den Jungen in ihrem Haus in Notting Hill. Und wenn sie sich manchmal insgeheim wünschte, Duncan hätte sich nicht verpflichtet gefühlt, mit ihr und Toby zusammenzuziehen, versuchte sie den Gedanken gleich wieder zu verdrängen. Sie konnte das Geschehene nicht ungeschehen machen, genauso wenig, wie sie das Kind zurückholen konnte, das sie verloren hatte.
Etwas Kaltes streifte leicht ihre Wange, wie eine gefrorene Träne. Als sie aufblickte, sah sie eine einzelne Schneeflocke herabwirbeln, doch der Himmel sah weniger bedrohlich aus als vorhin, als sie und Juliet auf dem Weg vom Parkplatz zum Café von einem Eisregenschauer überrascht worden waren.
Juliet hatte ihr einen illustrierten Stadtplan in die Hand gedrückt und vorgeschlagen, dass sie einen kleinen Rundgang machte, doch als Gemma am Parkplatz ankam, blieb sie zunächst eine Weile stehen und blickte über die Straße hinweg auf den Weaver, der die Stadt durchfloss. Ihre Gedanken schweiften zu dem Kanal, der eine halbe Meile weiter westlich parallel zum Fluss verlief, um dann ein Stück außerhalb der Stadt einen anderen Verlauf zu nehmen – nach Nordwesten über Barbridge bis ins ferne Chester. Derselbe Kanal, der an Juliets Viehstall vorbeiführte und am Tatort des Mordes an Annie Lebow.
Es war gewiss ein Zufall, dass die Leiche des Kindes, die vielleicht schon vor sehr langer Zeit dort versteckt worden war, so nahe der Stelle gelegen hatte, wo gestern Abend eine Frau gewaltsam zu Tode gekommen war. Sie konnte keine logische Verbindung erkennen, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie ihre Zeit wesentlich sinnvoller verbringen könnte als mit Sightseeing.
 
Derselbe uniformierte Constable, mit dem sie am Morgen gesprochen hatte, überwachte noch immer den Verkehr an der Ortseinfahrt von Barbridge, doch er erkannte Gemma wieder und winkte sie durch. Der Transporter der Spurensicherung parkte noch in der Nähe der Brücke, und sie wusste, dass die örtliche Polizei versuchen würde, den Verkehr weitgehend umzuleiten, bis die Spurensicherung abgeschlossen war.
Nachdem sie ihren Wagen abgestellt hatte, sprach sie den Beamten an, der den Fußgängerverkehr über die Brücke zum Leinpfad überwachte. »Was ist mit Booten – kontrollieren Sie die auch?«, fragte sie ihn, nachdem er einen Blick auf ihren Dienstausweis geworfen hatte.
»Um diese Jahreszeit ist nicht viel los auf dem Kanal«, antwortete er. »Wir haben trotzdem Leute an der Middlewich Junction stationiert, um die Bootsführer vorzuwarnen, und auch an der Huddleston Junction unterhalb des Tatorts. Bis jetzt war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die Schaulustigen zurückzuweisen, die im Pub von der Geschichte gehört haben«, fügte er hinzu und deutete auf den Barbridge Inn.
Gemma dankte ihm und ging über die gewölbte Brücke hinunter zum Leinpfad. Nur ein einziges Boot hatte unterhalb der Brücke festgemacht. Es war mattschwarz lackiert, mit einer Reihe kleiner, mit Messing eingefasster Bullaugen. Im Vorbeigehen spähte Gemma neugierig in die runden Fensteröffnungen, doch die Vorhänge an der Innenseite waren dicht zugezogen, und sowohl das Vorder- als auch das Hinterdeck waren mit schweren schwarzen Planen verhüllt. Das Boot sah verlassen aus und erinnerte fatal an eine venezianische Totengondel.
Die beiden Boote, die am anderen Kanalufer vor Anker lagen, gaben mit ihrem traditionellen rot-grünen Anstrich ein fröhlicheres Bild ab, doch auch auf ihnen war keine Spur von Leben zu entdecken.
Gemma ging weiter den Kanal entlang, der bald eine scharfe Linkskurve beschrieb. Als die Boote und die Häuser von Barbridge hinter ihr verschwanden, hatte sie das Gefühl, in eine andere, geheimnisvolle Welt einzutreten. Ringsum war nichts zu sehen als das breite, geschwungene Band des Kanals, das sich durch immer neue Windungen dem Blick entzog, und das schwarze Filigranmuster der kahlen Baumkronen vor dem Hintergrund des grauen Himmels. Die Landschaft kam ihr unsagbar einsam vor – und doch fühlte sie sich auf merkwürdige Weise davon angezogen; verspürte den unbändigen Drang zu sehen, was hinter der nächsten Biegung lag. Und sie konnte sich vorstellen, dass es im Sommer, wenn die Bäume dicht belaubt waren und eine milde Brise wehte, ein ganz bezauberndes Fleckchen wäre.
Als sie den Blick senkte, sah sie, dass der matschige Pfad und des Gras daneben von zahllosen Fußabdrücken zertrampelt waren – ein Albtraum für die Spurensicherer. Sie ging weiter und lauschte auf das Geräusch ihres eigenen Atems, begleitet vom gelegentlichen leisen Rauschen des Windes oder dem Rascheln eines Tieres im Unterholz des nahen Waldes. Als hinter der nächsten Kurve ein Trio von Schwänen auf sie zuglitt, registrierte sie überrascht, wie ein Teil der Anspannung von ihr abfiel. Immerhin war sie nicht ganz allein – auch wenn es nur Vögel waren, die ihr Gesellschaft leisteten.
Sie redete mit ihnen, obwohl sie sich dabei ein wenig albern vorkam, doch sie änderten tatsächlich ihren Kurs und kamen in strenger Formation direkt auf sie zugeschwommen, wobei sie geometrisch exakte Kielwassermuster hinter sich herzogen. Doch als sie sahen, dass Gemma ihnen kein Futter zu bieten hatte, verloren sie rasch das Interesse und begannen halbherzig an dem Schilf zu knabbern, das die Uferbefestigung säumte.
»Dumme Kuh«, schalt Gemma sich laut. Was hatte sie denn erwartet – etwa eine gepflegte Konversation? Ein Blick hinauf zu der dicken Wolkenbank, die sich immer tiefer auf den Horizont herabsenkte, sagte ihr, dass sie die Gelegenheit beim Schopf packen musste. Wenn sie noch irgendetwas sehen wollte, sollte sie sich beeilen und nicht die knappe Zeit hier mit den Schwänen vertrödeln.
Mit entschlosseneren Schritten setzte sie ihren Weg fort, und nach ein paar weiteren Kurven gelangte sie zu einem geraden Abschnitt des Kanals, wo die Bäume allmählich von Hecken abgelöst wurden. In der Ferne erblickte Gemma eine schwarze Eisenbrücke, die nichts von der Anmut der alten gewölbten Steinbrücken ausstrahlte, und daneben die knorrige, verdrehte schwarze Silhouette eines Baums, der wie eine groteske Imitation der Metallkonstruktion wirkte.
Und dahinter sah sie schon die erste fluoreszierende gelbe Polizeijacke aufblitzen. Sie hatte den Tatort erreicht. Nachdem sie sich ausgewiesen hatte, blieb sie einen Moment an der Absperrung stehen und blickte sich um. Die Beamten suchten immer noch jeden Grashalm und jedes Zweiglein in der Hecke nach verwertbaren Spuren ab. Das Boot mit dem tiefblauen Anstrich lag still und friedlich am Ufer, als hätte es mit der ganzen Aufregung nichts zu tun, doch als Gemma genauer hinsah, konnte sie die feine Schicht Fingerabdruckpulver erkennen, die den Rumpf und das Deck überzog. Von der Leiche war natürlich nichts mehr zu sehen – bis auf einen dunklen Fleck im Gras, der von dort, wo sie stand, nicht als Blut zu identifizieren war.
»Die Kollegen sind mit dem Boot schon fertig, falls Sie sich mal umschauen möchten«, ließ der Beamte an der Absperrung sie wissen, doch Gemma widerstand der Versuchung. Sie konnte sich denken, dass Babcocks Team das Boot äußerst gründlich durchsucht hatte, und das war auch nicht der Grund, weshalb sie gekommen war.
»Komme ich hier irgendwie vorbei, ohne den Tatort zu kontaminieren?«, fragte sie. Die Hecke schien so undurchdringlich wie die im Märchen von Dornröschen.
»Da gibt’s einen Zauntritt ein paar Meter weiter in Richtung Brücke – Sie sind dran vorbeigekommen. Ist ein bisschen zugewachsen, aber ich glaube, der führt aufs freie Feld.« Er fragte nicht, was sie vorhatte, und wenngleich sie vermutete, dass er ihr hätte sagen können, was sie wissen wollte, zog sie es wie immer vor, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.
»Danke«, sagte sie und fügte hinzu: »Wenn ich stecken bleibe, schreie ich einfach ganz laut.« Dafür erntete sie ein freundliches und amüsiertes Grinsen.
Wenige Augenblicke später hatte sie den Zauntritt bereits gefunden und war froh, dass die Biegung der Hecke sie vor den Blicken des Constables schützte. Zugewachsen war eine schamlose Untertreibung, dachte sie, als sie die Zweige beiseite schob und den Fuß auf die hohe Stufe setzte. Sie schwang das andere Bein unbeholfen über den Zaun, und als sie rittlings darauf balancierte, blieb sie mit dem Rücken ihrer Jacke in einem Dornengestrüpp hängen. »Verfluchtes Landleben«, schimpfte sie, während sie mit einer Hand hinter sich griff, um ihre Jacke zu befreien, und sich dabei wünschte, sie wäre nur ein kleines bisschen gelenkiger. Als sie schließlich mit der Grazie einer Ballerina in Bleistiefeln auf der anderen Seite hinunterplumpste, spürte sie, wie der Ärger und die Verlegenheit ihr die Röte ins Gesicht trieben. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass ihr kein wütender Bulle in die Quere kam.
Doch bald schon musste sie feststellen, dass es eher die unbelebte Natur war, die ihr Probleme bereitete. Das Feld war gepflügt, und während auf den aufgeworfenen Reihen frisches grünes Gras wuchs, waren die Furchen mit einer Grütze aus Schlamm und Schmelzwasser angefüllt. Gemma stapfte unerschrocken los. Mit jedem Schritt wurden ihre Stiefel schwerer, doch endlich lichtete sich die Hecke und wich einem niedrigen Drahtzaun, über den sie zurück auf den Leinpfad gelangte. Ein Stück weiter erblickte sie die inzwischen vertrauten Umrisse einer Steinbrücke, halb verdeckt durch die Biegung des Kanals.
Als sie um die Kurve bog, sah sie den roten Ziegelbau, der sich am anderen Kanalufer an den Hang schmiegte – Juliets Viehstall. Sie befand sich jetzt auf der anderen Seite der Brücke, die scheinbar nirgendwohin führte.
Um auf die Brücke selbst zu gelangen, musste sie noch einen weiteren Zauntritt überwinden, aber diesmal machte sie dabei keine so unglückliche Figur. Als sie dann auf dem höchsten Punkt der Brücke stand, konnte sie sehen, dass am Viehstall immer noch gearbeitet wurde. Nur von dem jähzornigen Sergeant, mit dem sie und Juliet am Morgen das Vergnügen gehabt hatten, war nichts zu sehen. Ohne diesen argusäugigen Aufpasser, dachte sie sich, würde sie sicher einen Blick in das Gebäude selbst werfen können, aber zunächst wollte sie noch das erledigen, weswegen sie gekommen war.
Sie trat an die Brüstung und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war, über den stillen, abgelegenen Abschnitt des Kanals hinweg, wo keine Bewegung zu sehen war bis auf ein leichtes Kräuseln im Schilf nahe dem Ufer. Dann drehte sie sich um, ging zur anderen Seite der Brücke und schaute nach Süden. In der Ferne konnte sie den schrägen Uferdamm des Huddleston-Reservoirs erkennen, ein nüchterner Anblick nach den von Bäumen gesäumten Mäandern, die sie im Norden gesehen hatte. Sie wusste auch, dass jenseits des Reservoirs die Schleuse von Huddleston lag und die Einmündung des Llangollen-Kanals. Wenn man dann noch weiterginge, käme man durch das Dorf Acton und schließlich nach Nantwich.
Ganz in der Nähe der Brücke, im Windschatten des Viehstalls, waren gegenüber dem Leinpfad ein halbes Dutzend Kanalboote vertäut; wie eine bunte Schar von Entenküken lagen sie dort aufgereiht. Sie konnte auch den Pfad erkennen, der von der Zufahrtsstraße zum Viehstall am Feldrain entlang zu den Booten hinunterführte. Doch die Kabinentüren waren alle fest verschlossen oder mit Planen verhüllt, und aus den messinggefassten Schornsteinen stieg kein Rauch auf. Gemma bezweifelte, dass Babcocks Leute hier irgendwelche Zeugen angetroffen hatten.
Warum hatte Annie sich einen so menschenleeren Abschnitt des Kanals ausgesucht, um ihr Boot festzumachen? Hatte es irgendetwas mit der Nähe zu dem Viehstall zu tun?
Nun, man konnte die Sache auch von der anderen Seite angehen, dachte Gemma. Falls Annie jedes Mal, wenn sie in die Gegend von Barbridge kam, an dieser Stelle festmachte, hatte sie dann vielleicht am Viehstall irgendetwas beobachtet? Und wenn das der Fall war, könnte die Entdeckung der Kinderleiche die Aufmerksamkeit des Mörders auf sie gelenkt haben?
Aber möglicherweise war das Kind ja schon lange, bevor Annie Lebow das Boot gekauft hatte, im Viehstall eingemauert worden. Gemma schüttelte frustriert den Kopf. Sie stellte hier Hypothesen auf, dabei hatte sie überhaupt keine gesicherten Fakten, auf denen sie aufbauen konnte. Und das war immer gefährlich.
Ein Ergebnis hatte ihr die Exkursion immerhin eingebracht, abgesehen von verdreckten Stiefeln und halb erfrorenen Fingern. Sie wusste jetzt definitiv, was sie nach einem Blick auf die Karte nur vermutet hatte – dass Annie Lebows Mörder entweder aus Barbridge gekommen war oder über die Straße, die zum Viehstall führte. Gewiss, es war nicht ausgeschlossen, dass er zu Fuß den ganzen Leinpfad von Nantwich im Süden oder von irgendwo jenseits von Barbridge im Norden gekommen war. Angesichts des dichten Nebels, der am Abend zuvor geherrscht hatte, hielt sie das jedoch für sehr unwahrscheinlich – ebenso unwahrscheinlich wie die Vorstellung, dass der Mörder oder die Mörderin sich querfeldein über Zäune und durch Hecken bis zum Leinpfad durchgeschlagen hatte.
Weiter kam sie mit ihren Spekulationen nicht – doch sie musste feststellen, dass sie nicht bereit war, es damit bewenden zu lassen. Sobald sie wieder im Auto war, würde sie sich auf die Suche nach Kincaid und Ronnie Babcock machen und sie fragen, was sie herausgefunden hatten. Es wurde Zeit, dass sie das tat, was sie am besten konnte – die Puzzleteile zusammensetzen.
Doch als sie schon auf dem Weg zum Leinpfad war, hielt sie plötzlich inne. Sie drehte sich um und warf noch einen Blick auf den aus roten Ziegeln gemauerten Viehstall. Von Sergeant Rasansky war immer noch nichts zu sehen, und es schien, als wolle der Rückbautrupp bald Feierabend machen. Es war niemand in der Nähe, der sie gut genug kannte, um ihre Neugier morbid zu nennen – was sprach also dagegen, dass sie sich die letzte Ruhestätte des geheimnisvollen Kindes mit eigenen Augen ansah?
 
Das war eine Sache, die er an Frauen so hasste – dass sie immer wieder das eine sagten und doch das andere meinten. Oder diesen speziellen Blick, mit dem sie einen durchbohrten, schlimmer als alle Worte – und man konnte sich nicht einmal richtig dagegen zur Wehr setzen, weil sie einem nie einen konkreten Angriffspunkt boten.
Es erinnerte ihn daran, wie seine Mutter damit umgegangen war, dass er noch ins Bett gemacht hatte, als er schon längst aus dem Alter heraus gewesen war, in dem so etwas entschuldbar war.
Sie hatte gewartet, bis er das Zimmer verlassen hatte, und war dann rasch hineingeschlüpft, um die beschmutzten Laken zusammenzuraffen und das Bett neu zu beziehen. Manchmal hatte er sie dabei vom Flur aus heimlich beobachtet.
Wenn sie ihm dann hinterher begegnet war, hatte sie ihm einen Blick zugeworfen, der verriet, dass sie genau wusste, was er getan hatte. Und so hatte sie ihn, ohne ein Wort gesprochen zu haben, in ein Komplott der Scham hineingezogen.
In seiner hilflosen Wut hatte er schließlich begonnen, absichtlich ins Bett zu machen – seine Methode, die Macht wieder an sich zu reißen, über sie und über seinen eigenen Körper. Aber irgendwie schien seine Mutter ihn durchschaut zu haben. Sie hatte einfach aufgehört, die Bettwäsche zu wechseln, und eine Nacht auf den stinkenden, durchnässten Laken hatte ihm die Freude an diesem Spielchen verdorben.
Und immer noch hatte sie gelächelt und nichts gesagt.
Die Zeit hatte sie zermürbt. Sie war des Spiels überdrüssig geworden, wie er ihrer überdrüssig geworden war, und er hatte sie aufgeben müssen.
Aber diesmal würde ihm das nicht passieren, nicht bei dieser Frau. Mit ihren verschlagenen Blicken und ihrer verräterischen Zunge – o ja, er kannte die Signale, kannte sie nur zu gut. Aber sie würde ihm nicht entkommen, sie würde ihm nicht wie Quecksilber durch die Finger gleiten. Dafür würde er schon sorgen.
 
Als Kincaid und Babcock nach Crewe zurückkehrten, herrschte in der provisorischen Soko-Zentrale erfreulich rege Aktivität. Sowohl Larkin als auch Rasansky waren von ihren Einsätzen zurück und saßen an verschiedenen Schreibtischen, doch ein Blick in Rasanskys mürrisches Gesicht verriet Kincaid, dass er nichts Positives zu berichten hatte.
»Na, bei der Rückbauaktion ist wohl nicht viel rausgekommen?«, fragte Babcock, als hätte auch er schon erraten, wie die Antwort lauten würde.
»Die reinste Zeitverschwendung«, brummte Rasansky. »Und obendrein hab ich mir wahrscheinlich noch eine doppelseitige Lungenentzündung geholt.« Die Farbe seiner Nase erinnerte in der Tat an die des Rentiers aus dem bekannten Weihnachtslied, doch bei Constable Larkin konnte er damit jedenfalls kein Mitleid schinden.
»Ist mir schleierhaft, wieso es Ihnen leid tut, dass Sie nicht noch eine Leiche gefunden haben«, meinte Larkin schnippisch und beäugte Rasansky über den Papierstapel auf ihrem Schreibtisch hinweg. »Oder hatten Sie vielleicht gehofft, auf ein Massengrab voller toter Säuglinge zu stoßen?«
»Sind Sie bei der Identifizierung des Säuglings, den wir gefunden haben, irgendwie weitergekommen?«, fragte Babcock, um den sich anbahnenden Streit zu unterbinden.
»Wir haben uns zunächst einmal das Geburtenregister von Cheshire für die letzten fünfzehn Jahre vorgenommen«, antwortete Larkin, »da ich mir kaum vorstellen kann, dass die Decke und die Babykleidung älter sind. Bis jetzt ist nichts dabei rausgekommen, aber es dauert eben seine Zeit, die Unterlagen zu sichten. Und dabei ist die Tatsache noch nicht berücksichtigt, dass die Geburt möglicherweise gar nicht gemeldet wurde.«
»Was ist mit Hebammen?«
Larkin deutete mit einem Nicken auf einen uniformierten Constable, der an einem Schreibtisch in der Ecke saß und ununterbrochen telefonierte. »Wir fragen auch bei allen in der Region gemeldeten Hebammen nach, obwohl die in der Regel alle Geburten gewissenhaft eintragen lassen. Trotzdem, ein Flüchtigkeitsfehler kann immer mal passieren.« Mit einem Achselzucken fügte sie hinzu: »Wir werden uns auch noch die Hausärzte vornehmen – kann ja sein, dass einer bei einer nicht eingetragenen Hausgeburt geholfen hat.«
»Und die Smiths haben wir auch noch nicht gefunden?« Babcocks Miene war finster, doch Larkin wirkte keineswegs eingeschüchtert.
»Tut mir leid, Boss. Ich schicke schon alle paar Stunden jemanden los, um nachzusehen, ob dieses Paar, das angeblich noch Kontakt mit den Smiths hat, endlich aus dem Urlaub zurück ist. Wir haben schon die Nachbarn informiert, einen Zettel an die Haustür gehängt und ihnen auf den AB gesprochen.«
Kincaid, der sich auf die Kante eines Schreibtischs gepflanzt und die Szene unauffällig aus dem Hintergrund beobachtet hatte, meldete sich zu Wort. »Haben Sie sich mit Scotland Yard in Verbindung gesetzt und gefragt, ob es dort Unterlagen über ähnlich gelagerte Fälle gibt?«
»Gestern.« Rasanskys genervter Blick verriet, dass er es gar nicht mochte, wenn ihm jemand sagte, wie er seine Arbeit zu machen hatte, und sei der Rat auch noch so höflich formuliert. »Als ich die Beschreibung des Kindes und der Kleidungsstücke an alle Dienststellen geschickt habe.«
Babcock hatte begonnen, auf und ab zu gehen. »Wir sitzen hier ziemlich auf dem Trockenen, solange das Innenministerium uns keine weiteren Informationen liefert«, sagte er. »Die Forensische Anthropologie wird uns doch wenigstens ungefähr sagen können, wie lange das Baby schon dort lag. Rufen Sie noch mal an, Sheila, ja? Und wenn Sie sie schon an der Strippe haben, fragen Sie gleich nach, ob sie eine Gesichtsrekonstruktion machen können.«
»Sehen Babys in dem Alter nicht alle mehr oder weniger gleich aus?«, fragte Larkin, wobei sie eine sorgfältig gezupfte Augenbraue hochzog.
»Tun Sie es einfach. Was ist mit der DNA-Probe, die Dr. Elsworthy eingereicht hat?«
Larkin schüttelte den Kopf. »Das wird noch ein bisschen dauern, bis die mit der Datenbank abgeglichen ist.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Sieht aus, als ob uns im Moment nur die Medien bleiben, Chef. Wer von uns darf sich an Lois Lane von der Chronicle ranmachen?«
Kincaid bemerkte die Blicke, die zwischen den beiden hin und her gingen, und auch Larkins dezentes Nicken in Rasanskys Richtung entging ihm nicht. Offenbar steckte in ihrer Frage eine unausgesprochene Botschaft. So, wie Kincaid den Sergeant bisher erlebt hatte, konnte er sich vorstellen, dass er alles daransetzen würde, die besondere Bedeutung des Falles herauszustellen – und seine Rolle bei seiner Aufklärung. Und das war Larkin und Babcock offenbar nur recht.
»Na schön, Kevin«, wandte sich Babcock an Rasansky. »Dann füttern Sie unsere rasende Reporterin mal mit dem ungefähren Alter des Kindes und der Beschreibung der Kleidung – und bitten Sie sie, ihre Leser zu fragen, ob irgendjemand von einem Kind weiß, das in den letzten Jahren auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Wir werden eine Telefonnummer veröffentlichen, wenn der Artikel erscheint, und jemanden einteilen, der die Anrufe entgegennimmt. Aber erzählen Sie ihr nur ja nicht, dass die Leiche eingemauert war – das müssen wir vorläufig noch für uns behalten.«
Larkin ließ ihren Aktenstapel mit einem dumpfen Knall auf die Schreibtischplatte fallen, um die Kanten auszurichten. »Können wir jetzt mal zur Hauptsache kommen, Chef? Ich weiß, wir müssen das Kind identifizieren, aber das kleine Mädchen ist schon ziemlich lange tot, und seit heute Morgen haben wir einen Mord direkt vor der Haustür. Was haben Sie bei dem Ehemann alles herausgefunden?«
»Ziemlich dubiose Verhältnisse, wenn Sie mich fragen. Er wohnt in ihrem Haus – einer viktorianischen Villa, die dem Polizeipräsidenten alle Ehre machen würde -, und anscheinend lebt er auch teilweise von ihrem Geld. Durch ihren Tod erleidet er jedenfalls keinen finanziellen Schaden, da er der Alleinerbe ist. Und er hat für gestern Abend kein Alibi. Er sagt, sie habe ihn angerufen, weil sie mit ihm reden wollte, und sie hätten sich für heute Abend zum Essen verabredet.«
»Also unser Hauptverdächtiger, wie?«, fragte Larkin. »Ich habe jeden Fetzen Papier, der auch nur im Entferntesten relevant sein könnte, aus dem Boot mitgenommen.«
»Das Motiv hätten wir möglicherweise«, meinte Kincaid, »und es dürfte interessant sein, zu sehen, was Sie in den Papieren alles zutage fördern. Aber beim Punkt Gelegenheit bin ich mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob er in dem Nebel gestern Abend zu ihrem Boot hätte vordringen können oder überhaupt nur bis zum Kanal – und selbst wenn er wusste, wo es lag, hätte er Mühe gehabt, es zu finden.«
»Was ist mit der Hausermittlung in Barbridge?«, fragte Babcock. »Ist dabei irgendwas rausgekommen?«
»›Bootsermittlung‹ muss man wohl eher sagen.« Larkin grinste. »Ich hab da eine alte Klatschbase aufgetan, eine gewisse Mrs. Millsap, die sagte, sie hätte an Heiligabend gehört, wie das Opfer sich auf einem Boot auf der Höhe des Pubs mit einem Mann gestritten hat. Er war noch da, und ich habe ihn gleich vernommen. Sein Name ist Gabriel Wain, und er behauptet, Ms. Lebow habe sein Boot gerammt, weswegen sie sich ein bisschen in die Haare geraten seien. Er hat mir die Schramme gezeigt. Aber dann sagte er, sie habe sich erboten, für sämtliche Reparaturkosten aufzukommen, und sich bei ihm entschuldigt, und damit sei die Sache erledigt gewesen. Ich habe mir alles aufgeschrieben, aber es sah mir nicht nach einer Fehde aus, die damit enden könnte, dass einer dem anderen Tage später auflauert, um ihm eins über den Schädel zu ziehen.«
Kincaid runzelte die Stirn. »Er sagte, Annie habe sein Boot gerammt?«
»Ja. Als sie neben ihm anlegen wollte«, erläuterte Larkin. »Eine fette Schramme am Bug.«
»Das ist merkwürdig.« Kincaid rieb sich nachdenklich das Kinn und spürte schon die sprießenden Stoppeln. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie die Horizon manövriert hat, und ich hätte gesagt, dass sie eine sehr fähige Bootsführerin war.«
 
Als Gemma sich am Ende ihrer Exkursion wieder Barbridge näherte – nachdem sie Hecke und Zauntritt diesmal relativ ungeschoren hinter sich gebracht hatte -, hatte sie das Gefühl, dass die Kälte ihr bis in die Knochen drang. Sie war sich jedoch nicht sicher, wie viel von ihrem Unbehagen auf die physische Kälte zurückzuführen war und wie viel auf die Erinnerung an das klaffende Loch in der Wand des alten Viehstalls.
Nachdem der Sergeant nicht mehr da war, hatten die Männer vom Rückbautrupp nichts dagegen gehabt, dass sie sich in dem Gemäuer ein wenig umsah, solange sie nicht ihr Suchraster durcheinanderbrachte. Sie hatte sich nur so weit hineingewagt, bis sie die Stelle sehen konnte, wo Juliet die Kinderleiche gefunden hatte. Doch dieser eine Blick hatte genügt, um ihr klar zu machen, dass sie bei allem Mitgefühl für Juliet bis zu diesem Moment nicht begriffen hatte, wie zutiefst erschütternd das Erlebnis für sie gewesen sein musste.
Ob Juliets Kunden, die geplant hatten, das alte Gemäuer in ein ruhiges, gemütliches Heim umzuwandeln, sich wohl jemals wieder für das Projekt würden begeistern können? Ob Juliet selbst je wieder Freude daran finden würde, es zu vollenden – vorausgesetzt, sie bekam die Gelegenheit dazu?
Es schien ein wenig milder geworden zu sein, und der leichte Temperaturanstieg hatte die Eiskügelchen des nachmittäglichen Schauers in feine Tröpfchen verwandelt, die Gemmas Kleider tränkten und ihr Haar benetzten. Es sah so aus, als würde die Abenddämmerung den dichten Nebel der vergangenen Nacht zurückbringen.
Bei dem Gedanken spürte Gemma urplötzlich ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, und die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Sie fuhr herum, wie schon mehrmals zuvor auf ihrem Rückweg vom Viehstall, doch da war niemand auf dem Leinpfad. Sie schüttelte sich und beschleunigte ihren Schritt. Schon konnte sie die geschwungene Form der Steinbrücke sehen; in wenigen Minuten würde sie sicher im warmen Auto sitzen und über ihren krankhaften Verfolgungswahn lachen.
Doch wenige Schritte vor den Stufen, die zur Straße hinaufführten, blieb sie stehen, gefangen genommen von dem Anblick, der sich ihr durch den verwitterten Bogen der Brücke hindurch bot. Ein kleines Mädchen, kaum älter als Toby, saß ein paar Meter hinter der Brücke am Kanalufer, zusammengekauert unter einem riesigen schwarzen Regenschirm. Es hielt eine Angelrute in der Hand und saß so reglos da, dass man glauben konnte, eine Skulptur vor sich zu haben.
Ein Boot lag ganz in der Nähe, seine Farben durch den Dunst gedämpft, doch Gemma erkannte es als dasjenige, dem die Rechtsmedizinerin am Morgen einen Besuch abgestattet hatte. Neugierig geworden, beobachtete sie die Szene eine Weile, um dann langsam weiterzugehen, bis sie auf der anderen Seite unter der Brücke heraustrat.
Das Mädchen blickte auf, als es sie bemerkte. Sein blondes, lockiges Haar wirkte durch die Feuchtigkeit dunkler, doch nichts konnte das leuchtende Kornblumenblau der Augen trüben.
»Nicht gerade das beste Wetter zum Angeln, findest du nicht?«, fragte Gemma und blieb einige Schritte vor dem Mädchen stehen.
Das Kind betrachtete sie mit ernster Miene. »Papi sagt, im Regen beißen die Fische besser. Ich glaube, das ist, weil sie dann nicht mehr wissen, wo das Wasser aufhört und die Luft anfängt.« Sie war älter, als Gemma zunächst geglaubt hatte; die Lücke, die ihre ausgefallenen Milchschneidezähne hinterlassen hatten, begann sich schon wieder zu füllen.
Gemma trat ein wenig näher und ging so elegant, wie sie es eben fertig brachte, in die Hocke, bis sie auf Augenhöhe mit dem Mädchen war. »Was fängst du denn so?«
»Plötzen. Barsche. Brassen. Manchmal auch Gründlinge.«
Gemmas Miene musste ihren Ekel verraten haben, denn das Mädchen lachte plötzlich hell auf. »Das sind ganz winzige Dinger, die Gründlinge«, erklärte sie. »Aber man braucht Maden, um sie zu fangen, und das mag ich nicht so. Ich mag es auch nicht, die Fische auszunehmen, aber Papi sagt, das ist auch nichts anderes als Kartoffeln schälen oder ein Huhn zerlegen.«
»Kannst du das denn alles schon?«, fragte Gemma beeindruckt. Kit stellte sich zwar in der Küche schon recht geschickt an, aber Toby lernte gerade erst, Toast und Butterbrote zu machen, und sie hätte ihm jedenfalls niemals ein scharfes Messer anvertraut.
»Nicht so gut wie mein Bruder«, antwortete das Mädchen. »Aber ich kann super Käsemakkaroni kochen. Schmeckt viel besser als Fisch, aber Papi sagt, warum sollen wir fürs Essen bezahlen, wenn wir uns auch selbst was besorgen können.« Ihre Stimme verriet keinerlei Groll.
Jetzt begriff Gemma, dass dies nicht das Kind war, das sie kurz gesehen hatte, als es der Pathologin die Tür geöffnet hatte – das war ein Junge gewesen, vielleicht zwei oder drei Jahre älter. »Seid ihr nur zwei Geschwister – du und dein Bruder?«
Das Mädchen nickte. »Er heißt Joseph. Und ich bin Marie«, fügte sie hinzu und schenkte Gemma ein ernstes Lächeln.
»Ich heiße Gemma.« Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig auf die Fersen, in dem Bemühen, eine etwas bequemere Position zu finden, ohne dass ihr Hosenboden mit dem nassen Rasen in Berührung kam. Marie nahm eine Hand von der Angelrute und streckte sie aus. Die kleinen, schwieligen Finger fühlten sich in Gemmas Hand eiskalt an, doch dem Kind schienen Kälte und Regen nichts auszumachen.
»Wohnt ihr mit eurem Vater auf dem Boot dort, du und dein Bruder?«, fragte Gemma.
»Und unserer Mama. Aber sie liegt im Sterben«, fügte Marie in dem gleichen sachlichen Ton hinzu. »Mami und Papi wissen nicht, dass wir das wissen, aber wir wissen’s doch.«
Gemma starrte das Mädchen an, vorübergehend um eine Antwort verlegen. Schließlich fragte sie: »Ist eure Mama schon lange krank?«
»Ich weiß nicht genau.« Eine kleine Falte erschien auf Maries glatter Stirn. »Aber ich glaube, sie ist müde. Sie will uns bloß nicht alleinlassen.«
»Das kann ich verstehen«, meinte Gemma, während sich ihr Herz zusammenkrampfte. »Sie muss euch sehr lieben.«
Im Nachhinein konnte Gemma nicht sagen, welches Signal das Mädchen vorgewarnt hatte, doch plötzlich reckte Marie den Kopf unter dem Rand des Schirms hervor und spähte den Leinpfad hinauf. In der Ferne erblickte Gemma einen Mann und einen Jungen. Beide hatten die Arme voller Brennholz und kamen von der Middlewich Junction her auf das Boot zu.
»Da kommt mein Papi«, sagte Marie, während sie den Kopf wieder unter den Regenschirm zurückzog wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer verkriecht. »Du solltest jetzt lieber gehen.« Die kornblumenblauen Augen, die Gemma fixierten, waren so ruhig und so alt wie die See. »Er mag es nicht, wenn wir mit Fremden reden.«