15
Babcock hatte nach einer halbstündigen Auseinandersetzung mit dem schwer zu fassenden Heizungsmonteur gerade den Hörer aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. Seine Finger waren schon ganz steif von der lähmenden Kälte in der Küche, als er nach dem Hörer griff und losblaffte, ohne auf das Display zu schauen: »Wenn Sie nicht in dreißig Minuten hier auf der Matte stehen, verklage ich Sie auf Schmerzensgeld wegen Erfrierungen an den Fingern!«
»Äh … Sir. Ich kann in fünf Minuten bei Ihnen sein, aber was die Erfrierungen betrifft, kann ich Ihnen auch nicht helfen.« Es war Sheila Larkin, und sie klang irritiert.
Babcock stöhnte. Er klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter ein und hauchte sich auf die Finger. »’tschuldigung, Larkin. Ich versuche immer noch verzweifelt, meine verdammte Heizung reparieren zu lassen. Gibt es einen besonderen Grund, weshalb Sie mich zu dieser unchristlichen Stunde abholen wollen?« Auf seiner Küchenuhr war es Punkt acht, eine Zeit, zu der er normalerweise selbst den Dienst angetreten hätte – doch nach der dritten Nacht, die er bibbernd auf dem Sofa verbracht hatte, war er nicht gerade taufrisch.
»Hat die Leitstelle Sie nicht angerufen?«
Jetzt war er hellwach. »Nein. Was ist passiert?«
»Wieder eine Leiche am Kanal. Eine Frau.«
Babcock musste sofort an sein gestriges Gespräch mit Kincaid denken, an ihre Spekulationen über das Schicksal der Mutter des Kindes. »Begraben?«
»Nein.« Jetzt klang Larkin vollkommen verwirrt. »Sie lag neben dem Leinpfad. Sieht aus, als hätte ihr jemand mit einem stumpfen Gegenstand eins über den Schädel gezogen. Der Junge, der sie gefunden hat, konnte sie als eine gewisse Annie Lebow identifizieren, die Besitzerin eines Kanalboots. Aber es ist schon merkwürdig, dass der Tatort ganz in der Nähe des Stalls liegt, wo wir das Kind gefunden haben. Ein Stück weiter Richtung Barbridge, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Wie kommt man da hin?«, fragte er barsch. Noch während er den Schock verdaute, stellte sein Gehirn bereits logistische Überlegungen an.
»Der Constable sagt, wir müssen über Barbridge fahren. Ich bin schon fast in Nantwich, Chef. Soll ich …«
»Nein, danke. Ich fahre selbst.« Babcock war einmal bei Larkin mitgefahren und hatte beschlossen, eine Wiederholung dieser Erfahrung unter allen Umständen zu vermeiden. Sie fuhr ihren VW, als wolle sie einen neuen Rekord in Le Mans aufstellen. Wenn hier jemand das Tempolimit ignorierte, dann er mit seinem BMW und sonst niemand. »Was ist mit Rasansky?«
»Ist noch nicht aufgetaucht.« Larkin konnte ihre Befriedigung nicht ganz verbergen.
»Gut«, sagte er. »Ich rufe ihn von unterwegs an. Wir sehen uns am Tatort.« Er legte auf. Nach kurzer Überlegung beschloss er, sich die Zeit zum Umziehen zu nehmen. Mit einem Hugo-Boss-Anzug am Kanalufer herumzustapfen, war wohl nicht so das Wahre.
Eine knappe halbe Stunde später, wesentlich passender in Jeans, Stiefel und einen mit Fleece gefütterten Ledermantel gekleidet, bog er mit seinem schwarzen BMW auf die Dorfstraße von Barbridge ab und bremste auf Schrittgeschwindigkeit herunter, um nach einem Parkplatz Ausschau zu halten. Die Straße war auf beiden Seiten mit Streifenwagen und den Autos der bereits zahlreich erschienenen Schaulustigen zugeparkt, ebenso die Parkbucht nahe der kleinen gewölbten Brücke. Er entdeckte Larkins grünen Jetta, rotzfrech mit zwei Rädern auf dem Rasen eines Anwohners geparkt, fuhr aber weiter und fand einen Platz hinter dem Pub.
Immerhin schien es ein halbwegs passabler Tag zu werden, dachte er, als er den Wagen abschloss und über die Straße zurückging. Falls die blasse Sonne sich halten könnte. Es gab kaum etwas Unangenehmeres, als bei Regen oder Schnee einen Tatort sichern zu müssen.
Das Pub hatte noch nicht geöffnet; mit seinen verriegelten Türen und Fensterläden wirkte es tot und verlassen, wie solche Lokale es immer taten, auch wenn sie nur für ein paar Stunden geschlossen hatten. Das galt jedoch nicht für die anderen Häuser in der Straße, deren Bewohner vor ihren Haustüren und in ihren handtuchgroßen Vorgärten standen, viele noch in Morgenmantel und Schlappen, und neugierig den Aufmarsch der Gesetzeshüter verfolgten.
Zweifellos hatte schon mindestens einer dieser besorgten Anwohner die Presse informiert – es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Geier anrückten. Babcock blieb stehen, um ein paar Worte mit dem Constable zu wechseln, der den Zugang zum Spielplatz der Gaststätte und der Kanalbrücke bewachte. Er wies ihn an, einen Streifenwagen an der Abzweigung von der Hauptstraße zu postieren und den Zufahrtsweg zum Pub zu sperren. Zum Glück endete der Weg rund fünfzig Meter hinter dem Pub in einer Senke. Von dort gelangte man über eine steile Böschung auf den Leinpfad, der Barbridge mit der Middlewich Junction verband.
Als Babcock sich umdrehte, sah er Larkin über die Brücke kommen. Sie hatte den Arm um die Schultern eines Jungen gelegt, der einen zottigen braunen Terrier trug. Es hätte ein nettes Familienbild sein können, dachte Babcock, aber nur, bis er das Gesicht des Jungen aus der Nähe gesehen hatte. Ein gut aussehender Bursche, vielleicht zwölf oder dreizehn, schlank und fast so groß wie Larkin, mit zerwühlten blonden Haaren. Aber seine Haut zeigte die beinahe durchscheinende Blässe des Schocks, und seine Pupillen waren so geweitet, dass Babcock die Farbe seiner Augen nicht erkennen konnte. Irgendetwas an dem Jungen ließ die Rädchen in Babcocks Hinterkopf rattern.
»Chef, das ist Kit McClellan. Er hat das Op… die tote Frau gefunden.«
Babcock sah, dass der Junge mit den Zähnen klapperte. »Sheila, haben Sie eine Rettungsdecke im Kofferraum?«
»Ich hole sie.« Als Larkin loszog, fiel Babcock auf, dass sie sich ausnahmsweise dem Wetter entsprechend gekleidet hatte, mit Hose und Stiefeln. Er musste sich eingestehen, dass er sich klammheimlich auf den Anblick Larkins gefreut hatte, wie sie in einem ihrer superkurzen Röcke über einen Zauntritt kletterte.
»Jetzt sorgen wir erst mal dafür, dass du nicht mehr frierst«, sagte er zu dem Jungen und widerstand der Versuchung, ihm den Arm um die Schultern zu legen. Er war einfach nicht der Typ, der Kinder – oder Zeugen – knuddelte, wenngleich er bemüht war, nett und freundlich zu sein. Und geduldig, auch wenn das ihm schon schwerer fiel. Wie zum Beispiel jetzt: Er konnte es kaum erwarten, die Leiche am Leinpfad in Augenschein zu nehmen, doch er wusste, dass er seine Neugier noch einen Moment im Zaum halten musste. Seine erste Pflicht war es, dem Jungen zu helfen, sich an alle Details zu erinnern, die wichtig sein könnten. Er berührte leicht Kits Schulter und führte ihn hinunter zur Brücke und dem Rasenstück unterhalb des Spielplatzes.
»Brauchst du eine Leine für deinen Hund?«, fragte er, als Larkin mit der silberfarbenen, zu einem kleinen Quadrat zusammengelegten Decke zurückkam. Sie entfaltete sie und legte sie dem Jungen wie ein Cape um die Schultern, der nun gezwungen war, den Hund mit einer Hand loszulassen, um die Ecken der Decke festzuhalten.
»Nein … ich … Sie läuft schon nicht weg.« Der Junge setzte den Hund auf den Rasen, sagte »Platz, Tess!«, und machte ein Handzeichen. Die Terrierhündin legte sich sofort hin, doch ihre leuchtenden Knopfaugen fixierten immer noch besorgt ihr Herrchen.
»Also, du bist heute Morgen mit deinem Hund spazieren gegangen?«, fragte Babcock. Dass ein Junge in seinem Alter an einem Ferientag freiwillig so früh auf den Beinen war, kam ihm reichlich merkwürdig vor.
Der Junge nickte und presste die Lippen zusammen, um seine immer noch klappernden Zähne unter Kontrolle zu bekommen.
»Warum erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?«, versuchte Babcock ihn behutsam zum Reden zu bringen, und er fing einen überraschten Blick von Larkin auf. Traute sie ihm etwa nicht zu, ein traumatisiertes Kind zu vernehmen? »Ich bin übrigens Detective Superintendent Babcock.«
»Ich habe das Boot gesehen«, sagte der Junge. »Ich habe es gleich erkannt – die Horizon -, und ich dachte, ich würde vielleicht Annie – Miss Lebow – sehen. Aber als ich näher kam, lag da etwas auf dem Weg, und dann habe ich gesehen …« Er brach ab und schluckte krampfhaft. »Ich wusste, dass sie tot war, aber ich … ich bin zu ihr hingegangen, ich musste es genau wissen. Dann hat Tess mich eingeholt, und ich wollte nicht, dass sie den Tatort kontaminierte. Deshalb habe ich sie auf den Arm genommen.
Ein Stück weiter war ein Bauernhaus, aber es war auf der anderen Seite des Kanals, und ich wusste nicht, wie ich dort hinkommen sollte, also bin ich hierher zurückgelaufen. Das Pub war geschlossen, deshalb habe ich bei der Dame dort an die Tür geklopft.« Er deutete auf eine kräftige Frau, die sie von der anderen Straßenseite aus beobachtete. Sie trug einen Mantel über ihrem Pyjama und rosa Plüschpantoffeln. »Ich habe sie gebeten, die Polizei anzurufen. Und als der Constable kam, habe ich ihn zum Tatort geführt.«
Diese Jugendlichen von heute glotzten anscheinend den ganzen Tag Krimis im Fernsehen, dachte Babcock, der überrascht registriert hatte, wie locker dem Jungen der Ausdruck »den Tatort kontaminierte« über die Lippen gegangen war. Aber er hatte genau richtig gehandelt, und er hatte es verdient, das auch zu hören. »Gut gemacht, Junge. Hast du sonst noch etwas gesehen? Irgendwelche Leute auf dem Leinpfad?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Die verstorbene Frau … du sagst, du hast sie wiedererkannt? Hast du sie gut gekannt?«
»Nein. Mein Vater und ich haben sie vorgestern kennengelernt, als wir am Kanal spazieren gingen.« Er schluckte wieder und blinzelte ein paar Tränen weg. Babcock wandte den Blick ab und wartete, bis der Junge mit einem leisen Zittern in der Stimme fortfuhr: »Sie war nett. Sie hat uns zu einer Tasse Tee an Bord eingeladen, und sie sagte, wenn wir wiederkämen, würde sie mir zeigen, wie man das Boot steuert.« Die kleine Terrierhündin winselte; sie schien zu spüren, dass etwas ihr Herrchen bedrückte, und robbte ein Stück auf ihn zu. Der Junge ging in die Hocke, um sie zu streicheln, und blickte durch eine blonde Haarsträhne zu Babcock auf. »Darf ich jetzt meinen Vater anrufen? Sie machen sich bestimmt schon Sorgen um mich – ich habe ihnen nur einen Zettel hingelegt, dass ich mit Tess spazieren bin, und das ist schon ewig her.«
»Wo wohnen deine Eltern?«, fragte Babcock. Er fragte sich, ob der Vater wohl mehr Informationen über das Opfer beisteuern könnte.
»In London. Wir wohnen in London. Wir verbringen bloß die Weihnachtsferien bei meinen Großeltern. Ich wollte vom Haus der Dame aus anrufen, aber mir ist die Telefonnummer nicht eingefallen, und mein Vater ist nicht an sein Handy gegangen.«
»Ich fürchte, du musst noch einen Moment hierbleiben«, sagte Babcock. Er würde sicher noch die eine oder andere Frage an den Jungen haben, nachdem er das Opfer gesehen hatte, und sie würden seine Aussage zu Protokoll nehmen müssen. »Aber wir rufen deine Familie an, und dann kann dein Vater herkommen und mit dir warten. Wie heißen denn deine Großeltern?«
»Hugh und Rosemary Kincaid.« Der Junge sprach die Namen nach kurzem Zögern betont deutlich aus, als seien sie ihm neu.
Die Ähnlichkeit, über die Babcock während des ganzen Gesprächs gerätselt hatte, bekam auf einmal klarere Konturen. »Ach du liebe Zeit«, sagte er, als ihm der Zusammenhang dämmerte. »Du bist Duncans Sohn.«
 
Gemma sah, wie Kincaid in dem Moment nach seiner Armbanduhr schielte, als sie zur Küchenuhr aufschaute. Sie hatten gerade ein mächtiges Frühstück mit Eiern, Würstchen, Tomaten und Toast verdrückt – nur gut, dass sie so etwas zu Hause nicht jeden Morgen essen musste, sonst hätte sie bald die Figur eines Wals und ihre Arterien die Konsistenz von Tran. Jetzt waren sie schon bei der zweiten Tasse Kaffee, aber von Kit und Tess war immer noch nichts zu sehen. Als sie aus ihrem Zimmer gekommen waren, hatten sie seinen Zettel auf dem Boden vor seiner Tür gefunden, aber sie wussten schließlich nicht, ob er erst ein paar Minuten vorher aufgebrochen war oder schon viel früher. Allmählich bedauerte sie, dass sie sich noch dieses lauschige Stündchen im Bett gegönnt hatten. Das warme Nachthemd, mit dem Kincaid sie am Abend so gnadenlos aufgezogen hatte, war bald auf dem Boden gelandet. »Was ist, wenn jemand reinkommt?«, hatte sie zunächst protestiert, obwohl sie schon die kleinen Jungen gehört hatten, die wie zwei wild gewordene Elefanten die Treppe hinuntergepoltert waren.
Kincaid hatte nur gelacht, seine Lippen ganz nah an ihrem Hals. »Na und? Meinst du, wir kriegen Ärger?« Er löste sich von ihr, betrachtete sie eingehend und fügte nachdenklich hinzu: »Außerdem mag ich es, wenn du rot wirst. Das ist nämlich eigentlich gar kein Rot, sondern ein ganz bezauberndes Pink, und es breitet sich von hier« – er berührte ihre Wange -»und hier« – er fuhr mit dem Finger über ihren Hals – »bis hierher aus.« Der Finger strich zart über ihr Schlüsselbein und umkreiste ihre Brüste. »Ich frage mich, wie tief es noch reicht. Soll ich mal nachschauen?« Seine Lippen folgten dem Weg, den sein Finger vorgezeichnet hatte, und es dauerte nicht lange, da hatte Gemma ihre Verlegenheit völlig vergessen.
Hinterher hatte sie dagelegen, ihre Wange in seine Schulterbeuge geschmiegt, und seine warme Haut auf der ihren gespürt, während er ihr Haar streichelte. Die weißen Vorhänge waren immer heller geworden, bis die grünen Wände des Zimmers strahlten wie von innen erleuchtet. Sie mochte dieses Zimmer, das früher Juliet gehört hatte, dachte sie schläfrig. Sie mochte dieses Haus, mit seiner leicht verschlissenen, farbenfrohen Gemütlichkeit, und diese Familie, die sie und ihre unkonventionelle Beziehung mit ihrem Sohn ohne Einschränkung zu akzeptieren schien.
Aber dieser Gedanke hatte sie an Juliets Probleme erinnert, an Lally und an das tote Baby in der Wand, und als dann der Kaffeeduft von unten heraufwehte, hatte eine unbestimmte Unruhe sie erfasst.
»Wir hätten ihm eine Armbanduhr zu Weihnachten schenken sollen«, meinte Kincaid, als sie in die Küche kamen. »Aber er will ja unbedingt eine, die alles kann außer singen und tanzen, also haben wir uns gedacht, wir warten damit noch bis zu seinem Geburtstag.« Er sah wieder auf seine eigene Uhr, während er seiner Mutter eine Kaffeetasse aus der Hand nahm. »Ich werde mal …« Er brach ab, als sein Handy trillerte, zog es aus der Gürteltasche und klappte es ungeduldig auf.
»Ronnie«, sagte er. »Kann ich dich zurückrufen …?«
Gemma hörte Ronnie Babcocks Stimme, die schwach und blechern aus dem Lautsprecher des Telefons drang, und dann sah sie, wie Kincaids Züge erstarrten und seine Augen sich vor Schreck weiteten. Sie stand da, die Hände um die Tischkante geklammert, und ihr Herz krampfte sich zusammen. »Kit …«
Kincaid schüttelte den Kopf und hob die Hand, während er weiter konzentriert zuhörte. »Ich bin in fünf Minuten da«, sagte er schließlich und beendete das Gespräch. »Kit geht es gut«, beruhigte er sie. »Aber er hat eine Leiche gefunden. Annie Lebow, die Frau, die wir auf ihrem Kanalboot besucht haben. Sie wurde ermordet.«
»O Gott.« Gemma sah die Bestürzung in seiner Miene, und sie empfand Mitleid mit ihm, während sie sich zugleich große Sorgen um Kit machte. »Das ist ja furchtbar. Wo ist das passiert? Wo ist Kit?«
»Ronnie sagt, Kit hat sie auf dem Leinpfad neben ihrem Boot gefunden, gleich unterhalb von Barbridge. Dort ist Kit jetzt, in Barbridge.« Er war schon aufgesprungen und eilte in Richtung Tür, um seine Jacke zu holen. »Ich komme wieder, sobald …«
»Wag es ja nicht …« Gemma zitterte noch von dem Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war, doch nun verdrängte die Wut ihre Angst. Seit ihrer Ankunft hatte er sie permanent in den Hintergrund gedrängt, hatte sie behandelt, als sei sie zu nichts anderem fähig, als sich um die Kinder zu kümmern – und sie hatte ihn gewähren lassen, weil die neue Umgebung sie unsicher gemacht hatte. Aber jetzt war endgültig Schluss damit. »Denk ja nicht, du kannst mich hier schmoren lassen, als wäre ich dein kleines Heimchen am Herd«, fauchte sie. »Ich komme mit, und wehe, du verlierst auch nur ein Wort darüber.«
Kincaid glotzte sie mit offenem Mund an, als wäre sie ein Gespenst. Nach einer Weile blinzelte er und sagte: »Natürlich solltest du mitkommen. Ich bin ein Idiot. Es tut mir leid, Schatz. Passt du so lange auf Toby auf, Mama?«
»Natürlich«, antwortete Rosemary. »Fahrt nur. Wir kommen schon klar.« Ihr Gesicht war von Sorge gezeichnet; doch als Gemma sich mit einer raschen Umarmung bei ihr bedankte, ehe sie Kincaid nach draußen folgte, flüsterte Rosemary ihr noch ins Ohr: »Gut gemacht, Liebes.«
 
Juliet wachte langsam auf, das Licht bohrte sich in ihren Schädel wie ein Skalpell. Doch was sie sah, bevor sie die Augen wieder zukniff, war genug, um die Erinnerung schlagartig zurückzubringen. Sie wusste genau, wo sie war und was sie hier tat.
Sie lag auf dem völlig ausgeleierten alten Sofa im Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie hatte gestern Abend viel zu viel Whisky getrunken. Sie hatte beschlossen, ihren Mann zu verlassen. Und neben ihr lag ihre Tochter und schlief fest. Das Sofa hing in der Mitte durch, und Lally war an sie herangerutscht, ein beruhigendes Gewicht an ihrer Hüfte.
Eine Welle der Übelkeit erfasste Juliet, und sie legte sich vorsichtig wieder auf den Rücken. In dieser Haltung verharrte sie reglos, atmete bewusst flach und schluckte, um den Druck in ihrer Kehle zu lindern. Nach einer Weile ließ das unangenehme Gefühl nach, und sie sank wieder in das wohlige Vergessen des Schlafs.
Als sie erneute aufwachte, war ihr Kopf schon klarer, wenngleich er immer noch höllisch wehtat und ihr Mund sich anfühlte wie die Sahara. Neben sich hörte sie Lallys leise, regelmäßige Atemzüge. Diesmal drehte sie sich ganz, ganz vorsichtig auf die Seite, ehe sie die Augen aufschlug und ins Gesicht ihrer schlafenden Tochter blickte.
Lally lag auf dem Rücken, die Bettdecke mit beiden Händen unters Kinn gezogen, und die dunklen Fächer ihrer Wimpern warfen Schatten auf ihre blassen Wangen. Schon als Kind hatte sie immer in dieser Haltung geschlafen, als müsse sie sich selbst in ihren Träumen noch schützen, während Sam mit Armen und Beinen gerudert hatte wie ein Schwimmer.
Mein Gott, dachte Juliet, wie lange ist es her, dass ich meiner Tochter zuletzt beim Schlafen zugesehen habe? Und wann war ihr kleines Mädchen eigentlich so schön geworden? Sie streckte die Hand aus und fuhr zart mit dem Finger die Rundung von Lallys Wange nach. Bei der Berührung begannen die Lider des Mädchens zu zucken, und für einen kurzen Moment formten sich ihre Lippen zu einem zufriedenen Lächeln. Sie schmiegte ihr Gesicht an die Hand ihrer Mutter, wie ein Säugling, der Körperkontakt sucht. Dann schlug sie die Augen auf, und Juliet sah, wie sie sich mit Bewusstsein füllten, spürte, wie ihre Tochter erstarrte und ihrer Berührung auswich. Ganz langsam und bewusst drehte Lally ihrer Mutter den Rücken zu und rückte an die Kante des Sofas, und Juliet glaubte, ihr Herz müsse zerspringen.
 
Er hatte sich nicht vorstellen können, wie das Blut riechen würde, wie samtig es sich an seinen Fingern anfühlen würde. Er hatte nicht ahnen können, dass die Erinnerung ihn wach halten würde, dass er sich im Bett herumwälzen würde, geplagt von einem merkwürdigen, nervösen Unbehagen, wie ein lästiges Jucken tief in seinen Adern. Er hatte ein rauschhaftes Hochgefühl erwartet, nicht diese nur halb eingestandene Angst, dass die Dinge ihm rapide aus den Händen glitten, dass alles um ihn zusammenzustürzen drohte.
Doch nun, da die Bilder zurückkehrten, machte sich tief in seinem Innern ein großes Gefühl der Zufriedenheit breit.