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Montag, 16:25 Uhr, Engels-Garten

Niemand beachtete den Mittvierziger im leichten Sommeranzug, der es sich auf einer der Holzbänke im Park vor dem Engels-Haus in Barmen gemütlich gemacht hatte. Eine Gruppe Jugendlicher zog lachend an ihm vorbei, ohne von Peer Finke Notiz zu nehmen.

Thea Gatz hatte sich verspätet. Mit schnellen Schritten eilte sie zu der Bank, auf der Peer in der Nachmittagssonne wartete. Wenige Meter entfernt, auf der B7, zog der dichte Berufsverkehr in beiden Richtungen vorbei. Die Schieferfassade des Engels-Hauses glänzte in der Sonne. Nur wenige Wuppertaler wussten, dass Friedrich Engels gar nicht in dem 1775 im typisch bergischen Stil von Johann Caspar Engels gebauten Haus geboren wurde, sondern in einem gut hundert Meter entfernten Nachbarhaus, das aber bei einem Bombenangriff 1943 zerstört worden war.

»Entschuldigung, ich bin spät dran.« Thea war atemlos, als sie neben ihm auf die Bank sank.

Peer hatte den Blick auf die kunstvoll angelegten Beete gerichtet und lächelte. »Nicht schlimm«, sagte er, obwohl er Unpünktlichkeit nicht ausstehen konnte. Er wandte den Blick zu der gut drei Meter hohen weißen Marmorskulptur. Der Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka hatte das prägnante Kunstwerk 1981 geschaffen.

»Eine Kollegin hat das Ende ihrer Pause verpasst, und ich konnte nicht früher weg.« Thea Gatz lächelte und senkte den Blick.

»Kein Problem, wirklich nicht.« Peer hatte das Jackett ausgezogen und über die Lehne der Bank gehängt. »Wollen wir nicht du sagen?«

»Gern. Ich bin Thea.« Sie reichten sich die Hände.

»Peer. Also, schieß los: Was bedrückt dich?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Sie wurde ernst, und ein düsterer Schatten legte sich auf ihr rundliches Gesicht.

»Ich habe Zeit. Und wenn es deine Pause nicht überschreitet und du keinen Ärger bekommst, habe ich auch viel Zeit.« Peer lächelte.

»Woher wusstest du, dass ich einen Schlüssel von Peggys Z3 habe?«

»Berufsgeheimnis.«

»Also weiß Peggy nichts davon?«

»Kein Kommentar.« Peer machte dicht. Er war zunächst einmal darauf gespannt, was Thea ihm erzählen würde.

»Ich habe tatsächlich einen Wagenschlüssel von Peggy bekommen. Und ich weiß, dass der Wagen seit der Nacht, in der Kötter ums Leben kam, von der Polizei gesucht wird.«

»Was man so suchen nennt.«

»Heute Morgen war ich an Peggys Haus in Ronsdorf.«

»Und?«

»Der BMW ist weg, obwohl ich ihn dort abgestellt hatte.« Sie rang mit den feingliedrigen Händen und drehte den Ehering an ihrer rechten Hand. Sie blickte Peer aus ihren großen braunen Augen an. »Was denkst du?«

»Hatte noch jemand anders einen Schlüssel?« Peer schlug die Beine übereinander und schaute Thea aufmerksam an.

»Auf gar keinen Fall.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Wagen war ihr Heiligtum.«

»Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurde der Wagen vor ihrem Haus gestohlen, oder Peggy ist oder war in der Stadt, und sie hat den Wagen selbst weggefahren.« Peer schluckte, denn er wusste mehr. Die Identität der Toten, die beim Brand des Jaguars eines bekannten Wuppertaler Unternehmers ums Leben gekommen war, stand inzwischen fest. Er hatte seine Kontakte zur Rechtsmedizin in Düsseldorf genutzt und war an Informationen gekommen, die er lieber nicht bekommen hätte. Peggy Bach war tot. Sie war in den Flammen des Fahrzeugs umgekommen, ob freiwillig oder unfreiwillig. Er hatte schnell seine Schlüsse gezogen. Grotejohann hatte Peggy den Kopf verdreht. Sie hatte sich von ihm abhängig gemacht, vielleicht war sie ihm sogar hörig gewesen. Das erklärte auch ihre plötzliche Wesensänderung. Jetzt war sie tot. Tief in Peer krampfte sich etwas zusammen, als er an die gemeinsame Zeit mit Peggy Bach dachte. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander verlebt, hatten sich vor einer Ewigkeit in einer Tanzschule kennen- und lieben gelernt. So sehr war ihre gegenseitige Sympathie gewachsen, dass sie sogar Heiratspläne geschmiedet hatten.   

Plötzlich war das alles vorbei. Peer spürte, wie er einen Klumpen im Hals bekam, und räusperte sich.

Theas Stimme riss ihn aus seinen trüben Gedanken. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Allerdings ist sie in letzter Zeit sehr seltsam geworden. Peggy war zuletzt sehr verschlossen und schien in einer eigenen, fremden Welt zu leben. Fast so, als würde sie einer geheimnisvollen Sekte angehören.«

»Den Eindruck hatte ich auch.« Peer kniff die Lippen zusammen. Plötzlich dachte er an den Selbstmord von Jessica Wittwer. Tatsächlich hatte er sich ein wenig in die Spediteursgattin verliebt. Ein wenig mehr, als ihm selbst lieb gewesen war. Die Nachricht vom Tod dieser jungen Frau hatte ihn zutiefst getroffen. Peer war an einem Punkt angekommen, wo er nicht mehr wusste, ob er in diesem Leben jemals mit einer Frau glücklich sein würde. Nachdenklich betrachtete er Thea Gatz von der Seite. Sie hatte nichts -ihr Mann war arbeitslos, sie waren hoch verschuldet. Ihre Ehe lahmte, und trotzdem: Sie hatte jemanden an ihrer Seite, den sie liebte und der sie liebte. Was brauchte man im Leben mehr? War es nicht allein die Liebe, die zählt?        

Peer seufzte. Und obwohl Thea Gatz eine Frau von etwas untersetzter Statur war, war sie sehr hübsch. Ihr Gesicht hatte feine Grübchen, wenn sie lachte, und trotzdem war sie eigentlich nicht sein Typ. Sie passte nicht in sein »Beuteschema«, wie Peer es immer nannte. »Peggy ist tot.«

Theas Kopf ruckte zu ihm herum. »Bitte?«

»Peggy ist tot.« Peer nickte wie in Zeitlupe. »Du hast doch bestimmt von dem PKW gehört, der vor einigen Stunden in Elberfeld genau unter einer Schwebebahn ausgebrannt ist?«

»Ja.« Theas Stimme war nur noch ein Hauch und wurde vom Straßenlärm der nahen Friedrich-Engels-Allee beinahe übertönt. »Die Fahrerin, die im Wagen verbrannt ist, war Peggy. Und die Leute in der Schwebebahn hatten verdammtes Glück. Nur die Bahn wurde beschädigt.«

»Peggy?« Thea schüttelte den Kopf. »Aber das ist … das ist unmöglich! Niemals hätte sie auch nur im Traum daran gedacht, sich …« Sie brach ab und barg das Gesicht in den Händen. Nur am Zucken ihrer Schultern sah Peer, dass sie stumm weinte. Dann blickte sie ihn aus tränenverschleiertem Blick an. »Aber warum nur?«

»Das weiß ich offen gestanden auch nicht.«

»Und wo ist ihr Wagen? Stehe ich unter Mordverdacht? Ich weiß bald gar nichts mehr.« Sie schluchzte.

»Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen, ich meine wegen des BMW«, dachte Peer laut nach. Hatte Peggy das Cabrio selbst verschwinden lassen, bevor sie …?

»Du willst die Polizei anrufen?« Sie wischte sich die Tränen fort. Peer nickte. »Und bei der Gelegenheit kannst du der Polizei auch gleich erzählen, warum du in Kötters Todesnacht mit Peggys Wagen am Johannisberg aufgetaucht bist.«

»Das wissen die schon längst.«

»Wie bitte?«

»Das wissen die schon längst.« Jetzt lächelte sie. »Zuerst hat man mich für die Mörderin von Karlheinz Kötter gehalten. Aber ich habe meinen Vater nicht umbringen lassen. Kommissar Ulbricht - ich weiß nicht, ob du ihn kennst - hat mich schließlich laufen lassen. Er scheint der einzige vernünftige Mensch bei der Kripo zu sein.« Peer nickte und dachte angestrengt nach. Dass es sich bei Thea um Kötters Tochter handelte, hatte er nicht gewusst.