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Montag, 10:10 Uhr, Schwebebahnzug Nr. 4

Hans Zoch lächelte nachdenklich, als er den vollbesetzten Schwebebahnzug aus der Station Kluse in Fahrtrichtung Barmen steuerte. Gestern war endlich sein Rentenbescheid gekommen. Dann würde er den Lebensabend mit seiner Frau genießen, fernab von dem Stress, den sein Beruf mit sich brachte. Die Triebwerke auf dem Dach der Bahn summten leise, als der Zug Fahrt aufnahm. Kaum, dass er die Station hinter sich gelassen hatte, erlosch das Bild auf dem Farbmonitor an seiner rechten Seite. Er drückte den Fahrhebel vor und beschleunigte die Bahn. Links lag jetzt das CineMaxx, direkt daneben das Wuppertaler Schauspielhaus und die Disco Pavillon. Zoch dachte an seine wilde Zeit. Damals war der Pavillon noch ein BMW-Autohaus gewesen. Das Autohaus war längst an den südlichen Stadtrand abgewandert, und ein findiger Unternehmer hatte in dem leer stehenden Gebäude ein Bistro und eine Discothek eröffnet. Jetzt freute er sich auf einen geruhsamen Feierabend mit Hildchen, seiner Frau. Vielleicht würde er am kommenden Wochenende mit ihr verreisen. Sie liebte das Meer, und ein paar Mal im Jahr überraschte er sie mit einem Ausflug an die Nordsee. Nicht lange, nur ein paar Tage, denn so viel verdiente er als Schwebebahnfahrer nicht. Er freute sich auf den Ruhestand, den er Ende des Jahres beginnen würde. Dann wollten sie sich ein kleines Wohnmobil anschaffen, um damit um die Welt zu fahren. Die Zeit, in der er seine Stadt aus der »zweiten Ebene« betrachtete, gehörte bald der Vergangenheit an. Mit einem fast wehmütigen Lächeln auf den Lippen dachte der ergraute Schwebebahnfahrer an die ganzen Jahre, die er erst mit dem Linienbus, dann später mit der Straßen- und schließlich mit der Schwebebahn verbracht hatte. Immer war er unterwegs gewesen, oft Tag und Nacht, manchmal auch am Wochenende. Viel hatte er in dieser Zeit erlebt. Einmal hatte er sogar einen Toten in seiner Schwebebahn bis zur Endstaion Vohwinkel gefahren, ohne es zu bemerken. Er liebte seinen Beruf. Trotzdem freute sich Zoch nach all den Jahren auf seine wohlverdiente Rente.

Nach der langgezogenen Linkskurve kam die Bundesallee in sein Blickfeld. An dieser Stelle überquerte die Bahn die vierspurig ausgebaute Straße. Der Zug war knapp vierzig Stundenkilometer schnell. Gerade als er das Tempo des orange-blauen Lindwurms erhöhen wollte, erkannte er unten auf der Straße unheilvollen, dichten schwarzen Rauch. Unwillkürlich verlangsamte Zoch die Fahrt. Er wollte sehen, was da unten los war. Ein Fahrzeug stand auf der mittleren Fahrspur in Richtung Elberfeld und schien zu brennen. »Scheiße«, kam es über Zochs Lippen. Der Schwebebahnfahrer schätzte, dass die Bahn an dieser Stelle rund fünf Meter über der Straße fuhr. Zoch wurde klar, dass er die Schwebebahn genau durch den tiefschwarzen Qualm steuern musste. Zum Bremsen war es bereits zu spät. Im gleichen Augenblick kam in der Schwebebahn Unruhe auf. Die rund einhundert Fahrgäste hatten auch bemerkt, was auf der Straße los war. Rufe gellten durch die Bahn. Jetzt umhüllte die schwarze Rauchsäule den Zug. Es war, als würde er durch eine dichte schwarze Nebelwand fahren. Durch das schräggestellte Fenster an seiner Seite roch er den beißenden Brandgeruch. Zoch drückte den Fahrthebel nach vorn. Im gleichen Augenblick sah er einen grellen Lichtblitz, der ihn sekundenlang blendete. Flammen schlugen vor die Fenster, und ein dumpfer Schlag traf die Schwebebahn. Das ohrenbetäubende Krachen einer Explosion übertönte alle anderen Geräusche im Zug. Glas splitterte. Der brennende Wagen schien genau unter ihm explodiert zu sein! Zoch hatte die Druckwelle bis in die Bahn gespürt. Ein Ruck ging durch den vierundzwanzig Meter langen Zug. Irgendetwas an der Schwebebahn knallte, dann hob sich der Wagen kurz im Gleis an, um sofort wieder hart auf die Schiene zu krachen. War das Fahrgestell beschädigt oder gar abgerissen? So wie damals, am 12. April 1999? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Zoch erhob sich aus dem Fahrersitz und blickte sich um. Die Frontscheibe der Bahn war gerissen. Hinter ihm brach Tumult aus. Fahrgäste schrien wild durcheinander. Das Weinen eines Kindes mischte sich unter das Kreischen einer alten Frau. Panik kam auf.

Zoch versuchte alles auszublenden. Dann endlich stand die Schwebebahn, kaum dass sie die B7 überquert hatte. Sanft pendelte der Zug am grünen Gerüst. Der grauhaarige Schwebebahnfahrer fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. Seine Augen brannten. Beißender Rauch erfüllte die Schwebebahn. Zoch begann zu husten, als er sich im Fahrerstand erhob und die Tür zum Fahrgastraum öffnete. Jetzt musste er sich zunächst einmal um die Fahrgäste kümmern. Vielleicht gab es Verletzte. Glücklicherweise zog der giftige Brandgeruch jetzt hinter der Schwebebahn in den blauen Sommerhimmel über Wuppertal. Solange er nicht wusste, was genau passiert war, würde er keinen Meter weiterfahren. Er hatte nicht vor, Menschenleben im sichersten Verkehrsmittel der Welt zu gefährden.