Montag, 11:05 Uhr, Mollenkotten
»Hier ist es.« Heinrichs deutete auf das schmucke Einfamilienhaus am Waldrand. Von der Straße Mollenkotten waren sie talwärts in den Nächstebrecker Busch abgebogen. Nachdem die Straße über die A46 geführt hatte, verengte sich die Fahrspur. Auf einer Wiese weideten Kühe und blickten verwundert auf, als sie den unauffällig lackierten Opel bemerkten. Links gab es einen Wald. Eine fast ländliche Wohngegend, kaum zu glauben, dass sie vom Industriegebiet Nächstebreck keine zwei Autominuten entfernt waren. Dann standen sie vor einem Einfamilienhaus. Eine alte Frau war im Garten damit beschäftigt, ihre üppig blühenden Rosen zu beschneiden. Sie blickte neugierig von ihrer Arbeit auf, als Ulbricht den Dienstwagen direkt vor dem Zaun zum Stehen brachte und den Motor abschaltete. »Die Adresse stimmt zumindest. Wie auf dem Dorf hier, was?«
»Nächstebreck halt. Fast schon nicht mehr Wuppertal.« Ulbricht zog den Zündschlüssel ab. »Am nordöstlichsten Zipfel sozusagen, aber immer noch unser Einsatzgebiet.«
»Dann auf in den Kampf.« Heinrichs grinste blöde, als er die Beifahrertür öffnete. Er trug ein albernes T-Shirt und eine für Ulbrichts Geschmack seltsam geschnittene Jeans mit übergroßen Taschen am Hintern. Das Rauschen der nahen Autobahn mischte sich unter das Muhen der Kühe. Seite an Seite traten die Männer an das Gartentor. Die alte Dame wischte sich ihre Finger an der dunkelgrünen Gartenschürze ab und trat näher. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie Frau Meves? Helga Meves?«, fragte Heinrichs.
Die alte Dame nickte misstrauisch. Ein Schatten legte sich auf ihr faltiges Gesicht. »Ja, worum geht es?« Sie strich sich durch das kurze, silbergraue Haar. Ihr Blick huschte unstet zwischen Heinrichs und Ulbricht hin und her.
Ulbricht versuchte ein zaghaftes Lächeln und zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Ulbricht mein Name.« Er deutete mit dem rechten Daumen auf Heinrichs. »Das ist mein Kollege Heinrichs.«
Helga Meves starrte auf den Dienstausweis. »Kriminalpolizei? Ich habe nichts verbrochen. Was wollen Sie von mir?« Ihre Haut war plötzlich aschfahl.
»Dürften wir vielleicht reinkommen?«
»Gern.« Sie legte die Rosenschere fort und öffnete das Holztor. Ulbricht trat, von seinem Assistenten gefolgt, ein. Er blickte sich um. »Schön haben Sie es hier. Richtig ländlich.«
Heinrichs blickte an der Fassade des Hauses hinauf. »Ihr Haus?«
»Ja. Und abbezahlt.«
»Nett.«
Sie ging nicht darauf ein. Ohne ein weiteres Wort führte sie die Besucher durch den Garten hinters Haus. Hier gab es eine Terrasse mit Waschbetonplatten. Helga Meves deutete auf die Sitzecke, die aus einer einfachen Plastikbank, klapprigen Stühlen und einem Tisch bestand. Auf der Wachstuch-Tischdecke die neueste Ausgabe vom »Goldenen Blatt« und ein Bierglas mit Goldrand, in dem sich abgeschnittene Blumen aus dem Garten befanden. »Nehmen Sie Platz.«
Ulbricht zog sich einen Stuhl zurecht, Heinrichs setzte sich auf die Bank. »Nett haben Sie es hier, Frau Meves«, versuchte Heinrichs einen zweiten Anlauf. Die Vögel zwischerten, und man konnte kaum glauben, dass diese Idylle noch zu Wuppertal gehörte.
»Ich liebe die Ruhe hier draußen. Das ist das Schöne an Wuppertal.« Jetzt lächelte sie nachdenklich. »Eingebettet ins Tal der Wupper, ist unsere Stadt doch überall von einem herrlichen Grün umgeben. Die Hügel am Stadtrand mit den Wäldern und Wiesen sind nicht selbstverständlich für eine Stadt dieser Größenordnung.«
»Es wurde viel gebaut in den letzten Jahrzehnten.« Ulbricht lächelte. »Ist Ihr Haus auch direkt nach dem Krieg entstanden?«
»Was meinen Sie?«
»Ich meine, dass ein Bauunternehmer hier immer volle Auftragsbücher hat - könnte ich mir zumindest vorstellen.«
Sie wurde ernst. »Was kann ich für Sie tun?«
Heinrichs räusperte sich. »Es geht um Ihre Tochter Thea.«
»Ist was mit ihr?« Helga Meves schlug erschrocken die Hände vor den Mund. Sie sank auf den noch freien Stuhl und musterte die Besucher mit angsterfülltem Blick. »Ist ihr etwas passiert?«
»Nichts, sie ist in Ordnung«, beeilte sich Heinrichs zu sagen. Helga Meves tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ulbricht fiel auf, dass ihre Hände zitterten. »Ziemlich warm, hm.«
»Diese verdammte Hitze macht uns allen zu schaffen. Erst letzte Woche hat es den alten Zenker, meinen Nachbarn, erwischt. Hitzschlag. Er wurde achtundsechzig Jahre.« Ihr Kopf ruckte hoch. »Also, was ist mit Thea? Hat sie etwas verbrochen?«
»Aus unserer Sicht nicht - Sie mögen das anders sehen.«
»Wovon reden Sie?« Ihre Hand fuhr über das Wachstischtuch, sie zupfte eine Falte glatt.
»Sie hat … nun, sie hat ein wenig Ahnenforschung betrieben, wenn Sie verstehen, worauf ich hinauswill?« Heinrichs grinste. »Was reden Sie da für einen Blödsinn?«
»Sie hat ihren Vater gesucht. Ein Mädchen, das ohne Vater aufwächst, hat das Bedürfnis, ihren Vater einmal zu treffen.«
»Sie hat…« Helga Meves wurde leichenblass. »Sie hat sich mit Karlheinz getroffen?« Ihre Stimme klang heiser.
»Richtig«, nickte Ulbricht. »Allerdings hat das Vergnügen, dem leiblichen Vater nach fünfunddreißig Jahren gegenüberzustehen, nicht sehr lange gedauert.«
»Er wollte nichts von ihr wissen.« Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Die alte Dame starrte auf einen imaginären Punkt auf der Tischdecke. »Er hat sich nie zu seiner Tochter bekannt. Niemals wollte er sie kennenlernen.« Jetzt blickte sie auf. »Aber woher wissen Sie … ich meine, woher weiß Thea, dass …«
»Sie hat sich verdammt viel Mühe gegeben«, erwiderte Ulbricht. »Und sie hat gefunden, wonach sie gesucht hat.« Jetzt kehrte er die Handflächen nach oben. »Allerdings hat die Wiedersehensfreude nicht lange gehalten. Wie Sie vielleicht gehört oder gelesen haben, wurde Karlheinz Kötter das Opfer eines schrecklichen Verbrechens.«
»Sie haben ihn umgebracht.« Jetzt schimmerten ihre stahlgrauen Augen feucht. Sie nickte. »Eiskalt ermordet.«
»Wer sind denn ,sie‘?« Heinrichs beugte sich über den Tisch. »Was weiß denn ich? Feinde hatte er genug, der gute Karlheinz Kötter. Und offen gestanden: Verdient hat er’s.« Ihre Stimme vibrierte.
»Was war er für ein Mensch?«
»Arrogant. Er meinte, ihm würde die Welt gehören. Mit seinem Geld konnte er jeden Fehler, den er sich leistete, wiedergutmachen. Aber wie heißt es so schön?« Sie lächelte. »Hochmut kommt vor dem Fall.« Dann stand sie auf. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen? Ich erwarte gleich Besuch von einer Freundin.« Ulbricht und Heinrichs erhoben sich. »Natürlich, wir sind schon so gut wie weg.« Helga Meves brachte sie zum Gartentor. Ulbricht blieb vor dem Eingang des Hauses stehen und blickte an der Schieferfassade mit den leuchtend weißen Fensterrahmen hinauf. »Ein schönes Haus. Hat er Ihnen …«
»Nein, hat er nicht«, unterbrach sie ihn unwirsch. »Ich habe es vom Geld meiner Familie gekauft. Warum fragen Sie?«
»Nun, ich weiß, dass Kötter ein Erzfeind der Familie Grotejohann war. Und soviel ich weiß, haben Sie Verbindungen zu der Familie.«
»Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.«
»Natürlich.« Heinrichs legte sein schleimigstes Lächeln auf. Dann standen sie jenseits des Zaunes. »Haben Sie eine Idee, wer Karlheinz Kötter umgebracht haben könnte?«
»Nein«, erwiderte sie schnell. »Es geht mich nichts mehr an, und ich will mit der alten Sache auch nichts mehr zu tun haben. Und jetzt verschwinden Sie!«
»Natürlich«, äffte Ulbricht seinen Assistenten nach. »Sagen Sie, Sie sind doch eine geborere Grotejohann?«
»Fragen Sie doch meine Tochter - sie ist ja anscheinend ganz gut darin, in der Vergangenheit ihrer Mitmenschen herumzuschnüffeln.«
»Das werden wir tun.« Ulbricht wünschte einen schönen Tag, tippte sich an die nicht vorhandende Hutkrempe und zog Heinrichs mit sich zum Wagen. Er hatte genug gehört.