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Samstag, 12:45 Uhr, Schwebebahnhof Kluse

Der hagere Junge, der am Bahnsteig der Schwebebahnstation Kluse auf und ab lief, war etwas über zwanzig Jahre und hätte dem Video eines Musiksenders entsprungen sein können. Seine Gesichtszüge waren weich, fast mädchenhaft. Darüber konnte auch der Flaum, der so etwas wie Bartwuchs andeuten sollte, nicht hinwegtäuschen. Er trug ein Kapuzenshirt, viel zu weite Jeans und ein verkehrt herum aufgesetztes Baseballcap. Sechzig Prozent Arsch, vierzig Prozent Hose, so nannte man das wohl. Es war die Art Hose, die schon im Regal des Kaufhauses vollgeschissen aussieht. Er wartete mit einer Rentnerin und zwei schwatzenden Müttern auf dem Bahnsteig. Unruhig marschierte er auf und ab und betrachtete den Zeiger der Uhr, der beständig wanderte. Es war Mittag. Ein sonniger Tag. Er hasste diese verdammte Hitze.

In den Zeitungen standen täglich neue Horrormeldungen rund um die nicht mehr aufzuhaltende Klimakatastrophe. Die Polkappen schmolzen, und unten auf der B7 staute sich der Verkehr. Hatten diese Idioten denn noch nie die Werbung mit der furzenden Kuh gesehen? Manchmal wunderte er sich über diese bescheuerte Gesellschaft. Aber augenblicklich kreisten seine Gedanken um ein anderes Thema. Die Bahn lief ein, mit leisem Summen öffneten sich die Türen des leicht pendelnden Zuges. Passagiere stiegen aus, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Als der Weg frei war, bestieg er die Schwebebahn und suchte sich einen Sitzplatz im hinteren Teil des Zuges. Niemand beachtete ihn, und das war ihm auch ganz recht. Laut ratternd schlossen sich die Türen. Mit einem leisen Surren der Triebwerke auf dem Dach der Bahn setzte sich der orange-blaue Zug in Richtung Elberfeld in Bewegung. Während die Bahn die Bundesallee überquerte, dachte er an das, was hinter ihm lag. Vielleicht war er einen Schritt zu weit gegangen, aber er bereute nichts. Jemand musste endlich ein Zeichen setzen. Ein siegessicheres Grinsen lag auf seinem Gesicht. Dort vorne, links hinter dem Sichtschutz zum Fahrerstand der Bahn, saß sie. Ein strubbeliger blonder Wuschelkopf, strahlend blaue Augen. Sie trug knallenge Jeans, darüber ein kurzes Top. Obwohl fast zehn Jahre älter als er, empfand er sie als attraktiv. Sie hatte ihn nicht bemerkt und blickte durch das Fenster der Schwebebahn hinaus. Unter ihnen lag die Wupper, weiter vorn zeichnete sich das 1926 eröffnete Gebäude des Schwebebahnhofes Döppersberg ab. Die Zeit wurde knapp, wenn er noch etwas erreichen wollte. Er war kein Stümper und hatte sorgfältig recherchiert. Dabei hatte er herausgefunden, dass sie üblicherweise hier ausstieg. Hastig sprang er auf und rempelte sich den Weg nach vorn frei. »Ich glaub’ es nicht«, rief er dann, als er am vorderen Türpaar des Zuges angelangt war, in ihre Richtung. Die blonde Frau wandte den Kopf und musterte ihn mit fragendem Blick.

»Heike Göbel - die Heike Göbel!«, rief er beeindruckt. Einige Fahrgäste in der Bahn starrten sie an. Vermutlich kannten sie den Namen aus dem Radio und freuten sich nun, einmal das dazugehörige Gesicht zu sehen.         

Heike stutzte. Ihr war die Situation peinlich. Sie kannte den jungen Mann mit der tiefsitzenden Jeans und dem Kapuzenshirt nicht. Anfang zwanzig und unrasiert, unterschied er sich kaum von zahlreichen anderen jungen Männern in seinem Alter. Dunkelblonde Haare lugten unter seinem Cap hervor. Seine strahlend blauen Augen funkelten.

»Kennen wir uns?«, fragte Heike. Sie betrachtete den Knaben, der sie an Oliver Pocher von vor zehn Jahren erinnerte.

»Noch nicht«, erwiderte der junge Mann und schob sich das falsch herum aufgesetzte Baseballcap in den Nacken. »Ich bin Mike Müller.«

»Müller, wie Meier?« Heike hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. »Oder andersrum?«

Er nickte. »Ja, sozusagen«, grinste er. »Ein ziemlich spießiger Name, findest du nicht? Aber ich kann ja nichts dafür, und …«

»Und woher kennen wir uns?«

»Vom Sender, ich bin der neue Praktikant. Hab’ dich heute früh kurz in der Redaktion gesehen. Eckhardt war ja außer sich, wegen dem blöden Pinguinkopf.«

»Tut mir leid«, erwiderte Heike und lächelte. Ihr war der junge Kollege in der Redaktion nicht aufgefallen. »Ich war lange im Hauptstadt-Studio und weiß noch nicht, wer jetzt zu meinen Kollegen im Sender zählt.«

»Das macht nichts«, erwiderte er. »Ich habe schon so viel von dir gehört. Die Schwebebahn-Erpressung, der Korruptionsskandal, der Mord an dem Filmschauspieler, all das hast du aufgetan. Allesamt heiße Storys.« Der Junge zog respektvoll die Mundwinkel nach unten. »So gesehen bist du mein großes Vorbild.« Müller blickte sich um, als der orange-blaue Zug in den Döppersberg einfuhr. »Ich muss hier raus. Kommst du mit?«

»Wie bitte?« Heike runzelte die Stirn.

»Darf ich dich einladen? Ich hab’ so viel gehört von dir. Und jetzt würde ich die berühmte Heike Göbel gern auf ein Bier einladen.«

Heike, die zu Stefans Wohnung in der Marienstraße unterwegs war, erhob sich. Es war Samstagmittag, und Stefan hatte die Sportsendung übernommen. In einer Stunde begann das Spiel des WFC. Stefan berichtete für die Hörer der Wupperwelle live aus dem Stadion am Zoo. Und der junge, flippige Kollege war ihr sympathisch. Sie lächelte ihn an. »Warum eigentlich nicht?«

Mike Müller strahlte. »Eben. Und du musst mir verdammt viel erzählen.«