Sonntag, 12:50 Uhr, Polizeipräsidium Wuppertal
Seine innere Unruhe wuchs. Daran konnte auch die Anwesenheit von Jürgen Küppers, dem Polizeisprecher, nichts ändern. Ulbricht hatte neben Heinrichs, seinem grinsenden Assistenten, noch ein paar Kollegen der Zentralen Kriminalitätsbekämpfung aufmarschieren lassen. Gemeinsam wollten sie sich nun den Vertretern der Medien stellen und ihre Fragen beantworten.
»Ich hasse diesen verdammten Rummel«, brummte Ulbricht, an Heinrichs gewandt. »Immer wollen diese Pressegeier Fragen beantwortet haben, auf die wir selbst noch keine Antworten wissen.«
»Bleiben Sie cool, Chef. Wir sind die Guten.«
»Und genau das werden wir den Vertretern der Medien jetzt auch verkaufen«, mischte sich Küppers mit einem jovialen Grinsen ein und legte eine Hand auf Ulbrichts Schultern. Kommissar Verdammt hatte schlecht geschlafen letzte Nacht. Zu sehr waren seine Gedanken um Birgit gekreist. In den frühen Morgenstunden war er schweißgebadet aufgewacht, weil er von ihr geträumt hatte.
»Wo müssen wir hin?«, fragte er, um die Erinnerung an seine Frau abzuschütteln.
»Wie immer bei Anlässen mit viel Publikum - Saal 300«, wurde er von Küppers belehrt. Seite an Seite schritten sie über die lichtdurchfluteten, weiß getünchten Korridore des Präsidiums. Hohl schallten ihre Schritte von den Wänden zurück. Saal 300 befand sich, wie die Zimmernummer schon verriet, im dritten Obergeschoss des Präsidiums. Nach Kriegsende hatte hier für einige Zeit der Rat der Stadt Wuppertal seine Versammlungen abgehalten; und Ende der Sechzigerjahre hatte der Raum sogar als Gerichtsraum gedient, da es im Wuppertaler Gerichtsgebäude zwischen 1967 bis 1968 keinen so großen Verhandlungsraum gegeben hatte. Erst später nutzte man den Raum als Besprechungsraum und für Feierlichkeiten und Veranstaltungen. So musste Saal 300 auch immer wieder für Pressekonferenzen mit vielen Medienvertretern herhalten. Normalerweise nutzten sie die Räumlichkeiten der Pressestelle für solche Zwecke. Doch diesmal waren zahlreiche Medienvertreter erschienen, und somit waren sie auf Saal 300 ausgewichen. Gemeinsam betraten sie den Raum. Ulbricht atmete tief durch, dann ließen sie sich an den einfachen Tischen am Kopfende vor den versammelten Wuppertaler Medienvertretern nieder. Neugierige Blicke waren auf die Polizisten gerichtet. Ulbricht ordnete seine Unterlagen und blickte nach rechts zu der Reihe von deckenhohen Fenstern. Die Sonne blendete mit ihrem grellen Licht. Es dauerte einen Moment lang, bis Stille im Saal einkehrte. Dann eröffnete Küppers die Pressekonferenz. Er begrüßte die Gäste, bedankte sich für ihr Interesse und das zahlreiche Erscheinen und appellierte an die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Medien und der Polizei.
»Zunächst darf ich Ihnen versichern, dass fast alle Mitarbeiter des Kriminalkommissariats 11 in die Bearbeitung der beiden Todesfälle involviert sind. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.«
Ulbricht nutzte die Zeit, um sich unter den Besuchern umzusehen. Er erkannte einige Reporter der schreibenden Zunft, und auch der WDR hatte ein Kamerateam der Lokalzeit geschickt. Sogar ein Blaulichtreporter aus Essen, der alle deutschen TV-Sender mit Material versorgte, war anwesend. Die Fälle der auf rätselhafte Weise ums Leben gekommenen Wuppertaler schienen überregionales Interesse geweckt zu haben. Jemand auf den hölzernen Stühlen hob den Arm. »Bedeutet das, dass Sie noch immer keinen Hinweis auf die Täter haben?«
»Vielleicht dürfte ich Kommissar Norbert Ulbricht bitten, uns den aktuellen Stand der Dinge zu erläutern?« Küppers lächelte Ulbricht zu.
Ulbricht atmete tief durch und blickte der nach Informationen geifernden Jounalisten-Meute entgegen. Er hasste es, wenn fast hundert Menschen gebannt an seinen Lippen hingen und nur auf eine unbedachte Äußerung von ihm lauerten. Sekundenlang war es still im Saal 300; so still, dass man die vielzitierte Stecknadel hätte fallen hören können. »Wie Ihnen bekannt ist, haben wir es mit zwei Toten zu tun. Beide haben zu Lebzeiten hohes Ansehen in der Stadt genossen. Die Ermittlungen laufen, der Kollege erwähnte es bereits, in alle Richtungen.«
»Bedeutet das, dass Sie keinerlei heiße Spur haben?« Die junge Reporterin eines bergischen Blatts zückte ein Diktiergerät. Ihre Haare waren bunt gefärbt und zeigten eine neue Form des »Out of bed«- Looks.
»Davon kann keine Rede sein; was allerdings feststeht, ist die Tatsache, dass die Spurensicherung in beiden Fällen verschiedene Tathergänge rekonstruiert und dokumentiert hat.« Er legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr. »Der Obduktionsbericht von Karlheinz Kötter liegt uns inzwischen vor. Demnach starb Kötter an mehreren Schussverletzungen, auch wenn er bei der Kollision mit dem Fahrzeug noch gelebt hatte. Die Schussverletzungen waren so schwer, dass er auch ohne den Zusammenprall mit dem Fahrzeug keine Überlebenschance gehabt hätte.«
Ein Raunen ging durch die Menge der versammelten Journalisten. Jemand hatte Kötter angeschossen, bevor man ihn mit dem Auto angefahren hatte! Das klang nicht mehr nach einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, auch nicht nach einem Amokfahrer, sondern nach einem gezielten Anschlag.
Heinrichs rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er wollte den anwesenden Journalisten keine Gelegenheit geben, Fragen zu stellen - noch nicht. Schnell ergriff er deshalb die Initiative und erhob sich.
Showtime, dachte Ulbricht mit säuerlicher Miene. Hoffentlich vermasselte sein Assistent jetzt nicht alles. Heinrichs rückte seine Designerbrille zurecht und richtete sich auf. »Obwohl beide Opfer zu den bekannteren Persönlichkeiten der Stadt zählten und obwohl beide Opfer erschossen wurden, bleibt festzustellen, dass die Schüsse mit unterschiedlichen Kalibern und aus verschiedenen Waffen abgegeben wurden.«
Respekt, dachte Ulbricht. Sauber formuliert.
Ein Reporter sprang von seinem Stuhl auf. »Das bedeutet, dass sowohl Plunger, der Präsident des WFC, als auch der Baulöwe Kötter erschossen wurden?«
»So haben es unsere Untersuchungen bisher ergeben.«
»Handelt es sich um verschiedene Täter?« Ein schwergewichtiger Reporter mit lichtem Haar hatte sich erhoben und fuchtelte mit einem Bleistift in der Luft herum. Axel Grimm vom Wuppertaler Abendblatt. Er war kein Schreiberling - er war ein Schmierer und genoss das Ansehen einer Kakerlake. Entsprechend fiel die Reaktion auf seine Frage aus.
»Das ist Ihre Interpretation der Fakten«, wurde er von Ulbricht korrigiert. »Fest steht, nur, dass auf Kötter und Plunger aus unterschiedlichen Waffen geschossen wurde. Es kann sich trotzdem um ein und denselben Täter handeln, der nur verschiedene Waffen nutzt, um seine Spuren zu verwischen.« Alle Blicke ruhten auf Ulbricht. Im nächsten Augenblick verließ den Kommissar seine Selbstsicherheit, denn soeben hatte er die Vertreterin der Wupperwelle, Heike Göbel, entdeckt. Gerade erhob sie sich, und alle Blicke richteten sich auf die junge Reporterin mit den kurzen blonden Haaren.
»Es heißt, dass ein Zusammenhang zwischen den Mordopfern und den geköpften Pinguinen der Pinguinale 2006 bestehen könnte. Hat sich dieser Verdacht inzwischen erhärtet?«
Ulbricht hatte es gewusst. Er wurde blass, und ihm wurde erst heiß, dann eiskalt. Diese Radioreporterin war mit allen Wassern gewaschen. Dennoch bemühte er sich, die Oberhand zu behalten. »Es gibt keine Beweise dafür, dass hier ein Zusammenhang besteht. Zunächst einmal haben wir es bei den Pinguinen nur mit einer Sachbeschädigung zu tun. Natürlich ermitteln wir auch in diese Richtung. Aber ich kann verstehen, dass Sie als Außenstehende voreilige Schlüsse ziehen.«
»Angeblich gibt es eine geheime Liste, auf der die Mordopfer genannt sind«, ergriff ein anderer Reporter nun das Wort. Heike setzte sich enttäuscht. Sie hatte etwas mehr Inhalt von Ulbricht erwartet.
»Wenn Sie diese Liste kennen - her damit!«, lachte Küppers. Die Pressevertreter stimmten in das Gelächter ein. Damit hatte der Polizeisprecher die Sympathien der anderen Journalisten gewonnen, und der Reporter hatte sich mit einer einzigen Frage zum Deppen gemacht.
»Gibt es weitere Gemeinsamkeiten zwischen den Morden an Kötter und Plunger, außer dass beide zu Wuppertals High Society gehört haben und beide einen Pinguinale-Pinguin besaßen, der geköpft wurde?« Ein dunkelhaariger Mittvierziger war aufgestanden. Er trug einen dunklen Anzug und erinnerte in seinem Outfit eher an einen Banker als an einen Journalisten. Peer Finke war freier Journalist. Ulbricht hatte ihn ein paar Mal bei der Wupperwelle getroffen. Ein durchaus integrer Mann, der gründlich arbeitete und nicht wie viele seiner Kollegen reißerische Schlagzeilen suchte.
»Karlheinz Kötter scheint tatsächlich ermordet worden zu sein. Ein Zusammenhang mit Plungers Tod ist möglich.« Heinrichs nickte zustimmend.
»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Toten?«
»Wie gesagt - derzeit ermitteln wir in alle Richtungen. Wir überprüfen aus diesem Anlass sowohl das geschäftliche als auch das private Umfeld der Toten.«
*
Heike hatte nach der Pressekonferenz auf dem Gang im Präsidium auf Peer gewartet. Er war sichtlich erfreut und begrüßte die Kollegin herzlich.
»Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen«, begrüßte Heike ihn. »Fast habe ich deine Spießigkeit vermisst.« Sie zwinkerte ihm zu, und weil Peer wusste, wie sie es meinte, war er ihr wegen der Bemerkung auch nicht böse. Er lachte und setzte dann eine ernste Miene auf. »Wenn du nach Berlin verschwindest, ohne mich mitzunehmen …« Peer zog eine gespielt beleidigte Schnute. »Das hätte ich nie von dir gedacht!«
»Du hast mir so gefehlt im Hauptstadtstudio, deshalb bin ich auch wieder zurück nach Wuppertal gekommen«, lachte Heike. Dann wurde sie ernst. »Was macht denn der Bürgerfunk?«
»Wenig.« Peer winkte ab. »Ich habe umgesattelt und fotografiere jetzt wieder mehr.«
»Welcher Radiosender kauft dir denn um Himmels willen Fotos ab?«, prustete Heike und fing sich dafür einen tadelnden Blick von Peer ein.
»Ich bin größtenteils zur schreibenden Zunft gewechselt«, erklärte er. »Nachdem der Bürgerfunk vom Aussterben bedroht ist, fehlt mir irgendwie die Motivation, und so habe ich mein altes Hobby, die Fotografie, wiederbelebt. Und nun fotografiere und schreibe ich für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.«
»Zeitung ist gut. Hast du ‘nen guten Draht zur Anzeigenabteilung?«
»Warum? Willst du eine Kontaktanzeige schalten?« Peer grinste. »Nein, aber ich suche eine kleine Wohnung. Wenn du etwas hörst, könntest du mir dann Bescheid sagen?«
»Klar - mach’ ich doch glatt«, versprach Peer.
»Dank dir.« Heike lächelte. »Und?«
»Was und?« Peer Finke legte den Kopf schräg.
Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. »Was hältst du von der Geschichte?«
»Die Nachrichtensperre dürfte ja jetzt aufgehoben sein. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich die Ermittlungen auf das private Umfeld der Opfer konzentrieren.«
»Was sagt uns das?«
»Dass wir eine Menge Arbeit haben, wenn wir mit aktuellen Informationen am Ball bleiben wollen«, lächelte Finke.
»Sag mal…«, wechselte Heike das Thema. »Was macht eigentlich die Liebe?« Sie erinnerte sich daran, dass Peer vor ihrer Abreise nach Berlin eine feste Freundin gehabt hatte. Sie war damals mit Stefan im Brauhaus gewesen, als Peer und Peggy ihre Verlobung bekannt gegeben hatten. Einen Ehering suchte sie nun vergeblich an Peers rechter Hand. Scheinbar hatte sich viel geändert, während sie in Berlin gewesen war.
»Menschen kommen und gehen.« Ein dunkler Schatten huschte über Finkes Gesicht. Er war ernst geworden, seine Miene wirkte versteinert. Heike kannte ihn lange und gut genug, um zu erkennen, dass er seinerzeit sehr verliebt gewesen sein musste. »Es hat irgendwie nicht funktioniert. Und nun … sie ist im Ausland. Vermutlich ist es besser so. Sie hat ihr Haus noch hier, das Auto, aber sie ist eigentlich das ganze Jahr über weg. Peggy hat sich total verändert. Irgendwann begannen die ständigen Anrufe auf ihrem Handy. Manchmal klingelte es alle paar Minuten, Tag und Nacht. Dazu der SMS-Terror. Seitdem war sie auch fast Tag und Nacht mit ihrer besten Freundin zusammen. Ich weiß auch nicht, was da los war. Sie hat nie mit mir darüber geredet. Jedenfalls hat sie sich sehr zu ihrem Nachteil verändert, und deshalb haben wir uns zur Trennung entschlossen. Seitdem ist sie oft unterwegs -keine Ahnung, wo und warum.« Er seufzte, hob und senkte die Schultern. »Außer ihrer Handynummer weiß ich nicht mehr viel von ihr.«
»Das tut mir leid.« Heike war wirklich betroffen.
»Muss es nicht.« Peer strahlte. »Ich bin drüber hinweg. Manchmal ruft sie noch an oder schickt ‘ne SMS. Ihrer besten Freundin leiht sie zu entsprechenden Anlässen sogar ihr BMW Cabrio, und …«
»Moment«, unterbrach Heike ihn. »Sagtest du, sie hat ein BMW Cabrio?«
»Ja, warum? Den Wagen wollte Peggy nicht verkaufen, weil sie sehr daran hängt. Er war ihr Traumauto.«
»Was ist das für ein Auto?«
»Wie gesagt: ein dunkelblauer Z3. Warum?« Peer stutzte.
»Nur so. Ich habe da eine Idee«, erwiderte Heike schnell. Seite an Seite betraten sie den Aufzug, der sie ins Erdgeschoss des Polizeipräsidiums brachte. »Ich habe vorhin mitbekommen, wie sich zwei Polizisten unterhalten haben. Es heißt, dass eine junge Frau dabei war, als Kötter getötet wurde. Offenbar war sie mit ihm verabredet.«
»Und?« Peer verstand nicht. Die Aufzugtüren glitten auseinander, und Minuten später standen sie vor dem Eingangsportal. Der Pförtner hatte ihnen zugenickt, dann standen sie an der frischen Luft. Auf der Friedrich-Engels-Allee herrschte an diesem Sonntag nur mäßiger Verkehr. Dennoch war es unerträglich heiß. Die Luft flimmerte über, dem Asphalt.
»Diese Frau fuhr auch ein BMW Cabrio.« Heike war vor Aufregung rot geworden. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie Peer Finke, der angestrengt nachdachte.
»Lass mich raten«, sagte Peer nach einem kleinen Moment. »Vielleicht einen dunkelblauen BMW Z3?« Seine Stimme vibrierte leicht. »Die Welt ist ein Dorf, und unsere Stadt sowieso. Meinst du … ich meine, glaubst du, es war Peggy, die …«
»Möglich ist doch alles, oder?«
»Nein, sie hat mich vor wenigen Tagen erst angerufen. Peggy ist gar nicht in der Stadt.«
»Und - was denkst du?«
»Ich denke, dass ich sie zur Abwechslung mal anrufen sollte.« Peers Miene glich einer Maske. Heike konnte fast sehen, wie die Gedanken sich in seinem Kopf überschlugen.