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Freitag, 21:45 Uhr, Biergarten, Wuppertaler Brauhaus

»Was ist denn mit Hurtiger los?«, fragte Heike und nahm einen großen Schluck Wupper Hell. Sie kannte den Geschäftsführer des Brauhauses seit Jahren. Irgendwann hatte sie mal ein Interview für einen Beitrag mit ihm gemacht. Ernst Hurtiger stand nachdenklich im Eingang des Lokals und blickte ins Leere. Normalerweise suchte er den Kontakt zu seinen Gästen, doch heute wirkte er sehr in sich gekehrt.

»Was soll denn sein?«, fragte Stefan kauend und tunkte die Gabel Brauhausfritten in die Aioli. »Er hat die Bude voll und viel zu tun.«

»Nein«, erwiderte Heike. »Sonst sucht er das Gespräch mit den Gästen und gibt sich leutselig. Aber heute?«

»Du hast ihn halt lange nicht gesehen«, erwiderte Stefan und spülte mit einem großen Schluck Wupper Hell nach. An den umliegenden Tischen herrschte gute Stimmung. Es war eine laue Sommernacht, und am Freitag musste niemand früh nach Hause. Entsprechend viel Betrieb herrschte unter den weit ausladenden Kastanienbäumen hinter dem Rathaus. Hurtiger marschierte sichtlich nachdenklich durch die Reihen der Klapptische und Bänke.

Er schien die anwesenden Gäste gar nicht wahrzunehmen. Erst als er den Tisch von Stefan und Heike erreicht hatte, erwachte er aus seiner Lethargie und lächelte.

»Ah, das Radio ist heute Abend auch wieder vertreten. Schönen guten Abend, die Herrschaften.« Hurtiger gab sich charmant wie immer. Doch sein Blick huschte fahrig umher.   

Die Radioreporter erwiderten den Gruß und baten ihn, Platz zu nehmen.

»Einen Augenblick gern«, erwiderte Hurtiger und setzte sich auf die Bank. Hurtiger war Anfang fünfzig, nicht sonderlich groß und von schmaler Statur. Die grauen Augen, die hinter seiner Brille sonst immer unternehmungslustig funkelten, blickten unsicher umher.         

»Sie habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen«, sagte er nun, an Heike gewandt. Sie berichtete ihm, dass sie zwei Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet hatte. Nun aber hatte es sie wieder zurück ins Tal gezogen.

»Das hört man gern«, lächelte Hurtiger.

»Und wie laufen die Geschäfte?«, fragte Stefan.

Hurtiger wiegte den Kopf und deutete in die Menge.

»Nicht schlecht, bei diesem herrlichen Wetter. Es gibt Gastronomen in Wuppertal, die größere Probleme haben. Allerdings…« Er zögerte und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Holztisch herum. »Allerdings habe ich ein ganz anderes Problem.«

Heike warf Stefan einen vielsagenden Blick zu. Siehst du, ich hab’s doch gleich bemerkt, dass ihn etwas bedrückt!, sollte das heißen.

»Geht Ihnen das Bier aus?«, wagte Stefan einen Scherz und drehte sein Glas zwischen den Händen. Hurtiger ging nicht darauf ein. Er zupfte an seiner Krawatte herum. »Ich glaube, jemand ist uns nicht wohlgesinnt«, murmelte er dann.

»Inwiefern?«, fragte Stefan.

»Nun, seit einigen Tagen bekomme ich seltsame Anrufe. Meistens meldet sich niemand. Dann wieder gibt es Anrufe von einem ominösen Herrn Meier. Keine direkte Drohung, keine Erpressung. Es scheint, als wolle man mich zum Narren halten. Aber heute war es anders. Man hat mich bedroht. Anscheinend plant jemand, unser gutes Bier zu vergiften.«

Jetzt war es also raus. Hurtigers Blick wechselte zwischen Heike und Stefan. Er versuchte, jede Regung in den Mienen der beiden jungen Radioreporter zu deuten. Stefan stellte sein Glas auf den Tisch und stierte in das goldgelbe Gebräu.

»Eine Erpressung?« Hurtiger zuckte die schmalen Schultern. »Ich fürchte, dass es darauf hinausläuft. Erst will man mich mürbe machen und dann vermutlich eine hohe Summe fordern.«

»Haben Sie die Polizei schon verständigt?«

»Noch nicht. Vielleicht kann man dem Täter ja mit einer Fangschaltung auf die Schliche kommen. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus. Es gibt hunderte Telefonbucheinträge mit dem Namen Meier in allen möglichen Schreibweisen in Wuppertal. Und wenn der Name nicht echt ist…« Hurtiger winkte entmutigt ab. »Das ist wie die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Noch ist nichts passiert, aber…«

Stefan leerte sein Bierglas nun doch.

»Möchten Sie noch eins?«, fragte Hurtiger. »Geht aufs Haus.«

»Nein danke«, sagte Stefan schnell und deutete mit dem Kinn auf den Parkplatz, wo der Käfer stand. »Ich muss noch fahren.«

*

»Das ist ja zum Mäusemelken!«, rief Heike euphorisch, als sie wenig später in den Käfer stiegen und Stefan auf die Ausfahrt des Parkplatzes zusteuerte. »Das Brauhaus wird erpresst.«

»Noch nicht«, dämpfte Stefan sie. »Hurtiger hat nur davon gesprochen, dass er bedroht wird. Niemand hat eine Summe genannt. Genauso gut könnte es möglich sein, dass sich jemand einen makabren Scherz erlaubt.« Er tippte sich bezeichnend an die Stirn. »Wenn du mich fragst, Meier ist ein total bescheuerter Name für einen Erpresser.«

»Ich fand Dagobert für einen Kaufhauserpresser damals auch ziemlich dämlich«, entgegnete Heike. »Und trotzdem genial. Das Ergebnis kennen wir ja.«

Stefan nickte. »Und dann haben sie ihn doch geschnappt. Wenn ich mich recht erinnere, wurde er 1996 zu neun Jahren Gefängnis verknackt.«

»Jedem das, was er verdient.« Heike strich Stefan zärtlich über die Wange. »Und Hurtiger hat es verdient, dass wir nichts darüber senden, wenn er es nicht möchte. Also werden wir alles erst mal für uns behalten.« Sie kannte ihn und wusste, was Stefan dachte.

»Bleibt zu hoffen, dass nichts passiert«, erwiderte Stefan und beobachtete die Schranke an der Ausfahrt, die surrend nach oben glitt. Er legte den ersten Gang ein und fuhr an. »Aber du hast Recht: Ich möchte Hurtigers Vertrauen auf gar keinen Fall missbrauchen.«

Heike nickte. Während der Käfer über die Talachse zurück nach Elberfeld rollte, kurbelte sie das Seitenfenster herunter und hielt die Nase in den Fahrtwind. »Das tut gut.« Der Wind spielte mit ihren Haaren.

Stefan warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Was tut gut?«

Heike lächelte ihn glücklich an. »Endlich wieder bergische Luft zu atmen.«