Montag, 11:35 Uhr, Werth
»Hallo Herr Hurtiger!« Stefan hatte es sich mit einem Milchkaffee an einem der freien Tische im Außenbereich des Barmer ›Extrablatt‹ niedergelassen. Gerade wollte er die etwas verfrühte Mittagspause einläuten, als er den Geschäftsführer des Brauhauses über den Werth schlendern sah. Lächelnd trat Hurtiger näher. »Das sehe ich aber gar nicht gern«, rügte er mit mahnend erhobenem Zeigefinger. »Dass Sie bei der Konkurrenz sitzen …«
»Für ein frisch gezapftes Bier ist es noch zu früh«, lachte Stefan und deutete auf den freien Stuhl neben sich. »Bitte setzen Sie sich doch!«
»Das wäre ungeschickt«, lächelte Hurtiger und schüttelte den Kopf. Er deutete auf das Logo der Konkurrenz. »Die wissen schließlich auch, wer ich bin.«
»Daran habe ich nicht gedacht.«
»Aber im Gegenzug darf ich Sie vielleicht einladen. Kommen Sie gleich auf einen Sprung bei mir vorbei?«
»Das hatte ich sowieso vor, aber ich weiß, dass Sie selten vor zwölf im Brauhaus anzutreffen sind«, erwiderte Stefan. »Deshalb habe ich hier gewartet.« Er kehrte ein wenig verlegen die Handflächen nach oben. »Auf dem Werth heißt es doch sehen und gesehen werden, hm?« Viel hatte er über die Straße schon gelesen. Der Name Werth bedeutet ursprünglich Insel und bezeichnete früher die Flussinsel zwischen der Wupper und dem ehemaligen Mühlengraben.
»Also - kommen Sie gleich?«, riss Hurtigers Stimme Stefan aus den Gedanken.
»Natürlich«, nickte Stefan schnell.
»Dann habe ich auch Neuigkeiten für Sie.«
»Das klingt interessant.«
Hurtiger lächelte verkniffen. »Das will ich hoffen.« Er wandte sich zum Gehen. »Dann also bis gleich?«
»Gern.« Stefan blickte dem Geschäftsführer nach, bis er quer über den Johannes-Rau-Platz seinem Blickfeld entschwunden war. Er vermutete, dass Hurtiger ihn in sein Geheimnis einweihen wollte. Jemand schien ihn zu erpressen. Fieberhaft überlegte Stefan, ob er Eckhardt fragen sollte, was er über den Fall wusste. Immerhin war er gestern gemeinsam mit Kommissar Ulbricht im Brauhaus erschienen, um sich mit Hurtiger zu treffen. Die Sache schien den Geschäftsführer zu sehr zu beschäftigen.
*
»Hallo, Herr Hurtiger, da bin ich.« Stefan betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich. Hurtiger saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte in den Dienstplänen des Teams. Jetzt blickte er neugierig auf und zeigte auf den Stuhl in der Ecke. »Ach, Herr Seiler - nehmen Sie doch Platz!«
»Danke.« Stefan setzte sich. »Was gibt es Neues?«
Die Miene des Geschäftsführers verfinsterte sich, und bevor Hurtiger zu Wort kam, entschuldigte sich Stefan. »Eine Frage noch, bevor ich es vergesse: Haben Sie einen Pinguin?«
»Was soll ich haben?« Hurtiger legte fragend den Kopf schräg und blickte den Reporter an wie einen Geisteskranken.
»Na einen Pinguin - einen Plastikvogel. Einen Pinguinale-Pinguin, meine ich.« Stefan schlug sich mit der Hand vor die Stirn, weil ihm die richtige Bezeichnung nicht gleich eingefallen war.
»Ach so.« Hurtiger nickte. »Natürlich haben wir einen Pinguinale-Pinguin. Warum fragen Sie?«
»Wo steht er, ich meine, geht es ihm gut?«
Hurtiger lachte. »Mein lieber Herr Seiler, geht es Ihnen gut?« Er nahm die Brille ab und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Natürlich geht es unserem Malzi gut. Aber jetzt mal ganz im Ernst: Warum fragen Sie, Herr Seiler?«
Stefan fand das alles gar nicht so komisch und berichtete Hurtiger von den Verbindungen zwischen den geköpften Pinguinen und ihren Besitzern. »Es geht den Besitzern an den Kragen, kaum dass der entsprechende Pinguin beschädigt wurde«, schloss er seine Ausführungen, nachdem er von den Morden an Kötter und an Plunger berichtet hatte. Auch vom Anschlag auf das Haus der Wittwers erzählte Stefan. Nur den Selbstmord von Jessica Wittwer verschwieg er - das passte nicht hierher. Dennoch bemerkte er, wie Hurtiger das Lachen verging.
»Bei mir scheint es anders zu sein«, sagte Hurtiger schließlich leise. Er fingerte nervös am Knoten seiner Krawatte herum. »Unserem Pinguin geht es gut, aber jemand erpresst uns. Gestern ging eine Forderung über 500.000 Euro ein - unmittelbar nachdem Ulbricht und Ihr Chef verschwunden waren. Ich komme mir verfolgt und beobachtet vor.«
»Das heißt - jetzt gibt es eine konkrete Forderung.«
»Ja.« Hurtiger wischte einige imaginäre Staubkörner vom Schreibtisch und nickte. »Ich möchte Sie inständig bitten …«
»Keine Sorge. Nichts geht über den Sender, versprochen.«
»Dann ist gut.«
»Was wollen Sie jetzt tun?«
»Welche Wahl habe ich? Ich werde wohl zahlen müssen.«
»Dann sollte die Falle spätestens bei der Lösegeldübergabe zuschnappen. Sonst sehen Sie das Geld nicht wieder, und es wird sich herumsprechen, dass Sie leicht erpressbar sind.«
»Wie stellen Sie sich das vor?«
»Gute Frage.« Stefan blies die Luft durch die Backen aus. »Auf jeden Fall sollte die Polizei mit von der Partie sein.«
Hurtiger legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und führte die Daumen zu den Lippen. »Ich habe Angst um unseren Ruf.«
Bevor Stefan antworten konnte, flog die Tür des kleinen Büros auf. Eine Angestellte trat ein. Stefan kannte sie vom Sehen. Sie trug keine der üblichen Uniformen. Das lange schulterlange, braune Haar schmiegte sich um ihre Schultern. Sie bedachte Stefan mit einem knappen Kopfnicken, dann wandte sie sich an den Geschäftsführer des Brauhauses. Scheinbar war sie so etwas wie seine Betriebsleiterin. »Herr Hurtiger, gerade hat die Polizei angerufen. Es ist etwas passiert.«
Der Geschäftsführer blickte sie fragend an. »Frau Klein…« Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Seine stahlgrauen Augen flackerten unstet.
»Malzi ist geköpft worden.«
*
Stefan murmelte eilig eine Entschuldigung, als sein Mobiltelefon anschlug.
Er erhob sich und ließ Kirsten Klein und Ernst Hurtiger allein. Im Brausaal drückte er die grüne Taste am Handy. »Heike, was gibt’s?« Er stand vor der Küche des Brauhauses, in der schon um diese Zeit geschäftiges Treiben herrschte.
»Du wirst es nicht glauben«, hörte er ihre Stimme am anderen Ende der Leitung. Im Hintergrund hörte er Martinshörner und durch Lautsprecher verzerrte Stimmen. Irgendjemand brüllte herum. »Um ein Haar hätte es schon wieder eine Katastrophe mit der Schwebebahn gegeben. Stefan - das liegt doch nicht an mir, oder?«
»Warum sollte das an dir liegen? Erzähl doch erst mal, was los ist.«
»Also, ich war bei Michaelicke, um ihn zu den neuen Schwebebahnzügen zu interviewen, als er diesen Anruf bekam. Ein PKW sei genau unter einer Schwebebahn explodiert. Gott sei Dank gab es an der Bahn nur Blechschaden, keine Verletzten. Es scheint, als ob sich der PKW-Fahrer umbringen wollte. Er hat wohl den Innenraum seines Wagens mit Benzin übergossen und das Auto angezündet. Genau an der Stelle, wo das Gerüst der Schwebebahn am Gericht die Bundesallee kreuzt, ging der Wagen in die Luft. Stefan - der Fahrer des PKW ist tot.«
»Dann hat er ja sein Ziel erreicht«, erwiderte Stefan sarkastisch.
»Aber warum glaubst du, dass das alles mit dir zu tun hat?«
»Ich musste sofort an damals denken, an das Schwebebahn-Komplott«, erwiderte Heike. »Es ist alles so unheimlich.«
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Das ist bestimmt Zufall.«
»Stefan - das Auto war ein Jaguar.«
»Scheiße«, rutschte es Stefan heraus. »Meinst du, es war …«
»Der Verdacht liegt zumindest ziemlich nahe, oder?«
Stefan dachte nach. Warum sollte jemand, der am Wochenende versucht hatte, Jessica Wittwer aus genau diesem Fahrzeug zu erschießen, sich selbst umbringen? War das alles nur ein großes Täuschungsmanöver? Zufall schied höchstwahrscheinlich aus, denn dafür gab es zu wenige Jaguars in der Stadt. Vielleicht sollte er sich selber einen Überblick vor Ort verschaffen. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Noch vier Stunden bis zur Sendung. Die Zeit wurde knapp, verdammt knapp!