ZWEI
2013
Der Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums Ideal war ein hundertzwanzig Kilo schwerer Kinderarzt namens Kaspar Wolf. Während seiner zehn Berufsjahre im SPZ hatte Wolf bislang zwölfhundert Kinder durch ihre schwere Kindheit begleitet. Er kannte regelmäßige Auseinandersetzungen mit betroffenen Eltern, scheute sie aber.
In seinem Team duldete er niemanden, der eine andere Meinung vertrat. Sein Job war anstrengend, Loyalität der Kollegen Grundvoraussetzung. Wolf hasste unnötige Kraft- und Zeitvergeudung, seine Einrichtung hatte zu funktionieren – möglichst unauffällig.
Die Leute hatten die Vorstellung, sinnierte er auf der Veranda, während er seinen Blick durch den Garten schweifen ließ, dass ein SPZ in einem Stadtteil mit überproportional hoher Geburtenquote und entsprechend hohem Anteil an Problemkindern lief wie geschmiert.
Bäume und Sträucher waren bereits kahl, die Vorhersage hatte für die kommende Nacht ersten Frost prognostiziert. Es wurde Zeit, die Rosen anzuhäufeln und das Laub zusammenzuharken. Er wollte mit Clemens Kötter reden. Sein zuverlässigster und liebster Mitarbeiter ging ihm nicht nur beruflich, sondern auch privat gern zur Hand.
Ein toller, loyaler Mann, dachte Wolf. Genau der richtige Typ zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Wolf liebte Redewendungen, sie waren leicht abrufbar und kannten selten Widerspruch. Floskeln ersetzten das Denken. Er hob das Glas, genehmigte sich einen Schluck Burgunder und atmete durch.
Vom nahen Teufelssee strömte kühle Abendluft herauf.
Das Verandalicht, das an einen Bewegungsmelder gekoppelt war, erlosch. Die Villa im Grunewald war sein Refugium. Sein Schlupfwinkel auf einer kleinen Anhöhe, von wo er die Lichter des Radargerätes droben auf dem Drachenberg sehen konnte. Mittlerweile bewohnte er das Haus allein. Seine Frau hatte sich vor drei Jahren von ihm getrennt, ohne sich scheiden zu lassen. Sie hatte jemand anderes kennengelernt und war in einer Sommernacht Hals über Kopf und nur mit dem Allernötigsten, das sie in drei Reisetaschen gestopft hatte, ausgerissen und aus Berlin verschwunden. Kaspar Wolf wusste nicht, wohin. Das Scheitern seiner Ehe, davon war er überzeugt, lag in erster Linie an seinen langen Arbeitszeiten. Alles andere war bloßes Gerede.
Doch von nichts kommt nichts, dachte er, wischte mit der Hand über sein schütteres Haar und die düsteren Gedanken fort. Das bittere Finale einer dreizehnjährigen Beziehung hatte seiner Liebe zu den eigenen vier Wänden keinen Abbruch getan. Gelegentlich wunderte er sich darüber. Er wusste, dass das Gegenteil die Norm war. War die Ehe kaputt, war das Heim zerstört. Manch gehörnter Ehemann verscherbelte es dann auf Ramschniveau, wollte nur noch raus aus dem Haus. Doch was sollte er tun? Leiden heucheln, wo kein Leiden war?
Er blinzelte in die tief stehende Sonne, die hinter dem See unterging. Dr. Wolf liebte diesen Anblick, er erfüllte ihn mit Ruhe. Es gab Menschen, die verfielen im Herbst in Selbstmitleid und Depression, doch er mochte die bunteste Jahreszeit. Schneeluft Mitte November – wann hatte es das letztmalig gegeben? Wolf erinnerte sich nicht.
Bis zum See waren es zweihundert Meter. Ein leicht abschüssiger Hang, der in einem kleinen Waldstück unmittelbar vor dem Ufer endete. Zwischen den Baumstämmen hindurch funkelte das Wasser.
Ihn irritierte etwas in diesem Stillleben. Er kniff die Augen zusammen und atmete geräuschvoll durch.
Nochmals nippte er von seinem Wein und fixierte das Panorama, erahnte grob einen Makel. Eine Silhouette? Wie ein missratener Scherenschnitt riss sie eine kantige Fläche in den vertrauten Anblick. Dort stand jemand und rührte sich nicht. Ein Fremdkörper in seiner geliebten Landschaft.
»Hey! Hallo!«, rief Kaspar Wolf verhalten.
Vielleicht ein Tier, das sich aus dem Grunewald hierher verlaufen hatte. Wolf kratzte sich am Kopf, und die Veranda- und Gartenbeleuchtung schaltete sich ein. Er setzte seinen massigen Körper in Bewegung. Bedächtig schritt er bis an die Umzäunung seines Grundstücks. Er konzentrierte sich, schaute, verharrte. Das Gartenlicht erlosch.
Er musste die Dauer erhöhen, überlegte Kaspar Wolf, eine Minute oder besser zwei … Und dann sagte er laut: »Da ist doch einer, dort unten am See. Da beobachtet jemand mein Haus.«
Langsam hievte er seine zweieinhalb Zentner über die niedrige Hecke, die sein Anwesen vom Rest des Hanges trennte. Er erinnerte sich an die Vorbesitzerin, die erzählt hatte, dass die Böschung zum See vor vielen Generationen als Schafweide genutzt worden war. Wolf bemerkte das geleerte Weinglas in seiner Hand, stutzte, wusste nicht, wohin mit dem Gefäß, und hielt inne. Rötlicher Abendhimmel.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, rief er lauter, angespannter.
Die Gestalt bewegte sich unmerklich, ihre Konturen verschoben sich an den Rändern – wie bei einem tiefen Ein- und Ausatmen.
»Egal, was Sie wollen, Sie können mir ruhig antworten!« Wolf stolperte zögerlich den Hang hinunter. Trotz der abendlichen Kühle begann er zu schwitzen. Die fremde Erscheinung war keine zwanzig Meter mehr entfernt. Kein wildes Tier, das wusste Kaspar Wolf jetzt mit Sicherheit und schnaufte durch. Einfach nur ein Mensch aus Fleisch und Blut und Knochen.
Da streckte der Unbekannte seinen Arm aus, als wollte er ihn per Handschlag begrüßen. Wolf zuckte zusammen, wich zurück, lachte kurz auf. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!«
Gegenüber eisiges Schweigen.
Normaler Wuchs, gängige Statur, Details im Gegenlicht nicht erkennbar. Wolf spürte den weichen Grund unter seinen Schuhen, das Wasser des Sees war nicht mehr weit. Das Antlitz blieb im Schatten, obwohl beide nur noch wenige Schritte getrennt waren. Die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, schien schmal und sanft, aber in ihrer Geste unnachgiebig. Auf unerklärliche Weise fühlte sich Kaspar Wolf angezogen. Im Gehen wechselte das Weinglas von seiner rechten in die linke Hand. In einer Mischung aus Neugier und Verblüffung schickte er sich an, die Einladung anzunehmen.
Plötzlich ging alles sehr schnell.
Den Schnitt selbst erfasste er nicht. Auch sein Schrei blieb stumm. Die linke Hand ließ das Glas geräuschlos zu Boden plumpsen. Er blickte auf die schwammige Erde. Dort lag seine Rechte im Ufergras. Steife Finger, die trügerisch zuckten. Aus seinem Armstumpf spritzte es ihm mitten ins Gesicht. Gebrochen durch die Blutgischt erkannte Wolf die fremde Physiognomie …
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