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Mittwoch, 11. Juni 2014, Marseille, Frankreich

Sie verließen das Zimmer wieder, durchquerten den abgesperrten Flur, gingen die fünf Stockwerke hinunter und trommelten die Einsatzkräfte in der Lobby zusammen. Gerry war inzwischen eingetroffen und nahm sich mit seinen Leuten das Zimmer vor. Bernard war sich sicher, dass er nichts finden würde. Wie an den anderen Tatorten auch.

»Erst der Schweizer, dann Clement, jetzt der Professor und das Mädchen«, sagte Nivello. »Am Ende womöglich noch einer von uns. Veranstalten diese Wächter eine Hexenjagd?«

»Ja, nur bin ich mir nicht sicher, wer den Zauberstab schwingt«, antwortete Bernard. Er hatte Nivello und Frey von den Wächtern berichtet, Natalies Verbindung aber für sich behalten.

Auch die Ermittler konnten jetzt ins Fadenkreuz geraten. Das war es aber nicht, was Bernard beunruhigte. Kauffmann und Villeneuve waren weg. Keiner wusste, wo sie waren. Eine Streife hatte ihr Auto im Parkhaus des Hotels gefunden. Wie waren sie dann geflohen? Und wo wollten sie hin? In Bernard rumorte es. Das Gespräch mit den beiden am Vortag war gut verlaufen. Er war mit dem Gefühl aus dem Treffen gegangen, dass sie ehrlich zueinander gewesen waren. Warum waren sie jetzt abgehauen? Hatten sie die Bedrohung wirklich geahnt? Wenn ja, warum hatten sie ihn nicht angerufen? Und wenn nein, warum begaben sie sich nach seiner dringlichen Warnung gestern auf einen Egotrip?

Die Ermittler brauchten schnell Antworten. Seine Leute standen nun beisammen. Bernard bat um Ruhe und erhob die Stimme.

»Damit das klar ist: Ich will, dass jeder verfügbare Polizist in dieser verdammten Stadt nach den beiden sucht. Schickt ihre Fotos an alle Einheiten! Wertet jede einzelne Verkehrskamera aus! Lasst Kauffmanns Handy orten! Befragt jeden, der euch über den Weg läuft, und wenn es ein bekiffter Alkoholiker ist. Es ist mir scheißegal. Ich will wissen, wo sie sind. Ich will wissen, wer der Killer ist. Und liefert mir diesen Schweinehund von Nachtportier! Und zwar schnell!«

Seine Leute stoben auseinander und machten sich an die Arbeit.

Mittlerweile war der Hoteldirektor eingetroffen, ein Herr, der sich offenbar einiges darauf einbildete, Chef dieses feinen Hauses zu sein. Er lamentierte, was der Polizei eingefallen sei, ein solches Unglück in seinem Hause heraufzubeschwören, indem man diese beiden verdächtigen Subjekte in die heiligen Hallen des Grand Hôtel eingeschleust und einen Polizisten als Touristen getarnt zur Überwachung eingeteilt habe. Nun habe er ein Zimmer, für das er wohl nie wieder Gäste finden werde. Die Presse werde sich mit Genuss auf diese Geschichte stürzen.

Mit Letzterem hatte der Mann wohl sogar recht, musste Bernard zugeben. Auch wenn sie bislang Glück gehabt hatten. Der Mord an Clement hatte zwar für Aufsehen gesorgt, bislang waren aber noch keine Details durchgesickert. Dieser Fall hier im Hotel würde anders verlaufen. Da war sich Bernard sicher. Der Direktor überlegte wahrscheinlich schon, wie er höchstselbst dafür sorgen konnte, dass der Presse jedes Detail der Tatnacht zugespielt wurde.

Als Monsieur le Directeur erfuhr, dass sein Nachtportier eine entscheidende Rolle im Komplott gespielt hatte, empörte er sich nur kurz wegen dieser Unterstellung, wurde dann aber kreidebleich und stammelte, als er das Ausmaß der Katastrophe abzusehen begann, einige schwer verständliche Worte der Entschuldigung. Wer wollte schon in einem Hotel nächtigen, dessen Mitarbeiter Gäste im Schlaf mit einer Pistole überraschten?

Den Horror einer derartigen Schlagzeile in den Boulevardmedien vor sich, ließ es der Direktor mit seinen Beschwerden bewenden und offerierte der französischen Polizei stattdessen seine volle Kooperation. Schließlich müsse ein schlimmes Verbrechen aufgeklärt werden.

Er sorgte dafür, dass Bernard und Frey sich in einem Nebenraum der Lobby einrichten konnten, um von dort aus die Suchaktion zu koordinieren. Nivello war mit den anderen Polizisten auf der Straße, und so saß Bernard wenig später mit Frey an einem Schreibtisch und nahm die Rückmeldungen der Patrouillen entgegen.

»Was denkst du?«, fragte sie ihn, nachdem über eine Stunde ohne Ergebnisse verstrichen war.

Bernard griff zu einem Glas Wasser und trank einen Schluck. »Ich frage mich, was ich übersehe. Jemand hat sie ans Messer geliefert. Jemand von uns.«

»Ich habe die Wächter immer für einen Mythos gehalten. Und nun soll einer von uns für sie arbeiten?« Frey nippte an einer Tasse Kaffee. »Was ich nicht verstehe: Warum haben die es ausgerechnet jetzt auf die beiden abgesehen? Warum haben sie sie nicht schon in Fribourg erledigt? Oder in der ersten Nacht hier?«

Das war es! Bernard knallte das Glas mit der Wucht der Erkenntnis auf den Tisch. Er stand auf und ging zu einem Fenster, von dem aus er die Rue Beauvau überblicken konnte. Anderen Menschen zuzusehen, die nicht wussten, dass sie beobachtet wurden. Das war ein Prinzip der Polizeiarbeit. Menschen, die glaubten, nicht gesehen oder gehört zu werden, taten Dinge, die sie später bereuten. Oder sagten Dinge, die für die Ohren anderer Leute eigentlich nicht bestimmt waren.

»Dominique, ruf Paolo zurück! Er soll dich hier ablösen.«

»Was ist los?«

»Ich brauche deine Hilfe! Ich weiß, wie wir an unseren Verräter rankommen können.«

»Und wie?«

»Es geht um etwas, das mir Kauffmann und Villeneuve gestern in meinem Büro gesagt haben. Es war absolut vertraulich, und ich habe bislang niemandem davon erzählt. Aber ich glaube, es ist der Grund, warum sie heute Nacht sterben sollten. Die Wächter müssen von diesem Gespräch erfahren haben. Und das heißt, sie haben es mit angehört. Und dafür gibt es nur eine Erklärung.«

»Jemand hat die Unterredung belauscht und die Wächter informiert.«

»Genau.«

»Du bittest mich, dein Büro nach einer Wanze zu durchsuchen?«

Bernard nickte.

»Und dann das Signal zurückzuverfolgen.«

Bernard nickte erneut.

»Geht klar. Ich kümmere mich darum.«

Sie funkte Nivello an und zitierte ihn ins Hotel zurück. Er war nicht begeistert, war aber fünf Minuten später da und Frey verschwunden.

Kurze Zeit später konnten sie einen ersten Teilerfolg verbuchen. Sie hatten mit Hilfe der Kollegen aus der Schweiz Alex Kauffmanns Handy geortet und in einem Mülleimer an der Gare Saint-Charles gefunden, dem wichtigsten Bahnhof der Stadt.

»Sie haben das Handy weggeworfen«, stellte Nivello fest.

Bernard nahm es zur Kenntnis.

»Glaubst du, sie sind mit dem Zug abgehauen?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie haben das Handy weggeworfen, damit wir sie nicht orten können. Da werden sie nicht in einen Zug steigen, in dem sie nicht flexibel sind und das Risiko eingehen, dass am nächsten Bahnhof jemand auf sie wartet. Abgesehen davon dürften sie um eine Uhrzeit verschwunden sein, zu der ohnehin kaum ein Zug fuhr.« Er überlegte einen Moment. »Am Bahnhof … Da gibt es doch sicher Dutzende Autovermietungen, die rund um die Uhr aufhaben, oder?«

Es dauerte keine Viertelstunde, bis sie gefunden hatten, wonach sie suchten. Bernard und Nivello rasten mit einem Streifenwagen zum Bahnhof. Sie hielten vor einem Gebäude auf dem Boulevard Charles Nédelec und stürmten in die Filiale einer Autovermietung. Hinter dem Tresen saß, mit einem Headset auf dem Kopf, eine junge Frau und starrte sie mit verwunderten Augen an. Ein Polizist empfing Bernard und Nivello und zeigte triumphierend auf die Frau. Wie ein Hund, der das Stöckchen apportiert hatte, dachte Bernard.

»Guten Morgen! Pascal Bernard, Juge d’Instruction am Tribunal de Grande Instance Marseille«, stellte er sich mit vollem Namen und Rang vor. Er zeigte seinen Ausweis. Das, was er jetzt verlangen würde, war eine rechtliche Grauzone. Aber er war immerhin Richter. Und das sollte ihm hier nun zugutekommen.

»Sie haben heute Nacht ein Auto an eine gewisse Natalie Villeneuve vermietet. Ist das korrekt?«

»Nicht ganz. Ich bin die Frühschicht. Die Vermietung hat ein Kollege der Nachtschicht übernommen.«

»Ist der Kollege noch da?«

»Ja, aber er ist schon außer Dienst.«

»Wo finden wir ihn?«

»Unter der Dusche. Wenn Sie sich gedulden wollen, er dürfte gleich fertig sein.«

Bernard spürte ein Gefühl der Genugtuung. Sie waren wieder im Rennen. »Bis Ihr Kollege wieder da ist, könnten Sie uns schon einmal helfen, junge Frau! Können Sie mir sagen, für wie lange der Wagen gemietet wurde und wo er zurückgegeben werden soll?«

Sie zögerte einen Moment. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen diese Auskunft einfach so erteilen darf.«

»Seien Sie versichert, Sie dürfen. Wenn kein Richter, wer sollte Ihnen sonst erlauben dürfen, diese Information der Polizei herauszugeben?« Er blickte sie so freundlich an, wie er konnte. Am liebsten hätte er sie von ihrem Computer weggerissen und selbst im System nachgeschaut. Doch er musste sich eingestehen, dass er wahrscheinlich vor dem Rechner gesessen und keine Ahnung gehabt hätte, was er tun sollte.

Sie schien noch immer nicht ganz überzeugt, nickte aber. Sie tippte einen Moment auf ihrer Tastatur herum. Dann schien sie die Information gefunden zu haben.

»Sie hat das Auto für zwei Tage gemietet, mit Kreditkarte gezahlt und angegeben, dass sie den Wagen hier wieder abstellen werde.«

Bernard bezweifelte, dass die beiden das wirklich vorhatten. Aber warum hatte sie den Fehler gemacht, mit Kreditkarte zu bezahlen? Er hakte nach.

»Das ist bei uns Standard«, gab sie zur Antwort. »Wir buchen ja nicht nur den Mietpreis ab, sondern auch den Selbstbehalt.«

Das erklärte es. Kauffmann und Villeneuve waren vorsichtig geworden. Sonst hätten sie nicht das Handy weggeworfen. Dass sie den Wagen mit Karte gezahlt hatten, war zwar ein Risiko gewesen, aber ein vertretbares. Die Wächter hatten womöglich die nötigen Ressourcen, um alle Transaktionen zu überwachen. Auch sie würden bald wissen, dass die beiden mit einem Auto auf der Flucht waren. Allerdings würden sie die Reiseroute nicht kennen. Genauso wenig wie Bernard.

»Was ist denn hier los?«, ertönte es in diesem Moment. Ein Mann stand in einem Türrahmen neben dem Empfang. Hinter ihm lag offenbar der Mitarbeiterbereich.

»Oh, Nick, gut, dass du da bist«, sagte die Frau erleichtert. »Die Herren sind von der Polizei. Sie haben eine Frage wegen eines Autos, das du heute Nacht vermietet hast. Kannst du ihnen helfen?«

Der Mann war kaum älter als die Frau, hatte noch nasse Haare und trug Jeans mit einem weißen T-Shirt. »Polizei? Warum kommen Sie denn noch mal? Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt.«

»Sie haben schon mit der Polizei gesprochen?«, fragte Bernard verwundert.

»Heute Nacht! So ein Typ mit Marke kam hier rein und hat mich über einen Mann und eine Frau ausgefragt. Er sagte, die beiden seien Verbrecher und er müsse sie finden.«

»Und Sie haben ihm dabei geholfen?«

»Na klar.«

»Haben Sie sich seinen Ausweis genau angesehen?«

»Na logo, ich bin doch kein Amateur. Der war echt, ganz bestimmt.«

»Wie war sein Name?«

»Nur weil ich den Ausweis gesehen habe, merke ich mir nicht alle Namen, die ich jeden Tag höre«, erwiderte Nick genervt.

»Wie sah der Typ aus?«

»Was soll die ganze Fragerei?«

»Antworten Sie!«, brüllte Bernard und knallte mit der Hand auf den Tresen, sodass die Frau am Computer erschrocken zusammenzuckte.

»Na, wie ein ziviler Ermittler eben«, gab der Typ vorsichtig zurück. »Hatte eine Waffe unter seiner Jacke.«

»Haben Sie Überwachungskameras?«

»Ja, schon, aber –«

»Wir brauchen die Aufnahmen. Sofort!«

Nick zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, ich hab ihm schon alles erzählt. Fragen Sie ihn! Ich bin hier fertig. Ich bin schon ein bisschen länger auf als Sie und verschwinde jetzt. Ich muss ins Bett.«

Bernard ging auf den Mann zu. Braun gebrannt, schlank, groß, unter dem T-Shirt zeichneten sich deutlich die Muskeln ab. Ein Schönling, wie man ihn in Modemagazinen fand. Bernard verspürte eine tiefe, ehrliche Abneigung in sich aufsteigen.

»Sie sind also müde, mein Freund?«, sagte er mit leiser Stimme. »Wissen Sie, was ich bin? Ich bin hinter einem Mörder her. Hinter dem Mörder, den Sie heute Nacht als Polizisten kennengelernt haben. Dem Sie geholfen haben, seine nächsten Opfer zu finden. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch Sie einfach abgeknallt hätte, wenn Sie ihm nicht erzählt hätten, was er hören wollte. Also setzen Sie sich gefälligst hin und helfen uns, eine Katastrophe abzuwenden. Haben wir uns verstanden?«

Bernard meinte zu sehen, wie etwas von der Bräune aus dem Gesicht des Jünglings wich. Seine Augen zuckten, dann blickte er zu seiner Kollegin, die mit offenem Mund auf ihrem Drehstuhl hockte.

Langsam setzte er sich in Bewegung und führte sie schließlich in ein Hinterzimmer, wo ein Computer stand. Auf dessen Bildschirm waren die Livebilder von vier Kameras zu sehen. Bernard interessierte sich nur für eine.

Nivello setzte sich davor und gab Befehle in die Tastatur ein. Das Bild einer Kamera gefror und lief dann zurück. Der Zeitstempel zeigte drei Uhr zweiunddreißig, als eine Gestalt am Tresen erschien. Nivello hielt an. Viel konnten sie nicht erkennen. Der Mann war schlank, normal groß, komplett in Schwarz gekleidet, trug einen Schnurrbart, eine Brille mit dicken Rändern und eine Baseballmütze. Er schien zu wissen, wo die Kamera hing. Nivello suchte nach einer Stelle der Aufnahme, auf der sein Gesicht zu erkennen war. Ohne Erfolg. Um die Aufnahmen mussten sich die Techniker kümmern. Vielleicht konnten die noch was rausholen.

»Okay, fangen wir von vorn an!«, sagte ein enttäuschter Bernard.

Sie gingen die Nacht noch einmal durch. Kauffmann und Villeneuve waren gegen halb eins aufgekreuzt und hatten einen Wagen gemietet. »Einen nigelnagelneuen SUV«, wie Nick zu Protokoll gab. Einen Peugeot 4008, in Weiß, bezahlt mit Kreditkarte, für zwei Tage, Rückgabe Marseille.

Bernard blickte auf die Uhr. Die beiden waren jetzt knapp sieben Stunden unterwegs. Sie konnten mittlerweile überall sein.

Zwei Stunden später war der vermeintliche Polizist hereinspaziert, hatte seine Marke auf den Tisch geknallt und nach einem Mann und einer Frau gefragt. Dann hatte er die Story von Bonnie und Clyde erzählt und Nick dazu überredet, ihm zu helfen.

»Er hat mich gebeten, das GPS der Karre einzuschalten.«

»Moment«, fuhr Bernard hoch. »Das Auto sendet ein Funksignal?«

»Klar, wenn jemand mal mit einem unserer Schlitten abhauen will, finden wir ihn so wieder.«

»Wo ist das Auto jetzt?«

»Sekunde …« Er ging zum Computer am Tresen. Nach einigen Sekunden sagte er: »Hier!«

Bernard sah eine Landkarte und einen roten Punkt, der aufleuchtete.

»Sie fahren auf der A 62«, sagte Nivello, der ihm über die Schulter geschaut hatte.

Bernard folgte der Autobahn weiter Richtung Nordwesten, aber er wusste längst, wo die Reise hinging.

»Bordeaux!«