PROLOG

Mittwoch, 4. Juni 2014, Vallée de Vauvenargues, Frankreich

Er würde sterben. Das wusste er. Doch es war ihm egal. Seine Peiniger glaubten, ihm Schmerzen zufügen zu können. Sie sagten, jeder rede irgendwann.

Hätte Serge Clement nicht vor Schmerzen geschrien, hätte er wohl gelacht. Wussten die denn gar nichts? Waren die so dumm? Oder hatte der Kanzler vergessen, ihnen zu sagen, wen sie da folterten? Der alte Mann wurde offenbar nachlässig. Dabei war auch er selbst mit seinen vierundachtzig Jahren kein Jungspund mehr. Und auch er war nachlässig geworden. Sonst säße er jetzt nicht nackt und gefesselt auf diesem Stuhl. Noch dazu in seinem eigenen Haus. Hoffentlich brannten sie es nicht nieder, wenn das hier ein Ende hatte. Schließlich sollten seine Kinder das Anwesen erben.

Clement ahnte, dass er kaum mehr wiederzuerkennen war. Sein Gesicht hatten die beiden Hohlköpfe als Erstes malträtiert. Dann seinen Körper. Mit Fäusten, mit Messern, mit Stromschlägen. Dreimal war er bereits ohnmächtig geworden.

Aber Serge Clement hatte in seinem Leben schon ganz andere Schmerzen ertragen. Mérignac. Drancy. Auschwitz. Das waren wirkliche Schmerzen. Qualen, Horror, physisch, psychisch. Vor allem psychisch. Und dann quatschten diese Idioten davon, seinen Söhnen das Gleiche antun zu wollen, wenn er nicht redete. Als ob das etwas ändern würde. Wenn er nicht redete, würde er sterben. Wenn er redete, auch. Seine Söhne waren nicht in Gefahr. Sonst hätten sie die beiden längst hergebracht.

In Gefahr war nur sein Körper. Aber der war längst hinüber. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sein Herz den Dienst quittierte. Warum es noch immer schlug, war ihm ohnehin ein Rätsel.

Rätsel. Als Kind hatte er es geliebt, sie zu lösen. Auf dem Weingut seiner Eltern hatte sein Vater ihn manchmal stundenlang durch die unterirdischen Gänge des Weinkellers geschickt, von Quiz zu Quiz. Eine aufregende Schnitzeljagd in einem Labyrinth aus Fässern und Flaschen, ein Traum für jeden kleinen französischen Jungen. Aber das war vor dem Krieg gewesen. Nach dem großen Schock, dem Erwachen aus dem sechs Jahre andauernden Alptraum, hatte er die Rätsel des Lebens zu seinem Beruf gemacht. Zu seiner Passion. Zu seinem Schicksal. Und dieses Schicksal hatte ihn hierhergeführt. In den Keller seines eigenen Hauses. Dem Tode geweiht.

In der Gewissheit, dass sein Tod dieser Tortur ein Ende bereiten würde, ließ er den Schmerz nicht mehr an sich heran. Er schrie, weil sein Körper es ihm befahl. Seinen Geist aber hatte Serge Clement in Sicherheit gebracht. Alles, was er wusste, hatte den Körper schon vor Stunden verlassen. Und damit alle Antworten, hinter denen seine Peiniger her waren.