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Donnerstag, 12. Juni 2014, Bordeaux, Frankreich

Pascal Bernard stand mit auf dem Rücken gefesselten Händen in der Mitte des Arbeitszimmers. Neben ihm Nivello. Auch seine Hände hatte Raoul nach hinten gebunden.

Der Sohn des Kanzlers tigerte unruhig durchs Zimmer, während Dominique Frey lässig am Schreibtisch lehnte. Ihre Waffe lag griffbereit neben ihr.

Bernard hatte seine ehemalige Musterschülerin lange schweigend angesehen. Er fragte sich, wann sie sich wohl gegen ihn gewandt hatte. Gegen ihn und das System. Es musste in einer Zeit gewesen sein, in der ihr Aufstieg absehbar gewesen war. De Rozier hatte sie wahrscheinlich den Wächtern empfohlen, weil er wusste, dass sie irgendwann in Bernards Rolle schlüpfen würde.

Wie hatte er ihre Wandlung übersehen können? Sie hatte ihn getäuscht, ihm etwas vorgespielt. Und er, der glaubte, zu den Besten seines Fachs zu zählen, hatte sich von ihr hinters Licht führen lassen. Er war auf sie reingefallen. Die Erkenntnis, dass seine Antennen versagt hatten, als er angelogen worden war, nagte an ihm.

Frey und Drumont hatten ihnen verboten, zu sprechen. Keine Fragen. Keine Antworten. Alles, was sie wissen mussten, würde ihnen der Kanzler gleich höchstpersönlich erklären. Die Machtverhältnisse waren offensichtlich. Weder Frey noch Drumont junior hatten irgendetwas zu sagen. Ohne das Wort des Kanzlers lief hier nichts.

Aber wo blieb er? Und was hatte er mit Alex, Fabrice und Natalie gemacht? Bernard konnte sich ausmalen, was in einem anderen Teil dieses Hauses vor sich ging. Der Kanzler und Samir hatten die beiden mitgenommen, um sie, genauso wie Natalie, verschwinden zu lassen. Drei Morde. Keine Zeugen. Keine Leichen. Und ohne Leichen, das wusste Bernard, war eine Mordanklage von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deswegen war er sich auch sicher, dass sie Christophe Wagners Leiche nie finden würden.

Die einzigen Morde, die nachweisbar waren und für die sie jemanden zur Verantwortung ziehen konnten, waren die an Clement und von Arx. Doch Drumont hatte bereits klargemacht, dass der Fall Clement im Sande verlaufen würde. Dank de Rozier. Und die Schweiz war noch mal etwas ganz anderes.

Was würde der Kanzler mit ihnen anstellen? Bernard ahnte es. Nivello und er würden sterben, ermordet von einem der Leibwächter. Frey würde diesen und Drumont senior verhaften. Während der Leibwächter geopfert würde und einer lebenslangen Haftstrafe entgegensah, würde Drumont von seinen mächtigen Freunden in wenigen Tagen wieder rausgeholt werden. Frey würde als Heldin nach Marseille zurückkehren und Bernards Posten übernehmen. Drumont müsste zwar eine Menge erklären und hinter sich aufräumen, aber er würde davonkommen.

»Das kann nicht wahr sein«, riss eine entsetzte Stimme Bernard aus seinen Gedanken.

Raoul starrte auf den Multimediascreen an der Wand. Dort liefen Bilder der Überwachungskameras im Haus. Bernard schaute genauer hin. Als er erkannte, was Raoul gesehen hatte, setzte sein Herz einen Schlag aus. Wie hatten sie das nur geschafft?

Ein Bild zeigte Alex und Natalie. Sie standen in einem Flur und blickten ruhig in die über ihnen angebrachte Kamera.

»Wie kommen die hierher?«, fragte Frey scharf. »Die müssten längst tot sein.«

»Halt die Klappe«, schoss Raoul zurück.

Er eilte zum Schreibtisch und griff nach einer Fernbedienung. Er drückte ein paar Knöpfe, und die Bilder änderten sich.

Bernard beobachtete, wie Raoul einen weiteren Knopf drückte und die Leibwächter seines Vaters rief. Keine Antwort. Er rief sie noch einmal, wieder blieb der Lautsprecher stumm.

»Lass sie rein«, sagte Frey ruhig. »Fragen wir sie doch einfach!«

»Das ist eine Falle«, antwortete Raoul in gereiztem Ton. Doch Bernard sah ihm an, dass er keine andere Lösung parat hatte. »Okay«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Du entriegelst die Tür, ich nehme unsere Gäste in Empfang.«

Raoul trat vor, zog seine Waffe und richtete sie auf den Eingang. Dann gab er Frey ein Zeichen, die nun, ihre Waffe in der Hand, einen Schalter betätigte. Die Schlösser in der Tür klickten, und sie öffnete sich Zentimeter für Zentimeter.

Bernard dachte noch darüber nach, wie er Raoul außer Gefecht setzen konnte, als neben ihm Nivello nach vorn sprang. Wie ein Rugbyspieler rammte er dem überraschten Sohn des Kanzlers seine Schulter in die Magengrube. Beide fielen in einem Knäuel aus Gliedmaßen zu Boden. Raouls Pistole glitt ihm aus der Hand und verschwand unter einem der Sessel. Frey fluchte, legte den Schalter für die Tür wieder um und stand im nächsten Moment über den am Boden ringenden Gestalten.

»Keine Bewegung, Paolo«, schrie sie ihren ehemaligen Kollegen an. Dieser hatte mit seinen hinten aneinandergebundenen Armen gegen Raoul keine Chance und lag nun regungslos auf dem Rücken. Raoul stand auf und verpasste seinem Gegner einen letzten Tritt.

Bernard wusste, was jetzt kam. Er sah, wie Frey Nivello mit eisigem Blick musterte.

»Du warst schon immer ein impulsiver Schwachkopf«, sagte sie und hob ihre Waffe. »Aus dir wäre nie ein Commandante geworden.«

Der Knall des Schusses fuhr Bernard bis ins Mark. Freys Kopf kippte zur Seite, als die Kugel knapp oberhalb der Schläfe in ihren Schädel eindrang. Wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte, stürzte sie zu Boden.

Nivello, der nicht wusste, wie ihm geschah, zuckte zusammen, während sich Bernard und Raoul gleichzeitig in die Richtung drehten, aus der der Schuss gekommen war. Bernard brauchte einen Moment, ehe er sah, dass die Geheimtür, durch die der Kanzler mit Samir und den beiden entschwunden war, wenige Zentimeter geöffnet war. Nun glitt sie vollständig auf, und Fabrice Mannarino trat mit gezogener Waffe herein.

»Es ist vorbei, Drumont«, sagte er ruhig. Er ging zum Schreibtisch und drückte auf den Türknopf. »Wir haben Ihren Vater!«

»Und alle Leibwächter sind tot«, erklang Alex Kauffmanns Stimme von der anderen Seite des Zimmers. Gemeinsam mit Natalie Villeneuve betrat er den Raum. In der Hand hielt er einen Revolver.

Bernard sah, wie Alex und Fabrice einen Blick wechselten. Offenbar hatte sich außerhalb dieses Zimmers ein brutaler Kampf abgespielt, während Bernard und Nivello hier hatten ausharren müssen.

»Wenn das so ist«, sagte Bernard, »sind Sie hiermit verhaftet, Monsieur Drumont!«

Alle Augen im Raum richteten sich nun auf Raoul Drumont. Der Sohn des Kanzlers war kreidebleich. Er stand unsicher zwischen ihnen. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und Angst wider.

»Das werden Sie bereuen!«, stieß er hervor. Er hob die Hände und legte sie auf seinen Kopf.

Fabrice Mannarino ging zur Leiche Dominique Freys hinüber und tastete sie ab. Als er fand, wonach er gesucht hatte, trat er zu Bernard und Nivello und befreite sie von den Handschellen. Der Lieutenant bedankte sich und legte die Fesseln Raoul Drumont an.

»Sind Sie sicher, dass sonst niemand mehr im Haus ist?«, fragte Bernard.

»Nein«, antwortete der Rabbiner. »Aber wenn ich das hier richtig sehe«, sagte er und deutete auf das Schaltpult am Schreibtisch, »können wir von hier oben die Eingangstür zum Haus öffnen.«

»Paolo, ruf sofort die Jungs unten an und sag ihnen, sie sollen reinkommen und alles Zimmer für Zimmer absuchen. Wo ist der alte Drumont?«

»In einem Kellerverlies eingesperrt«, antwortete Alex.

»Okay«, sagte Bernard und drehte sich wieder Nivello zu. »Sag ihnen, sie sollen ihn einkassieren und abführen. Und du hältst bis dahin Kanzler junior in Schach.«

Als Nivello die Männer von der GIPN ins Haus gelassen hatte, wandte sich Bernard wieder den anderen dreien zu.

»Was ist vorgefallen?«

Fabrice schilderte in knappen Sätzen, was Richard Drumont gesagt hatte, wie sie entkommen waren und warum sie sich getrennt hatten.

»Wenn Sie zwei der drei Leibwächter aus dem Verkehr gezogen haben, was ist dann mit dem dritten passiert?«, wollte Bernard wissen.

Er bekam keine Antwort.

Stattdessen begann Natalie Villeneuve, unkontrolliert zu schluchzen. Alex nahm sie in den Arm und führte sie zum Sofa. Bernard verstand sofort. Er ging zur Bar hinüber, goss ein Glas Cognac ein und reichte es Alex, der Natalie geduldig trinken ließ.

Als sie zur Ruhe gekommen war, blickte Natalie unsicher auf. Mit brüchiger Stimme fragte sie: »Können wir endlich nach Hause?«