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Montag, 9. Juni 2014, Marseille, Frankreich
Natalie saß mit Alex auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens. Sie waren auf dem Weg nach Marseille. Der Smart würde ihnen gebracht werden, hatte Bernard ihnen versichert. Doch das war ihr egal.
Sie fühlte sich elend. Sie war müde, weil sie seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen hatte. In ihrem Magen klaffte ein riesiges Loch, da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie war wütend auf Bernard, auf seine Fragen und vor allem auf die Antworten, die sie in ihrer Wut gegeben hatte. Sie war traurig, weil jede Begegnung, jedes Gespräch, jeder Moment ihr zeigte, dass ihr Vater nie wieder da sein würde. Und sie wusste, dass die härteste Prüfung noch bevorstand: der Schock, der irgendwann kommen würde, wenn sie zu verarbeiten begann, wie sie Hugo von Arx hatte sterben sehen.
Sie fühlte sich ohnmächtig. Sie hatte Angst, ihre Augen zu schließen, weil sie sich vor den Bildern fürchtete, die dann vor ihrem inneren Auge auftauchen würden. Sie wollte einfach vergessen. Doch das war unmöglich.
Aus dem Augenwinkel sah sie Alex, der gedankenverloren aus dem Fenster blickte. Er hatte sich verändert, seit sie sich wiedergesehen hatten. In den wenigen Tagen hatte er mehr Emotionen gezeigt als in den letzten zehn Jahren. Kleine, kurze Augenblicke, in denen so etwas wie Sorge oder Ärger in ihm aufflackerte. Sie spürte, dass er versuchte, sie zu beschützen. Diese Augenblicke gaben ihr das Gefühl, nicht allein zu sein.
Sie hatte gedacht, die jahrelange Arbeit auf dem Bau habe sie abgehärtet. Sie hatte sich immer die schwersten Projekte ausgesucht, immer die Orte, an denen Konflikte vorprogrammiert waren. Sie wollte lernen, Stärke zu zeigen und mit Kritik umzugehen, die unter die Gürtellinie zielte. Doch nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was in den letzten Tagen über sie hereingebrochen war.
Das, was Alex und sie erlebten, überstieg alles, was sie in ihrem Leben je hatte aushalten müssen. Sie hatte ihr Leben in einer Oase aus Geborgenheit verbracht. Zumindest ihr zweites Leben bei Régis und Suzanne. Gott, wie sehr sie ihren Vater vermisste! Wenn das alles vorbei war, wollte sie für ihre Mutter da sein. Alles andere war zweitrangig. Niemand würde sie mehr brauchen als Suzanne.
In diesem Moment berührte Alex sie am Arm. Sie zuckte zusammen, fing sich aber sofort wieder.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er mit leiser Stimme. Er sah unsicher nach vorn. Ein junger Beamter steuerte den Wagen, während Nivello sie entweder im Rückspiegel beobachtete, mit seinem Handy herumhantierte oder seinen Notizblock malträtierte. Er sprach kein Wort.
Sie hatten noch eine Stunde im Gästehaus warten müssen, ehe sie aufgebrochen waren. Die Zeit hatten sie genutzt, um zu Hause anzurufen. Christophe war ans Telefon gegangen, was Natalie ganz lieb gewesen war. So hatte sie das Gespräch kurz halten können. Hätte sie ihre Mutter in der Leitung gehabt, wäre wohl alles zu spät gewesen. Und vor allem hätte sie ihr nicht so viel verschweigen können. So erzählte sie Christophe nur das Nötigste und ließ alle grausamen Details weg. Das Wichtigste war, dass es ihnen gut ging und dass sich Suzanne und Christophe keine Sorgen machen mussten. Immerhin würden sie jetzt, da waren sich Natalie und Alex sicher, unter ständiger Aufsicht der Polizei stehen.
Einzig dass sie Christophes Wagen in Aix-les-Bains hatten stehen lassen müssen, war ihr unangenehm. Aber Christophe hatte nur gelacht und gesagt, dass er mit Suzanne dann eben ein Wochenende dort verbringen müsse, um den Wagen abzuholen. Er nannte ihnen den Namen eines Hotels am Alten Hafen in Marseille, in dem er immer abstieg, wenn er beruflich dort war. Er würde sie beim Concierge ankündigen, sodass sie sich nicht um ein Zimmer kümmern mussten.
Als Natalie Alex davon erzählte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
»Dann werden wir wenigstens nicht in Armut leben die nächsten Tage«, meinte er.
Oder sterben, dachte Natalie.
Sie erreichten Marseille nach einer guten Stunde. Christophe hatte für sie ein Zimmer im Grand Hôtel Beauvau reserviert. Im Gegensatz zu dem Grand Hôtel in Aix-les-Bains strotzte dieses Haus auch beim zweiten Blick noch vor Luxus. Direkt am Alten Hafen der Mittelmeerbucht gelegen, schien es den historischen Glanz der zweitgrößten Stadt des Landes aufrechterhalten zu wollen. Massalia, die antike Stadt der Griechen und Kelten. Marseille, die geschichtsträchtige Stadt der Seefahrer. Marseille, die wichtigste Hafenstadt des modernen Frankreichs. Aber auch das andere Marseille, das Tor zum afrikanischen Kontinent, das Synonym für unkontrollierte Einwanderung, für Kriminalität und soziale Ungerechtigkeit. Der Alte Hafen war das perfekte Beispiel dafür. Yachten und Segelboote im Wasser, eine gepflegte Promenade, aber Armut in den Sozialwohnungen zwei Straßen weiter.
In der Rue Beauvau sah noch alles nach viel Geld aus. Ihr Wagen hielt hinter Bernards Auto. Ein Page in schwarzer Uniform trat aus den gläsernen Türen des Hotels und war enttäuscht, dass weder Natalie noch Alex Koffer dabeihatten. Die lagen noch in Christophes Auto. Einzig Alex’ Umhängetasche und Natalies Handtasche hatten die Jagd aus Fribourg in die Provence überstanden.
Bernard kam auf sie zu. Der Untersuchungsrichter wirkte nun freundlicher.
»Wir haben Ihre Angaben inzwischen überprüft. Alle Personen haben Ihre Aussagen bestätigt. Ich soll Ihnen von Pastor Thomas ausrichten, dass er Ihnen viel Kraft wünscht.«
»Vielen Dank«, erwiderte Natalie.
»Wie Sie sich denken können, werden wir Sie hier nicht allein lassen«, fuhr er fort. »Bitte halten Sie sich ab morgen Mittag bereit, ins Tribunal zu kommen. Sollte Ihnen bis dahin etwas einfallen oder sollten Sie etwas beobachten, das Sie beunruhigt, rufen Sie mich jederzeit an. Zögern Sie nicht!« Er drückte Alex eine Visitenkarte in die Hand. »Und wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben darf: Verzichten Sie auf das Essen im Restaurant Ihres Hotels!«
»Danke, wir werden es uns merken«, sagte Alex.
Sie verabschiedeten sich und sahen Bernard nach, als die beiden Polizeiautos davonfuhren. Bei allem Ärger, den sie heute gehabt hatten, hatte Natalie Verständnis für Bernard. Letztlich war er fair zu ihnen gewesen. Er musste seinen Job machen und hatte einen ziemlich hässlichen Fall am Hals, um den ihn sicher niemand beneidete.
Sie betraten das Foyer. Im ersten Moment war Natalie überrascht, und Alex schien es ebenfalls. Keine riesige Eingangshalle, keine hohen Decken, keine hellen, spiegelbehangenen, ausladenden Sitzecken, keine pompöse Bar und keine Rezeption, hinter der fünf Angestellte auf Gäste warteten. Im Gegenteil. Das Foyer war klein, aber fein. Am Empfang stand hinter einer edlen Holzverkleidung ein älterer Herr in der traditionellen Uniform eines Concierge. Die drei kleinen Sitzgruppen mit Ohrensesseln neben dem Eingang waren unbesetzt. Die Hutablagen über den Sofas waren mit klassischen Sonnenschirmen und Bowlern dekoriert. Am Fenster ruhten alte Reisekoffer, und es schien, als ob im Hotel die Zeit stehen geblieben und es darauf stolz wäre. Einzig der Computer an der Rezeption deutete darauf hin, dass die Abläufe in diesem Etablissement auf das Niveau des 21. Jahrhunderts gehievt worden waren.
Der Concierge begrüßte sie herzlich. Sie seien die erwarteten Gäste des Monsieur Christophe Wagner, richtig? Er habe persönlich dafür gesorgt, dass sie das beste verfügbare Zimmer erhielten.
Natalie, die der Concierge überschwänglich als Teil der Familie des Hotels willkommen hieß, nahm die Schlüsselkarte in Empfang, und sie wurden zum Aufzug geleitet. Sie fuhren in den fünften Stock und blieben vor Zimmer 514 stehen.
»›Suite Jean Cocteau‹«, las Alex vor. Das Messingschild zierte die dunkelbraune Tür. Rechts neben dem Eingang hing ein Bild des Schriftstellers und Regisseurs.
Sie betraten das Zimmer. Im ersten Moment war Natalie irritiert. Sie sah einen Schreibtisch, ein Sofa und einen Sessel. An einer Wand stand ein Sideboard. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zurückgezogen. Es war ein wunderschönes Zimmer, elegant eingerichtet, in warmen Farbtönen von Dunkelrot und Beige. Was fehlte, waren ein Bett und das Badezimmer. Erst im zweiten Moment nahm sie die kleine Treppe wahr, die von einem hinteren Eck des Zimmers auf eine Empore über ihnen führte. Nun sah sie über sich hinter einem Geländer ein großes Bett und die Tür zum Badezimmer.
»Erst das Luxembourg Parc in Paris, jetzt das Grand Hôtel von Marseille. Deine Familie meint es wirklich gut«, sagte Alex zu Natalie.
»Sieh es als kleine Entschädigung dafür, dass du das alles mitmachst«, erwiderte Natalie, die auf einmal eine unendliche Dankbarkeit für Alex empfand. In was hatte sie ihn da nur mit reingezogen? Wenn ihm etwas zustieße, würde sie sich das nie verzeihen. Sie trat an seine Seite und legte den Kopf auf seine Brust. »Ich bin dir unendlich dankbar, dass du mich mit dem ganzen Mist nicht allein gelassen hast.«
Sie löste sich nur widerwillig und stieg die Treppe hinauf. Das Hotel hatte ihnen sogar zwei Pyjamas auf dem Bett bereitgelegt. Selig, das Zimmer heute nicht mehr verlassen zu müssen, machten sich beide frisch, bestellten beim Zimmerservice etwas zu essen und ließen sich mit Pasta und Salat auf dem Bett nieder. Das Essen schmeckte nicht so schlecht wie nach Bernards Warnung befürchtet, doch Natalie glaubte, dass ihr nach diesem Tag alles wie Haute Cuisine vorgekommen wäre.
Während Natalie noch aß, holte Alex sein Tablet hervor.
»Was hast du vor?«
Er tippte ein paarmal auf den Bildschirm, dann tauchte eine Übersicht auf. Natalie erkannte eine Mindmap. In der Mitte stand ihr Vater. Von ihm führten Querverbindungen zu allen Namen, mit denen sie in den letzten Tagen zu tun gehabt hatten. Es wirkte wie ein Spinnennetz, in dem sie sich zu verheddern drohten.
Alex schien nicht mehr zu gefallen, was er sah. Er schob Régis nach links und stellte ihm ein zweites Netz gegenüber. Er nannte es »Die Wächter«. Dazwischen packte er ein drittes. Er nannte es »Natalies Familie«.
Sie spürte ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen. Sie stand im Mittelpunkt von alledem. Sie war der Grund, warum Serge Clement und Hugo von Arx hatten sterben müssen. Sie war der Grund, weshalb Régis vor vielen Jahren bedroht worden war. Was hatten andere Menschen ihretwegen aushalten müssen? All das nur, weil sie die Nachfahrin einer jüdischen Familie war, die ein Weingut besessen hatte? Was war mit ihrem Onkel, der noch irgendwo in der Welt herumturnte? Wie konnte sie allein durch ihre Existenz die Wächter bedrohen? Das einzig Beruhigende war, dass die Wächter von ihrer Blutlinie bislang offenbar keine Ahnung hatten. Sonst, da war sie sich sicher, hätte die Kugel des Scharfschützen in ihren Kopf eingeschlagen.
Im nächsten Moment sprang sie auf und rannte ins Bad. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, ehe sie sich übergab.