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Samstag, 7. Juni 2014, Paris/Strasbourg, Frankreich

Sie fuhren am frühen Morgen los. Bis nach Strasbourg waren es fast fünfhundert Kilometer. Obwohl Christophe ihnen seine Limousine geliehen hatte, würde die Fahrt gute fünf Stunden dauern. Alex hatte Pastor Thomas gesagt, sie würden versuchen, gegen ein Uhr in der Kirche zu sein. Vorher wollte er in einem Hotel einchecken, das er noch in der Nacht für Natalie und sich gebucht hatte. Er hatte keine Ahnung, was sie in Strasbourg erwartete. Aber er verspürte keine Lust, die Strecke gleich wieder zurückzufahren.

Die turbulenten Ereignisse des gestrigen Tages steckten ihm noch in den Knochen. Erst die Beerdigung. Dann die Nachricht des gestohlenen Testaments und des versiegelten Umschlags. Und schließlich der Antrag auf Akteneinsicht und der Anruf bei Pastor Thomas. Nachdem sie den Entschluss gefasst hatten, nach Strasbourg zu fahren, hatten sie noch Schabbat feiern wollen. Aber zu mehr, als dass Suzanne die Kerzen auf dem Fenstersims entzündete, hatten sie sich nicht mehr aufraffen können. Alex war ins Hotel gegangen, hatte seine Sachen gepackt und war anschließend während einer Fernsehdokumentation eingeschlafen.

Auch Natalie wirkte noch nicht fit. Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und hatte die Augen geschlossen. Ihre langen Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie trug Caprihosen, ein sommerliches Top, einen Cardigan und Sneaker. Auch ihre goldene Kette hatte sie wieder um ihren Hals, obwohl Trauernde eigentlich keinen Schmuck tragen sollten. Alex bemerkte, dass sie gleichmäßig atmete. Natalie schlief tief und fest. Er betrachtete sie einen langen Moment. Was wohl in ihr vorging? Er verspürte den Drang, ihre Hand zu nehmen. Natalie war mehr als nur eine Freundin. Sie gehörte zur Familie. Ihre Welt geriet ins Wanken. Er würde ihr helfen, dass sie nicht über ihr einstürzte.

Sie erreichten Strasbourg um kurz nach zwölf. Natalie hatte die meiste Zeit der Fahrt geschlafen. So hatte sich Alex in aller Ruhe auf das bevorstehende Treffen vorbereiten können. Er war noch mal jedes Detail der letzten achtundvierzig Stunden durchgegangen und hatte versucht zu rekonstruieren, wie Régis sie hierhergeführt haben konnte. Alles lief darauf hinaus, dass er sich explizit dieses eine Gedicht zu seiner Beerdigung gewünscht hatte. Dort hatte er alle Hinweise platziert. Das Buch neben der Schachtel mit der Puppe und dem Erpresserschreiben. Der Umschlag mit dem Antrag zur Akteneinsicht als Lesezeichen. Thomas’ Telefonnummer auf der entsprechenden Seite notiert. Was würde ihnen der Pastor nun zu sagen haben? Warum hatte Régis ausgerechnet Thomas als Mittelsmann ausgewählt? Wie hatte er sich so sicher sein können, dass sie die Nummer finden und Thomas anrufen würden? Und welche Rolle sollte er selbst, Alex, spielen?

Er parkte den Wagen in der Tiefgarage des Place Gutenberg. Zu Fuß gingen sie von dort die wenigen Meter zu ihrem kleinen Hotel. Das Hotel Gutenberg lag im Herzen der Altstadt unweit der berühmten Kathedrale. Alex hatte ein Doppelzimmer reserviert. Sie stellten ihre Koffer ab und machten sich kurz frisch. Alex wechselte sein Hemd, ließ sein Sakko aber auf dem Zimmer. Draußen war es schon wieder über fünfundzwanzig Grad warm. Sie verließen das Hotel und schlugen den Weg nach Osten ein.

»Du hast mir gar nicht verraten, dass wir heute Nacht in einem Bett schlafen werden«, sagte Natalie süffisant. Sie stieß ihn mit der Schulter an.

»Du bist ganz offensichtlich wieder wach und gut gelaunt«, antwortete Alex.

»Wenn ich den Jungs auf dem Bau am Montag erzähle, dass ich mit einem Mann in einem Bett geschlafen habe, werden sie mich fragen, was passiert ist. Mit allen Details.«

»Ich bin mir sicher, deine Phantasie wird sie nicht enttäuschen.«

»Du könntest der Phantasie ja ein bisschen nachhelfen«, konterte Natalie.

»In meiner Welt wäre das fast schon Inzest«, erwiderte Alex.

»Und in meiner Welt die Pointe einer guten Geschichte.«

Sie lachten das erste Mal seit Tagen, und Natalie hakte sich bei Alex unter. Die lange Turmspitze der Kathedrale ragte weit über die Häuserfassaden hinaus. Auf dem Vorplatz der Kirche hatte sich eine riesige Menschenmenge um ein Jazztrio versammelt. Doch sie waren mittlerweile zu nervös und neugierig auf Pastor Thomas, als dass sie Lust verspürt hätten, stehen zu bleiben und zuzuhören. Stattdessen ließen sie die Kathedrale rechts liegen und wandten sich auf der Rue du Dôme nordwärts. Alex wusste genau, wie sie zur Kirche Saint-Pierre-le-Jeune kommen würden. Er kannte Strasbourg gut. Abgesehen davon hatte Thomas ihm noch mal beschrieben, welchen Weg sie aus dem Zentrum nehmen sollten.

Die enge Gasse mit den vielen kleinen Geschäften führte sie vorbei am Place Broglie in Richtung der Ill. Der Kanal umschloss die Altstadt vollständig und bescherte Strasbourg so selbst an heißen Tagen wie heute eine kühle Brise. Alex und Natalie kamen an einer weiteren Kirche vorbei und überquerten einen Augenblick später eine Brücke. Auf der anderen Seite des Kanals liefen sie einige Meter am Ufer entlang und passierten den Justizpalast, auf dem die französische Flagge im Wind wehte. Dann hatten sie ihren Bestimmungsort erreicht.

Sie blieben einen Augenblick stehen und betrachteten die Kirche. Sie war aus rotem Vogesensandstein erbaut worden. Zwei Glockentürme rahmten das Mittelschiff ein, dessen Vierung von einer riesigen, kupferbedachten Kuppel gekrönt wurde. Alex hatte irgendwo gelesen, dass es die größte Kuppel im Elsass war.

Das Hauptportal hatte drei schwere Holzpforten. Alex öffnete eine, hielt Natalie die Tür auf, und sie traten ein.