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Mittwoch, 11. Juni 2014, Margaux, Frankreich
Bernard blickte in den Rückspiegel. Der Professor und der Rabbiner hockten auf der Rückbank seines Wagens. Nivello saß am Steuer. Sie fuhren mit Blaulicht aus Bordeaux hinaus in Richtung Margaux. Zum ersten Mal, seit all das hier begonnen hatte, wirkte Kauffmann auf ihn verstört. Wie ein Musiker, den man aus dem Takt gebracht und so verunsichert hatte, dass er nicht zu seinem Spiel zurückfand. Alle Rationalität schien von ihm abgefallen. Ein Professor, der seinem Verstand nicht mehr traute.
Der Rabbiner hingegen schien die Ruhe selbst zu sein. Bernard hatte in seinem Leben nicht viele jüdische Gelehrte getroffen. Aus Fabrice Mannarino wurde er noch nicht schlau. Er strahlte eine natürliche Würde aus und schien überaus gebildet zu sein. Eigenschaften also, die man von einem Rabbiner durchaus erwarten konnte. Bernard spürte aber, dass da noch etwas anderes war. Dieser Mann schien alles wahrzunehmen, was um ihn herum passierte. Bernard wusste nicht, ob Mannarino vor etwas auf der Hut, einfach nur ein guter Beobachter oder überdies noch gefährlich war. Er würde ihn im Blick behalten.
Draußen flogen Wälder, Weinberge, Gewerbegebiete und Wohnhäuser an ihnen vorbei. Hier lebte alles von der und für die Weinproduktion. Restaurants, Immobilienmakler, Laboratorien und natürlich die unzähligen Weingüter selbst.
Sie brauchten knapp zwanzig Minuten. Als sie nach Margaux kamen, hielt die Kolonne an einer Kreuzung. Sie hatten die Route klar festgelegt. Drei Wagen fuhren weiter geradeaus, drei weitere bogen ab. Sie würden sich gleich wieder treffen.
Bernard blickte wieder zu seinen beiden Passagieren auf der Rückbank. Während der Rabbiner beobachtete, wie sich die anderen Einsatzfahrzeuge entfernten, sah der Professor auf der anderen Seite aus dem Fenster. Am Ende eines Weinbergs, an dem sie gerade vorbeifuhren, lag eine kleine Kirche. Direkt dahinter tauchte ein riesiges Schloss auf: das Château Margaux, eines der berühmtesten und traditionsreichsten Weingüter der Welt.
Ihr Ziel lag nun direkt vor ihnen. Als sie das Anwesen des renommiertesten Weinproduzenten der Gegend passiert hatten, tauchte am Rande der abfallenden Straße ein weißes Mauerwerk auf. In eisernen Lettern stand dort geschrieben: »Château de l’Étoile«. Kurz dahinter, in einer Biegung, öffnete sich der Zufahrtsweg zum Weingut. Bernard gab Nivello die Anweisung, anzuhalten. Bald darauf kamen ihnen aus der anderen Richtung die restlichen Streifenwagen entgegen. Gemeinsam setzten sie sich wieder in Bewegung und steuerten in zügigem Tempo auf das Grundstück.
Eine Allee, von Zypressen gesäumt, führte sie zwischen Tausenden Weinstöcken hindurch zu einem großen Vorplatz. Ein massives Gittertor zwischen flachen Bauten in hellem Sandstein versperrte ihnen die Weiterfahrt. Bernard sprach einen kurzen Befehl in sein Funkgerät. Ein Polizist stieg aus einem der Streifenwagen aus und wollte gerade zum Tor gehen, als sich dieses automatisch öffnete.
»Wir werden offenbar erwartet«, sagte Nivello.
Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung.
»Überall Kameras«, hörte Bernard den Rabbiner murmeln.
»Sie haben ein gutes Auge«, bemerkte er.
»In Israel achtet man auf Sicherheitsmaßnahmen.«
»Wenn wir tatsächlich bereits erwartet werden«, erwachte nun auch Kauffmann aus seiner Lethargie, »dürfte Natalie wohl ziemlich sicher nicht hier sein.«
»Das werden wir bald erfahren«, erwiderte Bernard.
Die sechs Streifenwagen parkten in einer Reihe vor dem imposanten Schloss. Zwei Spitztürme rahmten eine vierstöckige Fassade ein, in deren Mitte eine breite Treppe zum Hauptportal hinaufführte. Bernard musste zugeben, dass er beeindruckt war. Dieses Anwesen war von Natalie Villeneuves Familie erbaut worden. Die heutigen Eigentümer hatten sich offenbar in ein gut gemachtes Nest gesetzt.
»Dann wollen wir sie mal aufscheuchen«, gab er das Kommando zum Aussteigen.
Die Police Nationale in Bordeaux hatte ihm zehn Leute zur Verfügung gestellt. Zusammen mit Nivello und Frey waren sie dreizehn Beamte, die nun, mit einem Professor und einem Rabbiner im Schlepptau, die Treppen zum Château de l’Étoile emporstiegen. Sie waren noch nicht oben angekommen, da öffnete sich das Portal, und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Er trug einen schwarzen Gehrock, eine gestreifte Hose, eine Schalkrawatte und, wie Bernard belustigt feststellte, weiße Handschuhe aus Baumwolle. Er sah aus wie einem Museum entsprungen. Ein Diener der alten Schule.
»Messieurs! Willkommen auf dem Château de l’Étoile! Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Kein Lächeln, vielmehr ein hochnäsiger, kühler Blick. Nicht alte, sondern ganz alte Schule, dachte Bernard.
»Mein Name ist Pascal Bernard, Juge d’Instruction am Tribunal de Grande Instance in Marseille. Ich muss Sie bitten, mich umgehend zum Herrn des Hauses zu führen.«
»Selbstverständlich, Monsieur le Juge«, entgegnete der Diener, gelangweilt dreinblickend. »Ich werde den Baron über Ihr Erscheinen in Kenntnis setzen.«
Er war gerade im Begriff, Bernard wieder die Tür vor der Nase zuzuschlagen, als eine tiefe Stimme erklang.
»Albert, vielen Dank! Ich übernehme ab hier.« Ein kleiner Mann Mitte siebzig erschien neben seinem Untergebenen.
»Wie Sie wünschen, Baron«, erwiderte der Gehrock steif. Er deutete eine dezente Verbeugung an und verschwand ohne ein weiteres Wort.
»Baron Edouard Guibert«, stellte sich der Mann vor.
Bernard fiel sofort auf, dass sein Gegenüber eine für einen Weintrinker überaus praktische, weil große Nase besaß. Aus den geplatzten Äderchen schloss er, dass Guibert sie ohne Frage schon etwas zu häufig in dem einen oder anderen Weinglas hatte verschwinden lassen. Sein Bauchumfang zeugte überdies von zahlreichen, zum Wein passenden Mahlzeiten. Ansonsten wirkte er für einen Baron fast unscheinbar, fast so, als wolle er durch schiere Körperfülle fehlende Autorität verschleiern.
»Wie kann ich einem Richter aus Marseille helfen?«
»Sie scheinen nicht gerade überrascht, dass wir hier mit einer halben Garnison aufwarten.«
»Monsieur le Juge, Sie müssen wissen, ich bin ein Mann, den nur noch wenig überrascht«, sagte er in jovialem Ton. »Wir hatten vor ein paar Jahren mal so einen Fall. Ein Junge aus dem Ort wurde vermisst. Eines Morgens stand die Polizei vor der Tür. So wie Sie heute. Sie hatten einen Tipp bekommen. Am Ende stellte sich heraus, dass ein Konkurrent den billigen Versuch unternommen hatte, den guten Ruf unseres Hauses zu beschädigen. Ich habe ihn verklagt, und seitdem ist er ruhig. Sie verstehen, was ich meine. Allerdings haben Sie meine Neugier geweckt. Also, worum geht es heute?«
»Wurde der Junge gefunden?«
»Leider nein, er gilt bis heute als vermisst. Eine wahre Tragödie.«
»Sehen Sie, und genau deshalb sind wir hier. Wir wollen eine neuerliche Tragödie vermeiden. Heute Mittag ist mitten in Bordeaux eine junge Frau entführt worden.«
»Das ist ja schrecklich«, stieß der Mann aus, um im nächsten Moment wieder in aller Ruhe zu fragen: »Aber was führt Sie ausgerechnet hierher? Doch nicht etwa die schlimmen Gerüchte von damals!«
»Nein, Gerüchte interessieren mich nicht«, sagte Bernard mit einem Lächeln. »Dieses Mal gibt es Beweise, Baron Guibert.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Guiberts Augen verengten sich, sein Mund kräuselte sich zu einem kleinen, faltigen Rund. Missbilligung! Bernard hatte den Eindruck, dass sein Gegenüber diesen Gesichtsausdruck vor dem Spiegel geübt haben musste, so unnatürlich schien ihm diese Mimik. Ganz sicher nicht gespielt war hingegen der harsche Ton, den er nun anschlug. Von seiner arroganten, gönnerhaften Art war nichts mehr übrig.
»Wir suchen Natalie Villeneuve. Sagt Ihnen dieser Name etwas?«
»Nein! Wer soll das sein?«
»Sie ist die Enkelin einer gewissen Rahel Étoile. Kommt Ihnen dieser Name vielleicht bekannter vor?«
»Étoile?« Guiberts Gesicht wurde aschfahl. »Die Enkelin? Aber das ist …«
»Unmöglich? Was soll unmöglich sein? Dass Rahel Étoile eine Nachfahrin hat? Da haben Sie recht! Das ist eigentlich undenkbar, nicht wahr? Wenn man bedenkt, dass Ihr Vater geholfen hat, die Familie Étoile von den Nazis deportieren zu lassen.«
Mit einem Male war Guiberts Gesichtsfarbe wieder da. »Das ist eine infame Unterstellung! Sie wagen es, das Grab meines Vaters zu beschmutzen? Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Nur weil Sie mit der halben Staatsmacht angerückt sind, haben Sie kein Recht, eine derartige Anschuldigung auszusprechen.«
Er fuchtelte mit seinem wulstigen Zeigefinger vor Bernards Nase herum. Doch Bernard wich keinen Zentimeter zurück.
»Habe ich unrecht?«
»Darüber wird ein Gericht zu entscheiden haben, wenn ich Sie verklagt habe. Sie haben offenbar keine Ahnung, wer vor Ihnen steht. Ich werde dafür sorgen, dass Sie die längste Zeit Ihres Lebens Juge d’Instruction gewesen sind.«
»Dann sollten Sie sich mit der Anzeige beeilen. Ich habe ohnehin nicht vor, diesen Job noch lange zu machen. Bis dahin aber«, er trat an Guibert vorbei in die Eingangshalle, »haben wir noch viel zu tun.« Er wandte sich wieder dem Baron zu und trat ganz nah an ihn heran. »Also noch mal von vorn: Natalie Villeneuve wird vermisst. Ist sie hier? Sagen Sie es mir am besten sofort! Andernfalls fangen meine Leute an, alles auf den Kopf zu stellen. Und zwar wirklich alles!«
»Sie ist nicht hier!«, schrie Guibert wütend. Seine Stimme überschlug sich und geriet einige Tonlagen zu hoch.
»Wenig überzeugend«, antwortete Bernard kühl und blickte zu seinen Leuten. »Auf geht’s!«
Sofort schwärmten die Beamten unter Freys Leitung aus. Nivello blieb mit Kauffmann und Mannarino zurück.
»Und wir«, Bernard bedeutete dem Baron, sich in Bewegung zu setzen, »werden uns jetzt noch mal in aller Ruhe unterhalten.«