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Montag, 9. Juni 2014, Vallée de Vauvenargues, Frankreich

»Monsieur? Sie müssen Ihren Wagen wegfahren.«

Bernard war gerade dabei, das Erdloch zu begutachten, in dem der Leichnam begraben worden war. Er hob den Kopf und sah einen Gendarmen, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Er war jung, trug volle Motorraduniform und blickte ihn überheblich an.

Bernard erhob sich, klopfte die Hände an seiner Jeans ab und strich sein Hemd glatt.

»Ist Ihnen kalt, so dick, wie Sie angezogen sind?«

Der Gendarm verzog keine Miene. Bernard wusste, dass der Typ ihm am liebsten seinen Helm über den Schädel gezogen hätte. Dem Mann liefen die Schweißperlen in Bächen die Stirn hinab.

»Ach, mein Auto!«, fuhr er fort. »Steht es im Weg? Sie wollen sicher los und die Leiche in die Pathologie fahren. Stimmt’s? Wichtiger Job, wichtiger Job! Da will ich Sie mal nicht aufhalten. Aber geben Sie gut acht, Monsieur. Wir brauchen die Leiche noch.«

»Major! Nicht Monsieur!«

Bernards Lächeln gefror. »Wirklich? Ich sag Ihnen mal was. Mir ist es scheißegal, wie Sie heißen oder welchen Rang Sie in Ihrem komischen Verein haben. Das Einzige, was ich weiß und was Sie sich hinter die Ohren schreiben sollten, ist: Der Staatsanwalt persönlich hat angeordnet, dass ich hier das Sagen habe. Solange Sie also an meinem Tatort rumlungern, stehen Sie stramm, wenn Sie mit mir reden. Habe ich mich klar ausgedrückt, Soldat?« Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden. Den letzten Satz brüllte er ihm ins Gesicht.

Prompt nahm der Gendarm Haltung an. »Jawohl!«

»Gut«, sagte Bernard. Militär war Militär. Er sprach wieder in normaler Stimmlage. »Und jetzt setze ich selbstverständlich mein Auto weg. Denn auch ich habe ein Interesse daran, dass die Leiche so schnell wie möglich bei Dr. Dalmasso auf dem Tisch liegt.«

Mittlerweile war es nach elf. Die Presse hatte bereits Wind von der Sache bekommen, und Reporter belagerten an der Absperrung seine Leute. In dieser Hinsicht waren Gendarmen, die auf Soldaten machten, genau die Richtigen. Trotzdem wusste Bernard, wie findig Journalisten waren. Es würde nicht lange dauern, bis sie versuchten, sich von einer anderen Seite des Waldes zu nähern und mit ihren Kameras Aufnahmen vom Fundort der Leiche zu schießen. Er hatte längst Trupps ausgeschickt, die im Umkreis von zweihundert Metern patrouillierten.

Was ihm aber noch mehr Kopfzerbrechen bereitete, war die eintätowierte Nummer des Toten. Dalmasso hatte ihnen in einem kurzen Vortrag erklärt, woher sie stammte. Bernard hatte es schon geahnt. Der Ermordete war ein ehemaliger Auschwitz-Häftling.

»Die Nazis haben ihnen ihre Identität geraubt. Wer in ein Lager kam, verlor seine Kleidung, seine Haare, seinen letzten Besitz und seinen Namen«, hatte der Pathologe erklärt. »Stattdessen bekamen sie Nummern. Mehr waren sie nicht mehr wert. Eine Nummer unter vielen.« Auschwitz sei das einzige Lager gewesen, in dem die Nummern den Gefangenen eintätowiert worden seien. »Nirgendwo sonst haben sie so viele getötet. Die Nazis haben ihnen die Nummern gestochen, um Verwechslungen zu vermeiden. In ihrer Abartigkeit wollten die sichergehen, dass sie nachvollziehen konnten, wen sie da gerade vergast oder abgeknallt hatten.«

Bernard hatte gehofft, dass sie seinen letzten Fall schnell lösen konnten. Aber das hier war schon jetzt ein Alptraum. Ein Opfer der Nazis, ein ehemaliger Auschwitz-Häftling, gefoltert, ermordet, zerstückelt und in einem Waldstück begraben. Das konnte schnell zu einer schmutzigen Schlacht werden. Ein gefundenes Fressen für die Medien, wenn erst mal Details ans Licht kamen. Und sie kamen immer ans Licht.

Zumindest konnte er hoffen, den Toten mit Hilfe der Nummer schnell zu identifizieren. Dalmasso hatte einen Freund bei Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte. Dort lagerten Unmengen an Listen mit den Namen und Nummern einstiger Häftlinge. Mit etwas Glück würden sie bald erfahren, wer das Opfer war.

»Hat sich der Doc schon gemeldet?«, fragte Frey. Sie strich sich eine Strähne ihrer roten Mähne aus dem Gesicht und kam mit Gerry herüber. Sie sah genervt aus.

»Noch nicht. Habt ihr was?«

»Nichts«, entgegnete Frey. Noch immer kämpfte sie mit der Strähne. Schließlich gab sie es auf und band sich ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz.

»Rein gar nichts«, schimpfte Gerry. »Rotkäppchen hier ist mit mir gerade alle Fundstücke durchgegangen, die meine Männer und ich in den letzten Stunden gesammelt haben. Nichts dabei, was auch nur annähernd nach einem Treffer aussieht. Ich fahre jetzt mit dem ganzen Ramsch zum INPS und werde unseren Laborratten Feuer unterm Hintern machen. Aber ich fürchte, dass unsere einzige Hoffnung auf dem Boden liegt. Dass jemand irgendwo hingepinkelt hat oder wir ein Haar herausfiltern. Nur glaube ich nicht daran. Abgesehen davon haben der Hund und sein Herrchen ohnehin das meiste kontaminiert.«

Das war das große Problem mit Fundorten. Wann entdeckte schon mal jemand eine Leiche, der wusste, dass er mit jedem weiteren Schritt, den er machte, Spuren zerstörte? Und ein Hund, der an allem schnüffelte und, wenn man Pech hatte, auch noch sein Revier markierte, machte es nur schlimmer.

»Wo ist eigentlich Nivello?«, fragte Bernard.

»Der ist mit meinen Jungs unterwegs«, antwortete Gerry. »Die durchkämmen den Wald noch mal in einem weiteren Radius. Vielleicht haben wir da draußen noch was übersehen.«

»Gut. Dann hau jetzt ab und mach im Labor Druck.«

»Geht klar, Chef!«

In diesem Moment klingelte Bernards Handy. Es war Dalmasso.

»Na endlich«, sagte er.

Er hörte einige Sekunden zu, schrieb etwas auf einen Notizblock und bedankte sich.

»Wir haben den Namen!«