15

Dienstag, 10. Juni 2014, Marseille, Frankreich

Der Palais de Justice entsprach genau den Vorstellungen, die Alex von einem Justizgebäude hatte. Eine breite Treppe führte zu einer von Säulen gesäumten Eingangshalle hinauf. Die riesige Pforte zum Inneren der französischen Judikative war verschlossen, aber Alex und Natalie mussten auch nicht dort hinein. Ihr Ziel lag in einer Seitenstraße des Justizpalastes. In der Rue Joseph Autran befand sich das Tribunal de Grande Instance. In diesem Gebäude wurden alle großen Kriminalfälle der Region verhandelt. Hier saßen die Staatsanwälte und Richter, leiteten die Ermittlungen und trafen sich in den Gerichtssälen des Hauses.

Das Gebäude war das genaue Gegenteil des Justizpalastes. Es war modern und verglast, mit geschmacklich fragwürdigen, rot lackierten Metallverstrebungen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Alex eher auf eine runtergekommene Unternehmensberatung oder auf eine Jugendherberge getippt. Aber als er es sich recht überlegte, war diese architektonische Verirrung genau das, was zu einem öffentlichen Amt passte. Wahrscheinlich hatte es viel Geld gekostet, und jeder, der darin tätig sein musste, fluchte über unwürdige Arbeitsbedingungen.

Als sie durch die Schleuse in die Eingangshalle traten, fühlte sich Alex bestätigt. An einem Metalldetektor warteten schlecht gelaunte Beamte, die Natalies Handtasche und seine Umhängetasche durchleuchteten. Dann meldeten sie sich an einem Schalter an, in dessen Innerem unerträglich schlechte Luft zu herrschen schien und sich eine Dame an ihrem Schreibtisch hilflos mit einem Prospekt Luft zufächerte.

Bernard erwartete sie bereits. Sie wurden auf die andere Seite der Eingangshalle zu den Aufzügen verwiesen, um in die vierte Etage zu fahren. Dort, in Büro 406, würde sie Monsieur le Juge empfangen. Als sie oben ankamen, mussten sie noch einmal klingeln, um in den Bürotrakt eingelassen zu werden. Dann trat Bernard auf den unansehnlichen Flur hinaus und hieß sie in seinem Reich willkommen.

Dieses Reich war alles andere als glamourös. Alte, abgenutzte Möbel, wenig einladende Besucherstühle, der Raum ließ jede Wärme vermissen. Abgesehen von der stickigen Luft. Eine Landkarte Frankreichs hing an der Wand, dazu das gerahmte Foto einer Frau auf dem Schreibtisch. Bernard schien sich entweder nichts aus einem gemütlichen Arbeitszimmer zu machen oder präferierte eine Umgebung so grau wie seine eigene Erscheinung.

Die Stimmung des Juge entsprach der Atmosphäre des Zimmers.

»Vielen Dank für Ihr Erscheinen«, begrüßte sie Bernard. »Ich komme gleich zur Sache. Es gibt mehrere Dinge, die wir zu besprechen haben. Zunächst einmal: Haben Sie Madame Villeneuve erreicht?«

»Ja«, antwortete Natalie. »Sie kehrt heute erst sehr spät nach Hause zurück, sie ist mit ihrem Bruder weggefahren. Aber sie erwartet morgen früh die Dame, die die Briefe in Empfang nehmen soll.«

»Gut«, sagte Bernard, schien sich aber über die erneute Verzögerung zu ärgern. »Dann sollten Sie wissen, dass die beiden Söhne des Verstorbenen eingetroffen sind. Sie stehen gerade meinen Kollegen Rede und Antwort. Ich möchte, dass wir uns im Anschluss an unser Gespräch zusammensetzen.«

Er machte eine kurze Pause und sah sie nacheinander an. »Und nun kommen wir zum unerfreulichen Teil. Zu Ihren Erlebnissen in Aix-les-Bains.«

Alex und Natalie sahen ihn überrascht an. »Wir haben Ihnen alles gesagt«, erwiderte Natalie.

»Davon gehe ich aus«, sagte Bernard. »Allerdings wissen wir mittlerweile etwas mehr. Und deshalb muss ich mit Ihnen reden. Ich muss Sie warnen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Polizisten, die Sie in Aix aufsuchen wollten, keine unserer Beamten waren.«

»Was soll das heißen?«, fragte Alex. »Wir haben sie mit unseren eigenen Augen gesehen. Sie trugen –«

»Uniformen?«, unterbrach ihn Bernard. »Fuhren Streifenwagen? Ja, das sagten Sie bereits. Und doch hat unsere Zentrale vor Ort keinen solchen Einsatz durchgeführt. Zumindest nicht offiziell. Wir klären noch die Details, aber eines ist sicher: Das waren keine Polizisten, die Sie auf einem Revier befragen wollten.« Der Juge sah sie eindringlich an. »Wie gesagt, ich muss Sie warnen. Sie haben in den letzten Tagen Detektiv gespielt. Sie wollten ermitteln. Sie haben geglaubt, zu wissen, mit wem oder was Sie es zu tun haben. Aber nicht einmal uns hier ist das klar. Das Einzige, was mit jeder Minute deutlicher wird, ist, dass es sich um eine einflussreiche Organisation handelt. Ich kann Ihnen versichern, dass ich mittlerweile mehr weiß als Sie. Und dieses Wissen beunruhigt sogar mich. Wenn Sie also weiter vorhaben, auf eigene Faust loszuziehen, werde ich Ihnen nicht mehr helfen können. Haben Sie mich verstanden?«

Alex sah Natalie an. Bernards Ansprache hatte sie verblüfft, aber nicht wegen dem, was er gesagt, sondern wie er es gesagt hatte. Er wollte ihnen offenbar Angst einjagen. Er wollte ihnen mit allen Mitteln klarmachen, dass für sie die Reise hier zu Ende war. Wenn jemand weiterermittelte, dann waren es Bernard und seine Leute, nicht Natalie und er.

Mit einem Male nickte Natalie. Alex wusste, was das bedeutete. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die nur sie hatte treffen können. Eine Entscheidung, die einzig und allein auf Vertrauen basierte.

»Monsieur le Juge«, begann sie und setzte sich dabei noch aufrechter hin. »Ich glaube, es ist an der Zeit, Ihnen etwas über mich zu erzählen. Bevor ich anfange, müssen Sie mir aber etwas versprechen.«

Bernard sah sie überrascht an.

»Und was darf das sein?«

»Dass niemand, und ich meine wirklich niemand, etwas von dem erfährt, was ich Ihnen nun sagen werde.«

Bernard blickte erst Natalie und dann Alex an. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann stimmte er zu.

Natalie und Alex brauchten fast eine Stunde. Sie fingen noch einmal ganz von vorn an. Sie begannen bei Alex’ Ankunft in Paris, berichteten vom Erpresserbrief, vom Versuch, das Testament früher öffnen zu lassen, und vom Einbruch in die Kanzlei des Notars während der Beerdigung. Sie erwähnten den versiegelten Brief, den Régis seinem Testament hinzugefügt hatte, und den Gedichtband, in dem sie die Telefonnummer des Pastors entdeckt hatten. Sie schilderten ihren Besuch bei Thomas in Strasbourg. Natalie wiederholte, was ihnen der Pastor über ihre Familie gesagt hatte. Wie Régis mit ihren Großeltern nach Strasbourg gekommen war. Dass irgendwo noch ein Onkel von ihr lebte. Warum Natalie ins Waisenhaus gekommen und wie sie anhand ihrer Halskette von Régis erkannt worden war.

Bernard hörte aufmerksam zu, stellte Fragen, machte sich aber keine Notizen. Er schien längst verstanden zu haben, dass es nicht nur um die Lösung des Falls ging, sondern auch um Natalies Leben.

Sie schilderten ihm die Stunden in Fribourg. Den Einbruch. Die Botschaft mit Alex’ Adoptionsurkunde an der Wand. Die Erkenntnis, dass auch bei Professor von Arx eingebrochen worden war. Den Mord.

Vor allem aber, und alles schien die ganze Zeit auf diesen einen Augenblick hingeführt zu haben, wiederholte und vollendete Alex die letzten Worte seines Professors: »Les Gardiens!«

»Es gibt sie also wirklich«, erwiderte Bernard nach einem Moment der Stille.

»Sie haben von ihnen gehört?«, fragte Alex.

»In meiner Position hört man so manches über die Jahre. Aber man glaubt nicht alles. Ich habe die Existenz der Wächter für möglich, aber nicht für sehr wahrscheinlich gehalten.«

»Sie scheinen ziemlich real zu sein«, sagte Alex. Er erzählte, was er über sie wusste.

»Welche Rolle spielt Ihre Familie für die Wächter?«, fragte Bernard, an Natalie gerichtet.

»Alex ist sich sicher, dass meine Großeltern ein Weingut besessen haben, das sich die Wächter damals unter den Nagel rissen.«

»Und Serge Clement, dessen Eltern selbst Winzer waren, hätte Ihnen als Ahnenforscher die letzten Beweise liefern können.«

»Das hatten wir gehofft.«

Bernard dachte einen Moment nach. »Ein Weingut«, nahm er den Faden wieder auf. »Okay. Das ist ein Anfang. Ein Ansatzpunkt. Aber ich habe das Gefühl, dass es nur die Spitze des Eisbergs ist.«

Alex setzte sich vor. »Warum glauben Sie das?«

Bernard sah sie ernst an. »Wir wissen, dass Serge Clement und Régis Villeneuve von einem Spion innerhalb des französischen Geheimdienstes abgehört wurden.«

Er hob die Hände, als Alex bereits einhaken wollte. Dann erklärte er, was ihm ein Agent, dessen Namen er nicht nennen wollte, mitgeteilt hatte.

Mit einem Male legte sich eine bleierne Schwere über Alex. Er fühlte sich hilflos. Er wusste, dass sie hier im Tribunal eigentlich sicher sein sollten. Doch wo waren sie überhaupt noch sicher, wenn selbst der Geheimdienst unterwandert worden war? Was konnten sie allein überhaupt noch erreichen? Régis hatte ihnen eine Fährte gelegt. Doch diese Fährte war nichts mehr wert, wenn hinter jeder Biegung jemand mit einer Waffe auf sie warten konnte.

Bernard schien seine Unruhe zu spüren.

»Ich weiß, dass Sie besorgt sind. Es spricht einiges dafür, dass tatsächlich eine Organisation wie die Wächter hinter den Vorfällen steckt. Und ich habe das Gefühl, dass Ariel und Yaron Clement das bestätigen werden. Daher schlage ich vor, dass wir jetzt nach nebenan gehen und mit ihnen sprechen.«