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Donnerstag, 12. Juni 2014, Bordeaux, Frankreich

Insgeheim war der Kanzler froh, dass sich Bernard als Ehrenmann erwiesen hatte. Einerseits, weil Drumont sonst an seiner Menschenkenntnis gezweifelt hätte. Und andererseits, weil es ihm trotz allem gestunken hätte, die zwanzig Millionen Euro zu zahlen, die er als Bestechungsgelder vorgesehen hatte. Jetzt mussten sie zwar zu einer unangenehmen Lösung greifen, aber dafür war ohnehin längst alles vorbereitet. Der Kanzler hatte mit nichts anderem ernsthaft gerechnet.

Er betrachtete das Bild, das sich ihm in seinem Arbeitszimmer bot. Samir stand neben dem Schreibtisch und zielte mit seiner Waffe auf Paolo Nivello. Dominique Frey richtete die ihre auf ihren nun ehemaligen Vorgesetzten. Alexander Kauffmann und Fabrice Mannarino standen wie vom Donner gerührt hinter den beiden Beamten. Besonders Kauffmann sah elend aus.

»Ich liebe es, wenn Masken fallen und die wahren Gesichter von Menschen zum Vorschein kommen«, sagte der Kanzler. »Lassen Sie uns also mit dem zweiten Akt dieses wunderbaren Schauspiels beginnen. Dafür«, er lehnte sich vor und drückte einen Knopf auf der internen Sprechanlage, »benötigen wir aber noch Unterstützung. Quasi weitere Schauspieler. Und wer wäre da besser geeignet als mein Sohn Raoul? Professor Kauffmann, Sie dürften ihn bereits kennen. Allerdings unter dem Namen Robert Bossis.«

Wie aufs Stichwort öffnete sich eine bis dahin unsichtbare Tür in der Mahagonivertäfelung neben dem Schreibtisch. Raoul trat ein.

»Guten Morgen, Vater«, grüßte er.

»Guten Morgen, mein Sohn. Ich glaube, wir können uns die Vorstellungsrunde sparen. Wir wollen uns jetzt auch nicht mehr mit Erklärungen und Details aufhalten. Wenn ein Theaterstück einmal Fahrt aufgenommen hat, sollte man es am besten laufen lassen. Fahren wir also fort. Einige von uns müssen die Bühne nun verlassen. Samir, bring mir doch bitte die Herren Kauffmann und Mannarino her.«

Der Kanzler genoss es, den Regisseur dieser Inszenierung zu spielen. Er sah zu, wie Samir mit seiner Waffe in Richtung der beiden deutete und diese sich nach kurzem Zögern vorsichtig in Bewegung setzten.

»Was haben Sie vor?«, fragte Bernard.

»Ich habe eine Willkommensfeier für meine beiden Gäste hier vorbereitet«, sagte Drumont. »Ich muss dafür Ihr Wohl für einige Minuten in die fähigen Hände meines Sohnes legen. Madame Frey wird auch bei Ihnen bleiben. Samir und ich werden derweil ein kleines Wiedersehen organisieren. Alex«, sagte der Kanzler, während er mit Samir und seinen beiden »Gästen« durch die Geheimtür in den Nebenraum ging. »Ich darf Sie jetzt doch Alex nennen, da wir uns nun etwas besser kennengelernt haben, nicht? Also, Alex, Sie haben vorhin etwas unwirsch in Erfahrung bringen wollen, wo sich Ihre Freundin Natalie aufhält. Ich kann Ihnen versichern, dass wir ihr nichts getan haben. Sie werden sich davon überzeugen können, dass wir ihr eine respektable Unterkunft gegeben und auf jedwedes Gespräch verzichtet haben. Wir haben ihr den Aufenthalt in meinem Haus so annehmlich wie möglich gestaltet.«

Sie durchquerten das private Esszimmer des Kanzlers und gelangten in einen Flur, von dem ein Fahrstuhl in den Keller führte. Als sich die Türen im Untergeschoss öffneten, trat ihnen ein Mann entgegen.

»Wie geht es ihr, Janosch?«, erkundigte sich Drumont.

»Sie ist wach«, antwortete der Bodyguard emotionslos.

Er führte sie einen Gang entlang, an dessen Ende der große Besprechungsraum lag, in den Drumont seine Wächter immer geladen hatte. Ein solches Treffen in diesen Räumlichkeiten würde es wahrscheinlich nie wieder geben. Der Kanzler war vorsichtig mit dem Begriff »nie«, aber er wusste, dass der Ausweg, für den er sich nun entschieden hatte, auch eine wesentliche Veränderung seines Lebens mit sich bringen würde.

Etwas wehmütig wandte er sich wieder der Realität zu. Sie erreichten das »Gästezimmer«. Eine Stahltür mit mehreren Riegeln versperrte ihnen den Zutritt. Janosch öffnete sie. Als sie aufschwang und den Blick in den fensterlosen Raum freigab, wusste der Kanzler, was geschehen würde.

»Natalie!«, rief Kauffmann und stürzte los. Sie saß auf einem Bett in der hinteren Ecke des Zimmers. Sie trug eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover in ihrer Größe, Sachen, die Janosch auf Anweisung des Kanzlers hin besorgt und ihr vor wenigen Minuten gegeben hatte. Ihre Haare hatte sie zu einem wilden Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah müde aus. Als sie erkannte, wer ihr Zimmer betreten hatte, stand sie ruckartig auf und fiel ihm in die Arme. Derweil bedeutete Samir dem Rabbiner, ebenfalls die Zelle zu betreten.

Drumont hatte kein Interesse an weiteren Diskussionen. Diese drei Gestalten hatten ihren letzten Bestimmungsort erreicht. Es war an der Zeit, Fakten zu schaffen.

»Da Sie nun alle vereint sind und füreinander sorgen, können wir zur Tat schreiten.« Er gab Janosch ein Zeichen, der sich zurückzog, um die letzten Vorbereitungen der bevorstehenden Abreise vorzunehmen. Wenn sie hier fertig waren, bestand kein Grund mehr, auch nur eine Minute länger im Haus zu bleiben. Bis sich die Herren der GIPN vor der Haustür dazu entschlossen hatten, einzudringen, wären sie schon lange nicht mehr hier.

»Ich muss Ihnen meinen Respekt aussprechen. Das gehört, finde ich, dazu. Sie haben es geschafft, uns vor einige Herausforderungen zu stellen«, begann Drumont. »Ich habe Hochachtung vor Menschen, die mit eisernem Willen verfolgen, woran sie glauben. Sie haben sich als würdige Gegner unserer Organisation erwiesen.«

Er lächelte gönnerhaft. »Aber wie es eben so ist, manchmal strauchelt man über seine besten Charakterzüge. Sie, Monsieur Mannarino, hätten sich selbst als Erbe der Familien Hinault und Étoile anbieten können. Stattdessen haben Sie Ihre Nichte auf diesen Weg geführt und am Ende ihr Leben damit riskiert. Das Ergebnis ist, dass Sie nun beide in meiner Gewalt sind. Haben Sie wirklich geglaubt, ich lasse mir wegen einer verdammten alten Klausel einfach alles wegnehmen, wofür ich mein ganzes Leben gearbeitet habe? Ich habe ein durchaus ausgeprägtes Interesse daran, dass Sie beide diesen Raum hier nicht lebend verlassen.«

Er wandte sich Alex zu. »Und Sie, Professor, kann ich leider auch nicht verschonen. Sie sind Zeuge, Mitwisser und viel zu klug, um nicht doch noch einen Weg zu finden, mich hinter Gitter zu bringen. Aber sind wir mal ehrlich, Sie würden ohnehin nicht weiterleben wollen, wenn Sie die Frau, die Sie ganz offensichtlich so sehr lieben, vor Ihren eigenen Augen haben sterben sehen.«

Zufrieden stellte er fest, wie das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht des Professors wich.

»Sehen Sie«, freute sich Drumont, »meine Stärke war immer, nüchterner als die meisten Menschen zu sein. Deswegen ist der heutige Tag auch kein Rückschlag für die Wächter, sondern ein Neubeginn. Es ging immer nur um die Sache. Nie um Personen.«

»Schon gar nicht um die Personen, die Sie auf dem Gewissen haben«, stieß Alex zornig hervor. »Ihr Vater und seinesgleichen haben den Tod Tausender französischer Juden zu verantworten.«

»Oh, welchem Irrtum Sie unterliegen!«, erwiderte Drumont gelassen. Doch er spürte in sich einen gewissen Ärger aufsteigen. »Es gibt keine französischen Juden. Es hat sie nie gegeben. Es gab, gibt und wird, wenn überhaupt, immer nur Juden in Frankreich geben. Sie mögen es eine Spitzfindigkeit nennen. Für mich ist es essenziell. Sie sind doch ein gebildeter Mann, Alex. Was sagt Ihnen der Name Drumont?«

Er sah genüsslich, wie sich Kauffmanns Augen weiteten. Er hatte begriffen.

»Richard A. Drumont. A wie Adolphe?«, fragte er.

»Précisément«, antwortete Drumont. »Und um Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: Nein, ich bin kein Nachfahre des großen Édouard Adolphe Drumont. Aber meine Eltern haben ihn verehrt.«

»Der größte Judenhasser Frankreichs des 19. Jahrhunderts«, stieß Kauffmann hervor. »Der Mann, der eines der schlimmsten Hasspamphlete der Menschheitsgeschichte gegen die Juden geschrieben hat. Der schon damals all das gefordert hat, was Hitler später in die Tat umgesetzt hat. Er wollte den Juden alles wegnehmen, was sie besaßen. Die totale Enteignung.«

»Interessant, nicht?«, erwiderte Drumont. »Jahrhundertelang haben sich Juden in unserem Land eingenistet und an uns bereichert. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis wir uns zurückholen würden, was uns zusteht.«

»So wie das Weingut der Familie Étoile.«

»Weingüter, Banken, Fabriken, Häuser, Gemälde, Geld, Aktien, ja, selbst Straßennamen. Mein Gott, die Juden haben unsere Welt kontrolliert. Damit haben wir Schluss gemacht. Die Wächter haben dem Land seine Freiheit wiedergegeben. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Sie mögen mich verachten. Aber meine Familie und viele unserer Gefolgsleute haben das getan, was auch Sie heute hierhergeführt hat. Wir sind unseren Überzeugungen gefolgt.«

Jetzt meldete sich Natalie zu Wort. »Sie und uns verbindet nichts«, presste sie hervor.

»Da haben Sie vollkommen recht. Deshalb wären Sie auch nicht in der Lage, das auszuführen, was nun kommt. Samir!«

Der Kanzler gab seinem Bodyguard ein Zeichen. Dieser war in zwei Schritten neben dem Bett und zerrte einen nach dem anderen auf den Boden.

»Hinknien!«, befahl er.

Samir zwang sie, sich nebeneinander auf den Boden zu hocken und ihre Hände auf dem Rücken zu verschränken. Dann stellte er sich hinter sie und zog seine Waffe.

Drumont betrachtete sie einen nach dem anderen. Fabrice Mannarino, trotziger Gesichtsausdruck, starr geradeaus blickend. Natalie Villeneuve, zitternd, mit tränenüberströmtem Gesicht. Alexander Kauffmann, am Ende seiner Weisheit.

»Samir«, sagte der Kanzler, »ich glaube, der Rabbiner hat genug von dieser Welt!«