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Sonntag, 8. Juni 2014, Aix-les-Bains, Frankreich
Die Wohnung roch, als ob lange nicht mehr gelüftet worden war. Natalie hatte das Gefühl, dass hier nur unregelmäßig jemand lebte. Sie blickte sich um. Viel gab es auf den ersten Blick nicht zu sehen. Es war eine typische Zwei-Zimmer-Wohnung. Im ersten Raum, in dem sie sich gerade befanden, standen ein Sofa, ein Esstisch mit zwei Stühlen und ein Sideboard mit einem Fernseher darauf. Eine Küchenzeile gab es nicht. Hohe Decken, zwei Fenster mit Blick auf das Casino und ein dunkelroter Teppichboden, allerdings sauber und in einem deutlich besseren Zustand als der Treppenläufer. Überhaupt machte das Appartement einen einfachen, aber gepflegten Eindruck.
Zwei Türen führten nach nebenan. Durch die eine sah Natalie ein Doppelbett. Die andere führte in ein kleines Duschbad und von dort durch eine weitere Tür ebenfalls ins Schlafzimmer. Auch hier zwei Fenster zum Casino, auch hier der rote Teppich, dazu ein Wandschrank. Sie öffnete ihn.
»Herrenkleidung!«
»Vielleicht gehörte die Wohnung ja Régis, und er hat euch nichts davon gesagt«, schlug Alex vor.
Natalie griff sich einen dunkelblauen Anzug und betrachtete das Etikett.
»Viel zu groß für papa. Das sind nicht seine Klamotten.«
Während sie sich weiter mit dem Schlafzimmer befasste, ging Alex zurück ins Wohnzimmer. Als sie gerade eine Schublade mit Unterhosen geöffnet hatte, hörte sie Alex’ Stimme von nebenan.
»Sieh dir das an!«
Sie eilte zu ihm. Er stand vor dem Sideboard.
»Hier!«
Er reichte ihr eine Klarsichthülle. Darin steckte ein vergilbtes Blatt Papier.
Natalie las das Dokument mit wachsendem Erstaunen. Es war ihre Geburtsurkunde. Nicht die, die das Waisenhaus im Namen von Madame Muller beim Amt für sie beantragt hatte. Sondern die des Krankenhauses, in dem Natalie geboren worden war.
»Das ist doch nicht möglich«, flüsterte sie und las das Dokument noch einmal. »Wie ist papa in ihren Besitz gekommen?«
»Die viel spannendere Frage ist«, sagte Alex, »warum hat deine Mutter ihren richtigen Namen angegeben? Nicht Marie Mannarino, sondern Rahel Hinault? Sie muss eine Namensänderung beantragt haben, als sie nach Frankreich zurückgekehrt ist.«
»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Natalie. »Papa muss eine Möglichkeit gefunden haben, zu beweisen, dass ich die rechtmäßige Erbin des Weinguts bin. Diese Urkunde ist der Schlüssel.«
Alex nickte. »Genau. Diese Urkunde ist der Beweis, dass du eine Hinault bist.«
Natalie sah ihn fast erschrocken an. Alex hatte sie gerade erstmals mit ihrem eigentlichen Nachnamen angesprochen. Es klang völlig fremd.
»Ich muss mich vielleicht wirklich mit dem Gedanken anfreunden, dass ich einen anderen Namen habe«, sagte sie nach einem Moment der Stille. »Dass ich Anspruch auf ein Erbe habe, bedeutet diese Urkunde allerdings noch nicht.«
Alex pflichtete ihr bei. Dazu bedurfte es noch weiterer, viel wichtigerer Dokumente. Aber wo zum Teufel waren die?
»Hast du noch etwas gefunden?«
»Den hier.«
Er hielt etwas hoch, das an einer Kette baumelte.
»Noch ein Schlüssel? Lass mal sehen!« Sie nahm das Fundstück hoch und hielt es gegen das Licht. »Das ist ein Messingschlüssel. Ich habe solche schon ein paarmal gesehen. Sie gehören zu antiken Möbeln, zu Vitrinen, Schubladen oder dergleichen. Sieh mal, wie aufwendig sein Kopf verziert ist. Das ist Handarbeit, Ende 19. Jahrhundert, würde ich sagen.«
Alex hob die Augenbrauen.
»Ich wusste nicht, dass du dich derart gut mit alten Möbeln auskennst.«
»Irgendwas muss ein Architekturstudium ja bringen. Ich hab immer in den Möbeldesign-Kursen bei den Innenarchitekten gesessen. Nur weil ich auf dem Bau rumlungere, heißt das nicht, dass ich keinen Blick für die schönen Dinge im Leben habe.«
»Na, dann findest du hier in der Wohnung aber nicht allzu viel.«
Sie schmunzelte. »Das stimmt. Nennen wir die Einrichtung funktional. Und jüdisch.«
»Jüdisch?«
Sie bedeutete ihm, sich umzudrehen. Im offenen Sideboard stand eine Menora, ein silberner, siebenarmiger Leuchter, in dessen Fuß ein Davidstern eingraviert war.
»Papa hatte offenbar einen weiteren guten Freund, der ihm geholfen und für diese Wohnung einen Zweitschlüssel gegeben hat. Das alles hier sieht mir ohnehin eher nach einer Ferienwohnung aus.«
Beide ließen ihre Augen durch die Wohnung wandern. »Funktional« traf es am ehesten. Das Einzige, das etwas Leben versprühte, war die Schwarz-Weiß-Zeichnung eines mittelalterlichen Segelschiffes auf rauer See, das über dem Sofa an der Wand hing. Ansonsten gab es nichts, was auf den Inhaber oder Bewohner schließen ließ. Keine Fotos. Keine persönlichen Gegenstände. Nichts.
»Die Ferienwohnung eines älteren Mannes, der hin und wieder mal eine Kur benötigt«, sagte Alex.
»Oder der gerne spielt«, entgegnete Natalie und trat ans Fenster. Als sie den Vorhang zur Seite schieben und ihm den Blick auf das Casino zeigen wollte, zuckte sie zusammen.
»Alex, wir müssen weg! Sofort!«
»Was ist denn los?«
Der Spalt, den die Vorhänge geöffnet waren, hatte gereicht, um sie zu sehen.
»Zwei Streifenwagen. Sie haben vor dem Haus geparkt. Ein Polizist hat zu unserem Fenster hochgeschaut.«
»Was?« Alex trat neben das Fenster und schielte durch den Vorhang. »So ein Mist! Wie haben die uns gefunden?«
Natalie überlegte. Sie hatte etwas in der Wohnung gesehen, das ihnen helfen konnte. Aber wo? Sie wirbelte herum. Da! In einer Schüssel im Sideboard lagen Autoschlüssel.
»Hat das Haus eine Tiefgarage?«, rief sie.
»Auf jeden Fall einen Keller«, erwiderte Alex, der offenbar verstand, worauf sie hinauswollte. »Die Treppe führt noch eine Etage tiefer.«
»Dann nichts wie los!«
Sie rafften ihre Sachen zusammen, Alex verstaute Natalies Geburtsurkunde und den Messingschlüssel in seiner Umhängetasche. Sie prüften durch den Spion, ob die Luft vor der Tür rein war, entriegelten das Schloss und schlüpften auf den Gang. Natalie lauschte, ob sich unten bereits etwas tat. Nichts.
»Lass uns den Aufzug nehmen«, schlug sie vor. »Vielleicht haben wir noch ein paar Sekunden Vorsprung.«
»Dann sitzen wir in der Falle«, widersprach Alex.
»Das tun wir auch so, wenn wir uns nicht beeilen.«
Sie zog ihn entschlossen hinter sich her. Der Aufzug kam, sie sprangen rein und warteten darauf, dass sich die Türen schlossen.
Es war ein alter Fahrstuhl, er brauchte eine Ewigkeit. Über der Tür konnten sie ablesen, in welchem Stockwerk sie sich gerade befanden. Fünf, vier, drei, zwei. Mit einem Ruck blieb der Aufzug bei eins stehen. Natalie stockte der Atem. Die Türen glitten geräuschvoll auf. Davor stand ein Mann.
Er lächelte sie fröhlich an. »Auch in die Tiefgarage?«
Natalie und Alex tauschten einen erleichterten Blick. Sie nickten, und der Mann trat zu ihnen in die Kabine.
Sie mussten nur noch das Erdgeschoss überstehen, dann hatten sie es fast geschafft. Doch als sich die Türen schlossen, hörten sie Geräusche und Rufe von unten. Die Polizei hatte das Foyer betreten.
Natalie und Alex richteten ihre Blicke gebannt auf die Anzeige. Eins. Knirschend setzte sich das Gefährt wieder in Bewegung. Erdgeschoss. Natalie hielt den Atem an. Wenn der Aufzug jetzt hielt und die Türen sich öffneten, liefen sie den Polizisten direkt in die Arme.
Kellergeschoss. Die Türen öffneten sich.
Der ältere Herr zeigte sich wohlerzogen und ließ Natalie als Erste aussteigen. Auch Alex gewährte er den Vortritt. Sie verfielen in Laufschritt. Der Gang führte sie durch zwei Türen hindurch, dann standen sie in der Tiefgarage. Der Schlüssel gehörte zu einem Smart. Sie fanden das Auto sofort. Natalie kletterte hinter das Steuer, Alex nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Natalie fuhr vorsichtig die Auffahrt hinauf. Sie kamen an der Rückseite des Hauses auf die Straße. Niemand zu sehen. Keine Polizei.
Sie hatten es geschafft.