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Mittwoch, 11. Juni 2014, Margaux, Frankreich

»Alex! Alex!«

Eine weibliche Stimme drang an sein Ohr. Sie klang vertraut und rief seinen Namen, immer wieder.

»Na… Natalie?«, brachte er leise hervor.

Er versuchte, die Augen zu öffnen. Er spürte, dass sein ganzes Gesicht mit Staub überzogen war. Er hustete, und im selben Moment durchfuhr ihn ein stechender Schmerz.

»Nicht bewegen«, sagte die Stimme.

Jetzt erkannte Alex sie. Er zwang sich, die Lider zu öffnen, und blickte in das Gesicht Dominique Freys, die über ihm kniete. Sie hatte seinen Kopf zwischen ihre Oberschenkel geklemmt.

»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, sagte die Polizistin mit einem Lächeln. »Rühren Sie sich nicht. Ich habe Ihren Kopf stabilisiert. Es hat Sie ziemlich erwischt.«

Alex wurde schlecht.

»Was heißt … ›ziemlich erwischt‹?«

»Sie standen der Explosion am nächsten. Sie haben einen ganz schönen Satz gemacht, um es vorsichtig auszudrücken. Bewegen Sie jetzt nacheinander alle Glieder und sagen Sie mir, ob sich etwas komisch anfühlt. Erst danach werde ich Sie freigeben.« Sie lächelte ihm zu.

»Okay«, sagte er vorsichtig.

Sie bat ihn, erst die Füße, dann die Beine und Knie, dann die Arme und schließlich den Oberkörper zu bewegen. Überall schmerzte es, er stöhnte auf. Sein Körper musste mit Prellungen und Wunden übersät sein. Aber es schien nichts gebrochen zu sein.

Er betrachtete Freys Gesicht. Sie hatte eine Schramme über dem linken Auge, ihre roten Haare waren eingestaubt.

»Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, fragte sie belustigt.

Alex sah peinlich berührt weg. Er dachte an Natalie. Er musste aufstehen. Sie mussten hier raus. Er befreite seinen Kopf und versuchte sich aufzurichten.

»Danke … Dominique!«

»Gern geschehen, Alex«, antwortete sie.

Sie half ihm auf. Er blickte an sich hinab. Ein Hosenbein war eingerissen, sein Hemd völlig verdreckt, durch den Stoff über seinem linken Arm drang etwas Blut.

»Wie geht es den anderen?«

»Bernard und der Rabbiner sind okay. Sie suchen einen Weg nach oben.«

»Die Treppe ist blockiert?«

»Ja! Der Treppenaufgang ist dicht«, erklärte Frey. »Wir haben den Funkkontakt zu Paolo verloren. Wenn wir Glück haben, suchen sie nach einer Lösung, uns hier rauszuholen.«

Alex sah sich um. Erst jetzt realisierte er, dass sie in einer Ecke des zentralen Lagers standen. Wie durch ein Wunder funktionierte die Deckenbeleuchtung noch. Doch der Rest des Raumes war ein einziges Chaos. Der Boden glich einem Meer aus Scherben und dunkelroter Flüssigkeit. Die Fässer, die dem Treppenaufgang am nächsten lagerten, waren nur noch ein angesengter Haufen Holz. Vor dem ehemaligen Ausgang türmten sich Steine und Schutt. Eine riesige Staubwolke legte einen grauen Schleier auf die Szenerie. Die muffige Luft war einem Gestank aus Wein, Feuer und Erde gewichen.

Zu Alex’ Enttäuschung hatte die Erschütterung auch den Schacht in der Decke inmitten des Raumes zum Einsturz gebracht. Ein schwerer Metallhaken steckte in einem der Fässer, mehrere Seile lagen kreuz und quer im Raum verteilt. Alex fing an, ein Seil aufzurollen. Frey tat es ihm gleich, und kurze Zeit später hatten sie mehrere Meter Seil aufgesammelt.

»Wenn wir hier rauswollen, werden wir das wahrscheinlich brauchen«, sagte Alex. »Ich kenne diesen Keller natürlich nicht, aber ich weiß, dass alte Weinkeller in Frankreich normalerweise mehrere Eingänge und Fluchtwege haben.«

»Vielleicht haben Pascal und Monsieur Mannarino ja Glück und finden einen.«

»Nennen Sie mich bitte Fabrice!«, hallte Fabrice’ Stimme aus einem der Gänge. Dann traten er und Bernard zu ihnen. »Ich glaube, wir können die Förmlichkeiten zurückstellen, bis wir wieder an der Oberfläche sind.«

»Wenn ihr euch alle endlich verbrüdert habt, können wir dann versuchen, einen Weg hier raus zu finden?«, sagte Bernard säuerlich. »Diese zwei Gänge«, er zeigte auf zwei Torbögen, »sind Sackgassen.«

»Wir sollten den Gang versuchen, den wir freigelegt haben«, schlug Frey vor. »Wenn Guibert uns hier unten einsperren wollte, dann hat er sicher auch dafür gesorgt, dass die bekannten Fluchtwege blockiert sind.«

»Wie viele Taschenlampen haben wir?«, fragte Alex.

»Es waren fünf, zwei sind Schrott«, entgegnete Fabrice. »Bleiben drei.«

»Dann los!«, sagte Bernard.

Sie griffen sich Hammer und Spitzhacken und betraten den Gang. Als sie zu den Fundstücken kamen, blieben sie einen Moment stehen.

»Kaum zu glauben, dass all das so lange unter der Erde versteckt war«, sagte Frey.

»Eine Schande, dass wir es zurücklassen müssen«, sagte Fabrice.

»Nicht ganz«, widersprach Alex, ließ Seil und Hammer sinken und trat vor den Safe. Von einem Sessel, der danebenstand, zog er ein großes Tuch ab und legte es vor sich auf den Boden. Dann öffnete er den Safe, entnahm vorsichtig die Dokumente, wickelte sie in das Tuch und klemmte sich das Paket unter den Arm. Frey trug dafür sein Seil und seinen Hammer. Dann gingen sie weiter.

Je tiefer sie in den Schacht eindrangen, desto stickiger wurde es.

Alex wusste nicht, wie weit sie gelaufen waren, als sich die erste der drei verbliebenen Taschenlampen verabschiedete. Keine fünf Minuten später wurde auch das Licht der zweiten schwach.

»Verflucht!« Sie prüfte die Batterien ihrer Lampe und murmelte etwas von sparsamen Behörden. Kopfschüttelnd sah sie Alex an. »Wir müssen zurück.«

»Dann haben wir keine Chance mehr, einen Ausgang zu finden«, erwiderte Alex.

»Ich habe schon eine Idee. Vertrauen Sie mir!«

Alex sah sie einen Moment unsicher an. Er tauschte einen Blick mit Fabrice. Dann kehrten sie um und beschleunigten ihre Schritte, als das Licht der zweiten Taschenlampe endgültig erlosch. Sie erreichten die Stelle mit den Möbeln, Gemälden und dem Safe.

Alex sah, wie Frey zielsicher zum Servierwagen ging. Beim ersten Betrachten der Möbel hatte er geglaubt, der Servierwagen und der Globus seien zwei getrennte Gegenstände. Nun aber sah er, dass der Globus in den Wagen eingelassen war. Frey ging hinüber und ergriff einen Henkel, der aus dem Nordpol emporragte. Sie zog daran und klappte die obere Hälfte des Globus auf. Darunter kamen mehrere Flaschen zum Vorschein.

»Eine Bar«, rief Fabrice erstaunt.

»Wie alt müssen diese Flaschen sein?«, fragte Bernard.

»Hauptsache, der verbliebene Alkohol ist hochprozentig genug«, antwortete Frey.

»Fackeln«, murmelte Alex.

»Genau!«

Alex sah sich nach geeigneten Materialien um. Als er unter den Tüchern Stuhlbeine entdeckte, zögerte er nicht. Er befreite den Stuhl von seinem Schutz, drehte ihn um und trennte mit wuchtigen Tritten die vier Beine vom Sitz. Bernard zerriss ein Tuch in vier Teile und reichte sie Alex nacheinander, der sie wiederum um die oberen Teile der Stuhlbeine band. Frey zog derweil eine noch versiegelte Flasche heraus. Armagnac.

»Hat jemand Feuer?«, fragte Alex, doch Bernard hielt ihm bereits Streichhölzer unter die Nase.

»Das sollte funktionieren. Trotzdem müssen wir schnell sein. Wer weiß, wie lange die Fackeln brennen.«

»Wir zünden immer nur eine an und nehmen den Rest mit«, verkündete Frey, da nun auch die letzte Taschenlampe zu schwächeln begann.

Sie tränkte das Tuch der ersten Fackel mit dem Weinbrand, während Alex ein Streichholz entzündete und es an das Tuch hielt. Es zischte kurz auf, dann erfüllte ein rotgelbes Licht den Schacht.

»Nichts wie los!«

Sie eilten wieder tiefer in den Weinkeller hinein. Das Licht der Fackel war weitaus stärker als das der Taschenlampen. Sie konnten erkennen, dass es sich um einen ähnlichen Tunnel handelte wie die übrigen. Sie kamen an Nischen vorbei, in denen Fässer und Flaschen lagerten. Alex stellte sich vor, wie es sein musste, eine solche Flasche zu öffnen.

Als ob Fabrice seine Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Wenn wir hier rauskommen, machen wir eine dieser alten Flaschen auf und probieren, ob das Zeug noch schmeckt!«

Aber erst mal retten wir Natalie, dachte Alex. Sie mussten einen Ausweg finden! Alex glaubte zu wissen, wo die Wächter sie versteckt hielten. Dafür aber mussten sie zurück an die Oberfläche.

Sie erreichten das Ende des Tunnels: eine Mauer.

»Das ist unser Weg in die Freiheit«, rief Alex.

Die anderen schienen ihn nicht zu verstehen. Sie sahen auf die Wand, die das Ende ihres Weges markierte. Während die Seitenwände von einer Holzkonstruktion gestützt waren, war die Stirnwand gemauert.

»Hier«, sagte Alex. »Seht ihr die Metallstäbe?« Er deutete auf mehrere kurze Stangen, die aus der Mauer herausragten. Zusammen bildeten sie ein Quadrat.

»Wie in alten Luftschutzbunkern«, erkannte Bernard als Erster, was vor ihnen lag.

»Wenn wir sie mitsamt den Steinen, in denen sie stecken, rausziehen, legen wir den Fluchtweg frei.«

»Stürzt dann nicht die Mauer ein?«, wandte Frey ein.

»Nicht in diesem Fall«, erwiderte Alex. Er deutete auf die Steine, die um die Metallstäbe herumgelegt worden waren. »Die Mauer dient nur einem Zweck: Sie garantiert den Fluchtweg.«

Er zog an der ersten Metallstange. Alex spürte, dass der Stein locker saß. Er rüttelte einige Male hin und her, dann gab die Mauer das erste Mosaikstück frei. Fabrice kam ihm zu Hilfe, und in weniger als einer Minute hatten sie ein Quadrat freigelegt, durch das problemlos ein Erwachsener durchklettern konnte. Wenn sich dahinter nicht Erde befunden hätte.

Alex griff zur Spitzhacke, holte aus und rammte die Spitze in die Erde. Wieder und immer wieder. Dann gab das Erdreich nach. Etwas drang an seine Nase. Frischluft. Alex atmete tief ein. Der Duft des Meeres. Sie waren frei.

Mit einigen letzten Hieben vergrößerte er das Loch und blickte hinaus. Die Luft war deutlich wärmer als in den Kellergewölben. Es war dunkel, aber der Mond erhellte die Umgebung gerade genug, damit er erkennen konnte, wo sie sich befanden: an einem Steilhang oberhalb des Ufers der Garonne, die nordwestlich von Margaux in den Atlantik mündete. Alex erinnerte sich, dass das Grundstück des Château de l’Étoile hier endete. Sie standen am äußersten Punkt des Anwesens.

»Lass mich mal sehen«, sagte Fabrice und drängte Alex zur Seite. Er sah nach unten, dann nach oben. »Nach unten ist es ein ganzes Stück. Das wäre sehr gefährlich. Aber nach oben könnten wir es schaffen.«

Ohne ein weiteres Wort nahm er Frey die Seile ab, band sie fachmännisch zusammen, knotete sich ein Ende um die Hüften und reichte das andere Bernard.

»Was hast du vor?«, fragte Alex und hielt ihn zurück.

»Glaub mir, ich weiß, was ich tue«, beharrte Fabrice und schwang sich mit einer Leichtigkeit aus dem Loch, die Alex überraschte.

Er sah Fabrice einen Moment verblüfft nach, ehe er ihre letzte verbliebene Fackel ergriff und sich mit ihr hinauslehnte. Er sah nach oben und konnte gerade noch erkennen, wie Fabrice aus seinem Blickfeld entschwand. Alex war beeindruckt. Schon hörte er Fabrice rufen: »Ich bin oben und habe das Seil festgemacht. Schickt den Nächsten!«

»Dominique, du zuerst«, bestimmte Bernard.

Die Polizistin griff nach dem Seil, hievte sich durchs Loch und zog sich nach oben. Alex folgte ihr Sekunden später. Er verstaute das Paket mit den Dokumenten sicher unter seinem Hemd, kletterte durch die Öffnung und schnappte sich das Seil. Erst jetzt spürte er wieder die Wunden an seinem Körper. Bis hierher hatte ihn das Adrenalin von Schmerzen verschont. Doch nun drohte ihn die Kraft in seinen Armen zu verlassen. Fast hätte er das Seil losgelassen, doch Bernard stützte ihn rechtzeitig.

»Alles okay?«, fragte der Richter.

»Danke, mir tut nur alles weh.«

Alex biss die Zähne zusammen und hangelte sich Stück für Stück über Gras und Wurzeln nach oben. Jetzt sah er, dass Fabrice das Ende des Seils um einen Baum gewickelt hatte. Frey und er reichten ihm ihre Hände und zogen ihn das letzte Stück die Böschung hinauf.

Bernard bildete den Abschluss. Als auch er oben angekommen war, orientierten sie sich. In der Ferne konnten sie die Lichter des Schlosses erkennen. Aber auch etwas anderes durchbrach die Dunkelheit. Es waren die blau-roten Signallampen von Rettungsfahrzeugen. Nach den Explosionen mussten Feuerwehr und Sanitäter sofort angerückt sein.

»Sind alle in Ordnung?«, versicherte sich Bernard.

Als niemand etwas Gegenteiliges sagte, setzten sie sich in Bewegung.