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Mittwoch, 4. Juni 2014, Fribourg, Schweiz
Alexander Kauffmann wich gerade noch rechtzeitig zurück. Die Klinge verfehlte ihr Ziel nur um Millimeter. Im nächsten Augenblick spürte er, wie die Glocke seines Degens erzitterte. Sein Gegner hatte erneut zugestochen, und nur das Metall, das seine Hand schützte, hatte ihn vor einem schmerzhaften Treffer bewahrt.
Alex entschied sich für den Rückzug. Ihm war klar, dass jeder Fehler sein Ende bedeuten würde. Sein Widersacher hatte es längst aufgegeben, ihn mit einem gezielten Stoß erledigen zu wollen. Er schlug immer wilder um sich, wohl wissend, dass ein einziger Treffer seines Degens, so glücklich er auch sein mochte, Alex den Garaus machen würde.
Noch schaffte es Alex, die Angriffe abzuwehren. Sein Arm funktionierte automatisch, die Reflexe waren eine Kombination aus jahrelangem Training und außergewöhnlicher Auffassungsgabe. Doch Alex wusste, dass ihm all seine Erfahrung jetzt nur noch bedingt helfen konnte. Immer weiter drängte ihn sein Gegenüber zurück. Alex spürte, dass die Wand hinter ihm gefährlich nahe kam. Er musste handeln. Ansonsten war es für ihn in wenigen Sekunden aus und vorbei.
Da erkannte er seine Chance. Die vielleicht einzige, die ihm noch blieb. Alex blockte eine weitere Attacke seines Gegners ab und schoss im nächsten Augenblick blitzschnell nach vorn. Der Mann hatte keine Chance. Alex bohrte ihm die Klinge seines Degens in die Brust. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Sein Gegenüber blickte erstaunt an sich herab. Der elastische Stahl der Klinge drückte auf seine Schutzweste und bog sich unter der Spannung, ehe sich Alex aus dem Ausfallschritt löste, zurücktrat und die Waffe zum Gruß hob.
Gemeinsam verließen sie die Planche, streiften ihre Masken ab, warfen die Waffen achtlos auf ihre Sporttaschen und ließen sich auf eine Bank fallen. Mit dem Rücken an die Wand der Sporthalle gelehnt, beobachtete Alex das Treiben auf den anderen Bahnen. Vier weitere Paare duellierten sich. Andere Fechter machten Pause. Alles Studenten der Universität Fribourg und alle, wusste Alex, nicht älter als Mitte zwanzig. Alle außer ihm selbst.
Eigentlich gehörte er hier längst nicht mehr hin. Nicht nur wegen seiner mittlerweile sechsunddreißig Jahre. Sondern auch, weil einige der Studenten hier im Raum in seinen Vorlesungen saßen. So wie der junge Miguel, dem er gerade eine Lehrstunde erteilt hatte.
Im Prinzip hielt Alex wenig davon, wenn sich Professoren unter Studenten mischten. Manche erklärten, sie wollten ein Gespür für das Leben der nächsten Generation bekommen. Alex hielt das für Augenwischerei. Er wusste genau, dass sich die jungen Leute in seiner Gegenwart anders verhielten, als wenn er nicht in ihrer Nähe war. Andere Kollegen sagten offen, sie würden sich jünger fühlen, noch einmal wie Studenten, wenn sie sich abends mit jenen trafen, die tagsüber noch in den Hörsälen gesessen und über ihren Professor gelästert hatten. »Eine lockerere Atmosphäre als bei Sprechstunden«, schwärmten sie dann und vergaßen in Alex’ Augen völlig, wie wichtig es war, Distanz zu wahren.
Dass er diese Distanz selbst verletzte, indem er jede Woche zum Fechttraining der Studenten ging, war einzig und allein seinem sportlichen Ehrgeiz geschuldet. Er wollte sich beweisen, sich mit Jüngeren messen, sich zeigen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte. Wenn jemand versuchte, ihn während des Trainings in private Gespräche zu verwickeln, blockte er ab. Er war hier, um zu trainieren. Nicht mehr und nicht weniger. Hier konnte er sich mit den Besten der Universität messen und steckte die meisten doch noch immer in die Tasche.
Abgesehen davon war Fechten für ihn nicht irgendein Sport. Es lehrte ihn, geduldig zu sein, zu beobachten, sein Gegenüber zu analysieren, wie beim Schach den nächsten Zug vorherzusehen und, noch während der Gegner glaubte, ihn mit einem Angriff zu überraschen, mit der passenden Antwort zu kontern. So, wie er es mit Miguel gemacht hatte.
»Haben Sie schon einen Blick hineinwerfen können?«
Alex brauchte einen Moment, bis er verstand. Er wandte sich zu Miguel um, der ihn erwartungsvoll ansah. Der Geschichtsstudent war im zweiten Semester und hatte bei Alex gerade erst seine Prüfung in »Europas Kriege des 20. Jahrhunderts« abgelegt.
»Sie wissen, dass ich darauf nicht antworten werde. Und wenn Sie nicht wollen, dass ich mir Ihre Arbeit ganz besonders genau ansehe, fragen Sie besser nicht noch einmal nach.«
Alex setzte ein Lächeln auf, das so herzlich war wie der morbide Charme der Turnhalle. Es erfüllte seinen Zweck. Er wollte weder auf Kumpel machen noch Freunde gewinnen. Er wollte sich weder angeregt unterhalten noch über Belangloses plaudern. Warum konnten zwei Menschen nicht einfach mal schweigend für ein paar Minuten nebeneinander auf einer Bank hocken, ohne dass einer der beiden zwanghaft versuchte, ein Gespräch zu eröffnen? Und warum glaubten diese Jungs, dass sich das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler änderte, sobald man sich einmal auf der Planche begegnet war?
Alex betrachtete Miguel. Der Schweiß lief ihm aus den schwarzen Haaren in sein sonnengebräuntes Gesicht. Ein Tropfen blieb an einem Augenbrauenpiercing hängen, dessen Sinn Alex bis heute verschlossen geblieben war. Eher war er versucht, einen Haken an solchen Dingern zu befestigen, als den Reiz eines Stücks Metall im Gesicht verstehen zu wollen. Miguel rutschte unsicher auf der Bank hin und her und schien nach einer geeigneten Antwort zu suchen.
Das Klingeln eines Handys erlöste den Jungen von dieser aussichtslosen Aufgabe. Alex griff in seine Sporttasche und fingerte sein Smartphone hervor. Er sah auf das Display. Das Bild einer jungen Frau leuchtete auf. Eine Frau, die eigentlich nur auf seinem Handy anrief, wenn es unausweichlich und dringend war. Eine Frau, die er viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Eine Frau, die ihm so nahestand wie niemand sonst.
»Wer ist Natalie Villeneuve?«, fragte Miguel neben ihm, der offenbar auf das Display geschaut und den Namen der Anruferin gelesen hatte.
Alex fuhr herum und warf seinem Studenten einen verärgerten Blick zu. Miguel erkannte seinen Fehler, murmelte eine Entschuldigung und flüchtete mit seiner Tasche in die Umkleide.
Alex nahm ab.
»Natalie, was für eine schöne –«
»Alex«, unterbrach ihn die vertraute Stimme. Doch ihr Tonfall gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Gefühl trog ihn nicht. »Papa ist tot.«
Alex’ Verstand schaltete augenblicklich auf Autopilot. Er funktionierte automatisch und präzise, ohne dass er darüber nachdenken musste, was er tat. Er blieb ruhig, hörte ihr zu. Gleichzeitig raffte er seine Sachen zusammen und eilte aus der Turnhalle. Er spürte, wie ihn die Blicke der Studenten auf dem Weg nach draußen verfolgten. Er ignorierte sie und entschied doch gleichzeitig, nicht mehr hierherzukommen. Er würde sich einen anderen Fechtclub suchen. Aber erst, wenn das hier durchgestanden war. Es gab einen Menschen, der ihn jetzt dringend brauchte.
Alex Kauffmann stieg in den nächsten Bus und stand fünf Minuten später vor seiner Haustür in der Rue de Lausanne. Er sah auf die Uhr. Es war schon kurz nach zehn, die Luft aber noch sommerlich warm. Alex sog sie tief ein, ehe er aufschloss.
Im Flur stieß er mit einer Nachbarin zusammen. Es war eine seiner Studentinnen, allerdings ausgerechnet eine derjenigen, die ihn tagein, tagaus anhimmelten. Sie begrüßte ihn überschwänglich, Alex hingegen presste nur ein steifes »Bonsoir!« hervor und hastete zum Aufzug. Weder hatte er Lust auf eine Unterhaltung mit seiner wohl am wenigsten mit Intelligenz gesegneten Schülerin, noch konnte er seit Natalies Anruf an irgendetwas anderes denken.
Er betrat seine Wohnung, ließ seine Sporttasche auf den Boden fallen, durchquerte den Flur und ging schnurstracks in die Küche. Sie war mit allen möglichen Geräten ausgestattet, mit Hilfe deren Alex stundenlang zugange sein und Menüs zubereiten konnte, von denen einige Profiköche, gerade die einfallslosen Schweizer, noch etwas lernen konnten. Heute Abend hatte er aber weder Zeit noch Muße, zu kochen. Nach dem Gespräch mit Natalie brauchte er etwas anderes. Er öffnete eine Schranktür und entnahm einem Weinkühlschrank eine Flasche Château la Canorgue. Daneben lag ein Schuhkarton, aus dem er eine angebrochene Tafel Salzschokolade fingerte. Beides brachte er ins Wohnzimmer, dekantierte den Wein und ging ins Badezimmer.
Fünf Minuten später stand er mit einem Handtuch um die Hüften vor dem Badezimmerspiegel. Das eiskalte Wasser hatte gutgetan. Mit einer Hand strich er sich seine noch nassen, dunkelbraunen und für einen Professor wohl etwas zu langen Haare zurück. Die Stirn war in den letzten Jahren ein bisschen höher geworden. Das fand er nicht weiter schlimm, da seine markanten Wangenknochen dadurch weniger hervortraten. Seine Nase war lang und gerade, seine Lippen schmal. Die Mundwinkel, seine schwarzbraunen Augen und die dunklen, glatten Brauen bildeten einen meist skeptisch-fragenden Gesichtsausdruck. Neuerdings trug er einen Dreitagebart, wusste aber noch nicht so recht, ob er ihm stand.
Natalie hatte ihn stets wegen seiner Eitelkeit aufgezogen. Auch jetzt würde sie ihn wohl auslachen, wenn er ihr erzählte, dass er in den letzten Wochen zwei Kilo zugenommen hatte. Seine eins fünfundachtzig mochten weiterhin in einem adäquaten Zustand sein. Wegen der zwei zusätzlichen Kilo kam er mittlerweile aber gefährlich nahe an die achtzig Kilo heran.
Nein, schalt er sich, Natalie würde gerade wohl kaum zum Lachen zumute sein.
Im Schlafzimmer zog er sich einen Pyjama an und ließ sich anschließend auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Er goss sich ein Glas Rotwein ein, nahm einen großen Schluck und griff zur Schokolade. Die Tafel würde den Abend nicht überleben.
Er sackte tiefer in die Kissen.
Überleben.
Das war lange Zeit das einzige Ziel der Villeneuves gewesen. Das von Natalie. Und das ihrer Eltern. Oder besser gesagt ihrer Adoptiveltern. Régis und Suzanne, ein typisches altes jüdisches Ehepaar mit der typisch tragischen Vergangenheit, die sie mit vielen anderen Juden teilten.
Überleben.
Das hatten sie geschafft.
Bis letzte Nacht.
»Papa ist tot.«
Natalies Worte kreisten in seinen Gedanken. Régis sei vor ein paar Tagen krank geworden. Ein Magen-Darm-Infekt, nichts Schlimmes. Eigentlich. Doch Régis war ja schon über neunzig gewesen. Je älter, desto gefährlicher.
Am Morgen war er nicht mehr aufgewacht. Friedlich eingeschlafen. So, wie man es einem Menschen eigentlich wünschte. Nur eben nicht jenen, die man nicht gehen lassen wollte.
Natalie hatte Alex gebeten, zur Beerdigung nach Paris zu kommen. Ihr Onkel Christophe würde seine Kosten übernehmen. Die Familie brauche ihn.
Natalies Worte wären nicht nötig gewesen. Auch Christophes Angebot nicht. In dem Moment, als sie ihm die traurige Nachricht überbracht hatte, hatte Alex mit den Planungen für die Reise begonnen. Bevor er morgen früh den ersten Zug in die französische Hauptstadt nehmen würde, um mittags an der Gare de Lyon einzutreffen, musste er nur noch ein paar Sachen erledigen. Wenn er sich denn vom Wein und der Schokolade losreißen konnte.
Er trank einen weiteren Schluck.
Natalie und ihn verband mehr als nur eine lebenslange Freundschaft. Sie hatten dieselbe Heimat. Sie waren gemeinsam aufgewachsen. Doch nicht irgendwo. Am selben Ort, den sie beide nicht vergessen konnten. Sie verband das gleiche Schicksal.
Sie waren beide Waisen.
Aufgewachsen in einem Heim in Haguenau nahe der deutsch-französischen Grenze.
Und sie waren beide Juden.
Alex’ Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er war nicht einmal ein Jahr alt gewesen. Zwei Jahre später war Natalie eines frühen Morgens vor die Tür des Waisenhauses gelegt worden, in dem er aufgezogen wurde. Vermutlich von ihrer Mutter.
Alex und Natalie hatten ihre Kindheit miteinander verbracht. Sie waren zu Geschwistern geworden. Bis sie adoptiert worden waren. Erst Natalie von einem Ehepaar aus Paris. Dann Alex, der mit seinen Adoptiveltern zunächst nach Lyon und zwei Jahre später nach Fribourg gegangen war.
Und jetzt war Natalies Adoptivvater tot. Régis Villeneuve, der zusammen mit seiner Frau Suzanne Natalie kurz vor ihrem zehnten Geburtstag zu sich genommen hatte. Die Eheleute hätten vom Alter her zwar schon Natalies Großeltern sein können, aber die Behörden hatten seinem Antrag stattgegeben. Wohl auch, weil in Frankreich zwar so viele Juden lebten wie in keinem anderen europäischen Land, aber doch nicht genug, um all die Kinder aus jüdischen Waisenhäusern zu adoptieren.
Régis und Suzanne waren ein Segen für Natalie gewesen. Alex hatte sie oft in Paris besucht. Auch, nachdem er in die Schweiz gezogen war. Wie glücklich die Kleine geworden war!
Alex und Régis hatten sich gut verstanden. Gerade in den letzten Jahren, in denen Alex sein Studium abgeschlossen, seine Doktorarbeit geschrieben und schließlich in Rekordzeit habilitiert hatte, hatten sie bei seinen Besuchen abends häufig noch zusammengesessen. Régis hatte Alex bei diesen Gelegenheiten erklärt, wie sich Frankreich durch den Zweiten Weltkrieg verändert hatte. Er, der alles hautnah miterlebt hatte: als Jude aus Bordeaux, als Soldat im Krieg, als Flüchtling in England, als Mitglied der Résistance, für die er nach Frankreich zurückgekehrt war. Régis hatte sogar erzählt, wie er und ein guter Freund 1944 gefangen genommen und er ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert worden war. Und wie er ausgerechnet an diesem schrecklichen Ort Suzanne kennengelernt hatte. Suzanne, eine polnische Jüdin, die nach dem Überfall der Nazis auf ihr Heimatland erst im Krakauer Ghetto, dann im Arbeitslager Plaszow und schließlich in Auschwitz gelandet war. So wie die Juden in Hollywoods »Schindlers Liste«.
»Ich stand nur nicht auf der Liste«, hatte Suzanne eines Abends zu Alex gesagt. Sie hatte den Film sogar im Kino gesehen, weil sie wissen wollte, wie man das Unvorstellbare verfilmt hatte.
Régis und Suzanne hatten es geschafft, zu überleben: den Horror des Vernichtungslagers, die wochenlange Flucht durch die letzten Schlachtfelder in Richtung Westen. Régis hatte mit Suzanne eigentlich nach Bordeaux gehen wollen. In Paris waren sie nur vorübergehend gestrandet, weil ein Bekannter ihnen eine Wohnung organisiert hatte. Die, in der sie bis heute geblieben waren.
Und jetzt war Régis tot.
Als Alex erneut zur Schokolade griff, merkte er, dass die Schachtel leer war. Er lehnte sich wieder zurück und ließ seine Augen durch das Zimmer wandern. Die Dachwohnung war sein Schmuckstück, sein Zufluchtsort, wenn er der Menschheit entkommen wollte, wenn er nachdenken musste oder einfach seine Ruhe brauchte. So wie jetzt. Dann blickte er aus dem Giebelfenster neben dem Sofa auf die Kathedrale Saint Nicolas.
Fribourgs Wahrzeichen! In der Kleinstadt in der französischen Schweiz mit ihren knapp vierzigtausend Einwohnern lebte er nun schon seit über zwanzig Jahren. Hier fühlte er sich wohl. Fribourg war zu dem geworden, was er sich als Kind immer gewünscht hatte: ein Zuhause.
Seine Heimat konnte man sich nicht aussuchen. Sein Zuhause hingegen schon.
Das war auch der Grund, weshalb Alex keine Kosten und Mühen gescheut hatte, das Appartement einzurichten. Vom Ledersofa über ein großes Bücherregal und einen alten, zu einer Kommode umgebauten Schrankkoffer bis hin zu einem antiken Sekretär – Alex hatte sich in kleinen Geschäften mit seltenen Möbeln eingedeckt. Das Wichtigste waren ihm aber seine Bücher. Nachschlagewerke, Biografien, unzählige dicke Wälzer zu Europas Geschichte, dazu Reiseführer und kulinarische Ratgeber, Bücher zu Genealogie und nationalsozialistischer Rassenkunde. Einzig Romane fanden darin keinen Platz. Der Welt der Fiktion konnte Alex nichts abgewinnen. Die Realität gab ihm genug Rätsel auf.
Die Realität.
Alex erhob sich mit einem Ruck und ging ins Schlafzimmer. Er hasste es, für Beerdigungen zu packen. Erst vor Kurzem war ein Studienfreund von ihm an Krebs gestorben. Alex war zur Beerdigung an den Zürichsee gereist. Nun hielt er den schwarzen Anzug in den Händen, den er eigens für diese letzte Begegnung auf einem Friedhof gekauft hatte.
Er suchte alles zusammen, was er für Paris brauchte. Dann trat er an den Sekretär und entnahm einem der diversen Geheimfächer einen Umschlag. Er enthielt einige hundert Euro, eine französische SIM-Karte, die er bei seinen regelmäßigen Reisen nach Frankreich nutzte, sowie eine aufladbare Fahrkarte für die Pariser Metro. Aus einem zweiten Fach holte er sein Ersatzhandy, das er mit der SIM-Karte bestückte.
Dann öffnete er ein drittes Fach. Vorsichtig faltete er das sich darin befindliche Papier auseinander. Es war das Dokument seines Lebens: seine Adoptionsurkunde, sein Fahrschein in die Freiheit, in das Leben, das er nun führen durfte. Er betrachtete sie einen Moment, verstaute sie dann aber wieder, schnappte sich sein Tablet und setzte sich.
Da das Semester vorbei war, musste er sich um Verpflichtungen den Studierenden gegenüber keine Gedanken machen. Er ging seine Termine für die kommenden Tage durch, schrieb diverse knappe Mails und sagte einige Verabredungen ohne große Erklärung ab. Auch seinen Chef am Departement, Professor Hugo von Arx, ließ er wissen, dass er einige Tage nicht in Fribourg sein werde. Schließlich rief er seine Adoptiveltern an und teilte ihnen mit, dass und weshalb er verreisen werde.
Als er auflegte, verspürte er ein seltsames Gefühl. Er fühlte mit Natalie, mit Suzanne und Christophe. Régis’ Tod ging auch ihm nahe. Doch er musste zugeben, dass er schon länger mit Natalies Anruf gerechnet hatte. In den letzten Jahren war es nicht zu übersehen gewesen, dass Régis älter geworden war. So ausgezeichnet sein Geist noch funktioniert hatte, so eindeutig waren die Signale gewesen, die sein Körper gesendet hatte. Bei Alex’ letztem Besuch hatte Régis das Thema sogar selbst angesprochen. Sie hatten zu zweit in der Bibliothek der Wohnung gesessen.
»Du wirst für Natalie da sein müssen«, waren seine ersten Worte gewesen.
Alex hatte Régis versprechen müssen, Natalie zu unterstützen und ihr zu helfen, mit allem fertigzuwerden, was komme, sollte Régis einmal nicht mehr da sein. Alex hatte die Ernsthaftigkeit seiner Sätze sofort registriert. Das waren keine Worte, die in die ferne Zukunft gerichtet waren. Régis spürte es. Er hatte ihn gebeten, sich Natalies anzunehmen. Onkel Christophe würde Suzanne auffangen und seiner Schwester helfen.
»Aber Natalie wird dich brauchen, Alex. In jeder Hinsicht.«
Die Worte hallten in seiner Erinnerung nach. Alex ging in die Küche. Er benötigte mehr Schokolade.