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Sonntag, 8. Juni 2014, Grenzübergang Schweiz/Frankreich
Alex und Natalie beobachteten, wie die Schweizer Grenzpolizisten jedes Auto, jeden Insassen, jeden Pass in aller Ruhe kontrollierten. Aber nicht nur das. Mit Maschinengewehren bewaffnete Sondereinsatzkommandos standen an jedem Grenzhäuschen. Die kleine Schweiz riegelte sich ab. Nur wer unbedingt rausmusste, durfte auch raus.
Die lassen uns nie durch, dachte Alex. Doch es war zu spät. Nur noch ein Auto, dann waren sie an der Reihe. Vor ihnen fuhr ein alter Peugeot. In ihm saßen drei Leute. Ein Beamter kontrollierte die Papiere, ein zweiter schritt langsam um das Auto herum und inspizierte es. Dann ging alles ganz schnell.
Der zweite Polizist blieb stehen, griff zu seinem Funkgerät und rief etwas hinein. Schon zogen er und sein Kollege ihre Waffen. Sekunden später stürmten vier schwer bewaffnete Polizisten auf das Auto zu.
»Scheiße, was ist denn jetzt los?«, entfuhr es Natalie.
Beide starrten wie gebannt auf die nun sechs Beamten, die allesamt ihre Waffen auf die drei Insassen des Peugeot gerichtet hatten. Alex hörte in mehreren Sprachen gerufene Kommandos, ehe sich die Türen des Autos langsam öffneten. Erst kamen die Hände zum Vorschein, dann die Arme, die Köpfe und schließlich der Rest. Ganz langsam, ohne ruckartige Bewegungen. Alex schätzte, dass es sich um Osteuropäer handelte, die nun wohl einiges zu erklären hatten. Aber was? Die Antwort folgte Sekunden später, als einer der Polizisten auf die Rückbank des Autos griff und einen Revolver zutage förderte.
Die drei Verhafteten wurden sofort abgeführt, der Peugeot wurde zur Seite gefahren, und kurz darauf waren fünf der sechs Polizisten mitsamt den drei Insassen verschwunden.
Der verbliebene Polizist winkte Alex und Natalie heran. Als ob nichts geschehen wäre, nahm er ihre Papiere und besah sie sich. Doch er schien nicht bei der Sache. Ein kurzer Blick auf Ausweise und Fahrzeugschein reichte, dann ließ er sie passieren.
Erst einige Minuten später, als sie sicher auf französischem Boden Richtung Aix-les-Bains weiterfuhren, wagten sie es, wieder zu sprechen.
»Was für ein Tag«, sagte Natalie. »Wenn ich das auf dem Bau erzähle, schaut mir endgültig niemand mehr auf den Arsch.« Sie lachte, doch Alex hörte an ihrer Stimme, dass sie versuchte, ihre wahren Gefühle zu kaschieren.
»Bedanken wir uns einfach bei den freundlichen Herren im Auto vor uns, die uns wahrscheinlich eine Menge Ärger erspart haben«, erwiderte er.
Sie benötigten noch eine Stunde, ehe sie in Aix eintrafen. Alex hoffte, dass sie einen Vorsprung vor den Wächtern hatten. Wussten die überhaupt von ihrem nächsten Ziel? Wenn ja, blieb ihnen nicht viel Zeit. Wenn überhaupt. Vielleicht wartete im Grand Hôtel ja schon ein Empfangskomitee. Was Alex am meisten beunruhigte, waren die immensen Ressourcen, über die ihre Gegenspieler verfügen mussten. Die Erpressung. Der perfekt getimte Einbruch in eine gesicherte Kanzlei. Die Überwachung. Die Einbrüche in Fribourg, nur wenige Stunden nach dem Telefonat zwischen Alex und Hugo. Der Mord. Das waren Leute, die Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett hin und her schoben und genau zu wissen schienen, was Natalie und er planten. Mit einem Male fand er es eine törichte Idee, nach Aix gekommen zu sein.
Natalie schien seine Besorgnis zu teilen. Doch nach einigen Minuten waren sie sich einig, dass ihre Neugier zu groß war. Sie mussten in dieses Hotel. Wobei, »Hotel« schien nicht der richtige Ausdruck. Sie hatten herausgefunden, dass es im Kurort das Logis Grand Hôtel du Parc gab. Der Ort, den sie suchten, war aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein anderer.
Alex hatte über sein Smartphone im Internet einen Bericht über ein altes Gebäude gefunden, das früher einmal das Grand Hôtel d’Aix-les-Bains gewesen war. Unmittelbar neben dem großen Casino der Stadt hatte das 1853 erbaute Hotel seine Türen geöffnet und die Gäste mit jedem erdenklichen Luxus der damaligen Zeit empfangen. Dieses Gebäude stand noch heute, war aber mittlerweile zu einem Wohnhaus umfunktioniert worden.
Alex parkte Christophes Limousine in der Rue Victor Hugo. Sie gingen die wenigen Meter zum Place du Revard zu Fuß. Natalie entdeckte das Haus sofort. Ein sechsstöckiger Prachtbau im klassischen französischen Baustil. Die Fassade aus rosa getünchtem Sandstein, das obligatorische Mansardenschieferdach, dazu ein auf der vierten Etage das Haus vollständig umlaufender Balkon. Über dem Eingang ein steinerner Präsidentenbalkon.
Alex sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Sie gingen die Stufen zur Eingangspforte hinauf und betraten das Foyer. Auch dort wartete niemand auf sie.
Auf den ersten Blick sprang ihnen der Wohlstand nur so entgegen. Der Boden der Eingangshalle war mit schwarzen und weißen Marmorplatten im Schachbrettmuster ausgelegt. Säulen aus gelbem Marmor bildeten ein atemberaubendes Atrium. Als sie einige Schritte nach vorn wagten, konnten sie hoch oben über sich das Glasdach sehen, durch das Sonnenlicht bis auf den Schachbrettboden fiel.
Auf den zweiten Blick jedoch erkannten sie, dass das Haus seine besten Tage lange hinter sich hatte. Die ehemalige Rezeption war mit einem einfachen Verschlag geschlossen worden. Im hinteren Teil entdeckte Alex Briefkästen aus Holz, deren Furniere an den Kanten aufbrachen und abblätterten. Ein dreckiger dunkelroter Läufer führte die Stufen hinauf in die oberen Etagen. Ein Deckenfluter neben dem Treppenaufgang hatte sich aus der Wand gelöst und hing an drei Kabeln herab. Eine Schraube lag verloren auf dem Boden.
»Appartement 58«, sagte Alex und deutete auf die Treppe.
»Briefkasten Nummer 58«, antwortete Natalie und ging bereits auf die trostlosen Holzkästen zu. »Der kleine Schlüssel, du erinnerst dich?«
Er folgte ihr. Der Schlüssel passte tatsächlich. Aber bis auf Werbeprospekte von Pizzalieferanten fanden sie nichts.
»Dann also weiter in die Wohnung«, sagte Alex.
Nach einem kurzen Blick auf den in die Jahre gekommenen Aufzug entschieden sie sich, die Treppe zu nehmen.
Appartement 58 lag im fünften Stock auf der anderen Seite der Galerie. Sie blieben vor der grau lackierten Tür stehen. Alex kramte den Schlüssel hervor. Er passte. Das Schloss gab nach, die Tür schwang auf, und sie betraten eine Wohnung, von der sie weder wussten, wem sie gehörte, noch, warum Régis ihnen den Schlüssel dafür hinterlassen hatte. Weder hier oben an der Klingel noch unten am Briefkasten oder vor dem Eingang hatten sie ein Namensschild entdecken können. Rein rechtlich gesehen begingen sie soeben Hausfriedensbruch.
»Hallo?«, rief Natalie.
Niemand antwortete. Die Wohnung war leer.
Alex schloss die Tür hinter sich. Dann stutzte er.
»Schau mal an«, murmelte er, nachdem er das Licht eingeschaltet hatte. Von außen hatte die Tür wie jede andere Holztür auf der Etage ausgesehen. Ein einfaches Schloss, ein Türspion, fertig. Von innen jedoch konnte man die Tür noch durch einen Panzerriegel sichern, der links und rechts in zwei Metallfassungen glitt. Es war offenbar eine Konstruktion, die lediglich der Sicherung von innen diente. Von außen gab es kein Schloss, um den Riegel zu bedienen. Innen steckte ein Schlüssel. Alex überlegte nicht lange und verriegelte die Tür vollständig.
»Beruhigend«, sagte Natalie, die ihn beobachtet hatte. »Zumindest solange vor der Tür niemand auf uns wartet.«
»Dann lass uns mal schauen, warum wir hier sind.«
Unten auf der Straße stand Raoul im Schatten einer Hauswand und blickte nach oben zu den Fenstern im fünften Stock, wo vor wenigen Sekunden das Licht angegangen war. Der Sender am Auto hatte ihn ohne Probleme zu ihnen geführt. Jetzt war es an der Zeit, die richtigen Leute zu rufen. Sie waren schon in Bereitschaft. Alexander Kauffmann und Natalie Villeneuve würden schon bald in guten Händen sein.