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Sonntag, 15. Juni 2014, Paris, Frankreich
Suzanne weinte hemmungslos.
Wie hätten sie es ihr schonender beibringen können?, fragte sich Alex. Nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, hatten sie ihr schon viele Details erspart. Dennoch hatten sie ihr von Christophes Tod berichten müssen, von Natalies Entführung, dem Anschlag auf Alex’ Leben auf dem Weingut und zumindest eine ansatzweise wahre Version des Alptraums wiedergegeben, den sie alle im Haus des Kanzlers erlebt hatten. Sie saßen schon seit dem Frühstück zusammen, erzählten und erklärten.
Natalie, die neben Suzanne auf dem Sofa saß und sie im Arm hielt. Alex, der neben Natalie saß und nun zu Fabrice in einem der Sessel hinübersah. Und Jean-Daniel Forêt, der Hausarzt, der nicht nur zu Suzannes Wohl gekommen war, sondern auch, um nach Natalie zu sehen.
Nachdem in Bordeaux alles ein Ende genommen hatte, hatte sich Natalies Wunsch nach einer Heimkehr nicht sofort erfüllt. Sanitäter hatten sie und Alex ins Krankenhaus gebracht und über Nacht dabehalten. Alex hatte sich lediglich seine Wunden versorgen lassen, die er im Weinkeller davongetragen hatte. Aber Natalie hatten die Ärzte auf den Kopf gestellt. Glücklicherweise ohne körperliche Schäden zu entdecken. Doch die mentalen Auswirkungen der Entführung waren laut eines Psychologen noch nicht absehbar. Natalie würde in den nächsten Wochen regelmäßig zu einem Therapeuten gehen müssen. Auch wenn sie versuchte, es herunterzuspielen, Alex spürte, sie würde es nötig haben.
Am Freitag hatte sie dann Pascal Bernard mit einem seiner Kollegen aus Bordeaux besucht. Die Befragung hatte fast den ganzen Tag gedauert. Natalie und er mussten alles noch einmal von Anfang bis Ende berichten, ihre gesamte Reise von Paris über Strasbourg, Fribourg, Aix-les-Bains bis zum Haus von Serge Clement und anschließend über Marseille nach Bordeaux. Besonders das, was schließlich im Haus am Quai des Chartrons geschehen war, hatte Bernard und seinen Kollegen interessiert. Wie sie aus dem Keller entkommen waren. Wer wen wie überwältigt hatte. Wer wen getötet hatte.
Am Ende hatte Bernard ihnen versichert, dass niemand von ihnen, auch nicht Fabrice, für seine Taten belangt werden würde.
»Sie haben Ihr eigenes Leben gerettet, und Sie haben Paolo und mir das Leben gerettet«, hatte Bernard gesagt. »Sie haben in einer polizeilichen Ermittlung unter meiner Leitung genau so gehandelt, wie ich es von Ihnen verlangt habe.«
Aber Alex war sich sicher, dass Bernard viel Überzeugungskraft geleistet haben musste, um sie aus der Sache herauszuhalten.
Schließlich hatten Alex, Natalie und Fabrice am Samstag die Heimreise antreten können. Auf Kosten des Steuerzahlers hatte Bernard ihnen Flugtickets organisiert, und sie waren am späten Abend in Paris gelandet. Sie waren sofort zu Suzanne gefahren.
Doch weder Suzanne noch Alex, Natalie oder Fabrice waren spät in der Nacht noch zu Erklärungen in der Lage. Natalie übernachtete bei Suzanne und überließ Alex und Fabrice ihr Zimmer.
Der Schock kam am nächsten Morgen. Fabrice, der sich am Vorabend nur als Rabbiner aus Bordeaux und als Freund von Régis vorgestellt hatte, lüftete sein Geheimnis. Und mit seiner Geschichte kam alles ins Rollen.
Jetzt saßen sie hier. Draußen liefen die Tropfen des ersten Sommerregens seit Wochen die Fensterscheiben hinab. Drinnen versuchte Suzanne, den Verlust ihres Bruders zu verkraften.
Es war alles gesagt. Alles erzählt, was Suzanne wissen musste. Der Rest war unausgesprochen geblieben. Und würde es wohl für immer bleiben.
Natalie riss Alex aus seinen Gedanken. Sie lehnte sich zu ihm herüber, küsste ihn sanft auf die Wange und streichelte mit ihrer Hand zärtlich sein Gesicht. Dann stand sie auf und verschwand in ihrem Zimmer. Alex sah ihr nach, als sein Handy piepste. Er zog es aus seiner Tasche. Eine SMS von Bernard.
»Schaltet TF1 ein! Gruß, Pascal«.
Alex griff zur Fernbedienung und machte den Fernseher an.
»Was ist los?«, fragte Fabrice.
»Pascal meinte, wir sollten uns etwas ansehen.«
Es erschien das Nachrichtenstudio des größten französischen Senders. Ein Sprecher verkündete den Beginn einer Sondersendung zu aktuellen Ermittlungen der Polizei.
»Die Police Nationale hat heute Vormittag eine landesweite Razzia durchgeführt. In über fünfzehn Städten wurden insgesamt dreiundvierzig Personen festgenommen, darunter hochrangige Politiker, Beamte und leitende Angestellte von Großunternehmen. Wie der verantwortliche Juge d’Instruction auf Nachfrage mitteilte, stehen diese Verhaftungen in direktem Zusammenhang mit mehreren Morden, die in den letzten Tagen in Frankreich und der Schweiz verübt wurden. Darüber hinaus werden den verhafteten Personen Verbindungen zu einer Verbrecherorganisation vorgeworfen. Wir schalten nun zu unserem Korrespondenten.«
Natalie kam sofort wieder aus ihrem Zimmer. Sie lauschten dem Beitrag. Selbst Dr. Forêt, der gerade dabei war, Suzanne den Blutdruck zu messen, vergaß seine beruflichen Pflichten.
Die Sondersendung dauerte eine knappe Viertelstunde. Anschließend sprach Fabrice aus, was alle dachten.
»Das ging aber fix!«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Bernard die Leute so schnell einkassieren würde«, pflichtete ihm Alex bei.
»Wahrscheinlich hatte er keine andere Chance«, mutmaßte Forêt, der sich wieder Suzanne zugewandt hatte. »Andernfalls wären ihnen die Typen vielleicht durch die Lappen gegangen.«
»Je mehr von diesen Schweinen sie kriegen, desto besser«, sagte Natalie. Ihre düstere Miene verriet, dass sie mit ihren Gedanken wieder im Haus des Kanzlers war.
Alex entschied, sie da schnell wieder rauszuholen.
»Ich finde, wir sollten uns auf diese Nachricht ein Glas Wein gönnen.« Er stand auf, ging in die Bibliothek und kam mit fünf Gläsern und einer Flasche wieder.
»Du willst eine der alten Flaschen öffnen?«, fragte Natalie, als sie sah, was Alex mitgebracht hatte.
»Besser wird der Wein bestimmt nicht mehr«, entgegnete er. Bernard hatte ihnen als kleines Abschiedsgeschenk eine Kiste mit zwölf Flaschen mitgegeben. Er hatte sie dem Weinkeller des Châteaus entnommen. Zwar nicht dem Versteck, aber der wohl kostbarsten Ecke des Weinkellers. Dort, wo die ältesten Flaschen lagerten. Der gesamte Fundus des Verstecks war beschlagnahmt worden – auch die Goldbarren und Dutzenden Weinkisten. Bernard war zuversichtlich, dass all dies letztlich Natalie und Fabrice zugesprochen werden würde. Doch bis das Rechtssystem die Sachlage beurteilt hatte, konnten noch Monate vergehen. Als kleine Entschädigung sollten sie sich etwas anderes schmecken lassen.
Alex besah sich das Etikett. »Ein Pinot noir aus dem Burgund, Jahrgang 1942«, las er vor. Der Korken wirkte fest und intakt, aber Alex wollte kein Risiko eingehen. Er griff zu einer Korkenspange, die er in der Bibliothek gefunden hatte, und zog den Korken geduldig Zentimeter für Zentimeter aus dem Flaschenhals. Er roch daran und goss dann die tiefrote Flüssigkeit in einen Dekanter. Anschließend füllte er alle Gläser mit einem Schluck zum ersten Degustieren.
»Warum ist die Flasche denn blau?«, fragte Fabrice, als sich Alex neben Natalie aufs Sofa fallen ließ.
»Ich habe auch gerade darüber nachgedacht«, antwortete er. »Wenn ich es richtig im Kopf habe, hatten die Weinbauern während des Krieges kaum Glas, um überhaupt Flaschen zu produzieren. Deswegen haben sie genommen, was sie bekommen konnten.«
»Eine blaue Flasche«, schüttelte Fabrice den Kopf. »Und das von traditionsbewussten Franzosen.« Er grinste.
»Eigentlich müsste sie gelbgrün sein«, sagte Alex.
»Habt ihr zwei Klugscheißer langsam genug?«, warf Natalie ein. »Können wir endlich trinken?«
»Herbstlaub, chérie! So viel Zeit muss sein.«
»Herbstlaub?«
»Die Flaschenfarbe. Les feuilles mortes.«
»Tote Blätter!«, rief Natalie aus. »Im Ernst? Hoffentlich schmeckt der Wein nicht so. Chin-chin!«
Sie hoben die Gläser und probierten den zweiundsiebzig Jahre alten Wein.
Alex verzog sein Gesicht. Allerdings nicht wegen des Weines. Noch während die Flüssigkeit in seinen Mund gelaufen war, hatte er vergessen, auf den Geschmack zu achten. Natalies Bemerkung hatte etwas in ihm ausgelöst.
Ohne ein weiteres Wort ging er ins Badezimmer. Er öffnete den Spiegelschrank und durchstöberte ihn, bis er fand, wonach er gesucht hatte.
»Fabrice, kannst du mir mal bitte helfen?«, rief er in möglichst ruhigem Ton.
Kurze Zeit später stand er mit Natalies Onkel im Bad und zeigte ihm seinen Fund.
»Hältst du das für möglich?«
Fabrice betrachtete, was ihm Alex hinhielt.
»Durchaus. Ich habe davon gehört.«
»Meinst du, ich soll das Risiko eingehen?«
»Wenn ich mir überlege, was wir in den letzten Tagen alles durchlebt haben, würde mich nichts mehr wundern.«
»Okay. Bitte halt mir den Rücken frei, falls etwas schiefgeht.«
»Alles klar.«
Sie kehrten gemeinsam ins Wohnzimmer zurück. Alex hielt seinen Fund noch immer in den Händen.
»Was gibt’s, Jungs, ihr seht so ernst aus?«, fragte Natalie.
»Es geht um das hier«, begann Alex und hielt eine Dose hoch.
»Das ist das Kräuterzeug, das Régis gegen Rheuma genommen hat«, sagte Suzanne. »Was ist damit?«
Alex überlegte, ob es irgendeinen Weg gab, es anders auszusprechen. Er fand keinen. »Jean-Daniel, ist es möglich, jemanden damit zu vergiften?«
»Was?«, riefen der Doktor, Natalie und Suzanne fast gleichzeitig.
»Um Gottes willen, Alex, wovon reden Sie?«, entfuhr es dem schockierten Arzt.
»Les feuilles mortes«, antwortete Alex ruhig. »Tote Blätter. So bin ich darauf gekommen. Dieses Zeug enthält Buchsbaum. Wer es über längere Zeit in hoher Dosis zu sich nimmt, stirbt. Ist es nicht so, Doktor?«
Jean-Daniel Forêt sah Alex mit dunklem Gesichtsausdruck an. »Ihr Ton gefällt mir nicht. Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich hätte Régis vergiftet?«
»Ich habe Sie lediglich nach Ihrer Meinung gefragt. Das Wort ›Gift‹ haben Sie in den Mund genommen.«
»Meine Güte, überlegen Sie, was Sie da sagen!«, echauffierte sich Forêt. »Ich habe Régis über Jahrzehnte behandelt. Wir waren Freunde! Warum hätte ich ihn vergiften sollen?«
»Alex, glaubst du nicht, du gehst zu weit?«, fragte Natalie. Sie sah ihn zweifelnd an. Aber Alex erkannte, dass sie wachsam war.
»Ihr habt mir gesagt, Régis sei kerngesund gewesen. Plötzlich fängt er an, sich zu übergeben. Er hat alle Anzeichen einer Buchsbaumvergiftung gezeigt, nicht wahr, Dr. Forêt? Wenige Tage später ist er tot. Genau wie sein alter Freund Serge Clement.«
»Die Untersuchungen haben ergeben, dass er einen schweren Magen-Darm-Infekt hatte«, wehrte sich Forêt.
»Untersuchungen, die Sie selbst durchgeführt haben. Sie konnten sie problemlos fälschen.«
»Mein Lieber«, mischte sich nun Suzanne ein. »Du gehst zu weit! Jean-Daniel ist seit vielen Jahren unser Arzt und Freund.«
»Du hast eben schon immer den falschen Menschen vertraut, meine Liebe«, ertönte eine Männerstimme.
Ein Mann betrat das Wohnzimmer. Er musste sich lautlos Zutritt zur Wohnung verschafft haben. Er trug einen maßgeschneiderten Dreiteiler. Seine graublonden Haare hatte er sich schwarz gefärbt. In seinem Gesicht begann ein Bart zu sprießen. Trotzdem erkannten ihn alle wieder.
Christophe.
In seiner Hand hielt er eine Pistole.