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Donnerstag, 12. Juni 2014, Margaux, Frankreich

Als sie an der Rückseite des Schlosses ankamen, bedeutete ihnen Frey, sich ruhig zu verhalten. Vorsichtig schlichen sie sich einige Stufen hinauf, die zu einem Wintergarten führten. Frey versuchte, die Tür zu öffnen, und hatte Glück. Sie schwang auf, und sie betraten das Schloss.

Sie durchquerten zwei Räume, die vollständig im Dunkeln lagen. Dann standen sie vor einer Tür, von der sie glaubten, dass sie in die Eingangshalle führte. Bernard war vorangegangen und drehte nun vorsichtig den Türknauf. Langsam öffnete sich ein schmaler Spalt und gab die Sicht auf das Foyer frei. Da entdeckten sie Paolo Nivello, diverse weitere Uniformierte, einen Sanitäter und eine Formation der Feuerwehr.

»Unsere Leute«, sagte Bernard sichtlich erleichtert und riss die Tür auf.

Nivello erstarrte, als er sie entdeckte. Dann schien er zu begreifen, wer da aufgetaucht war, rief einen Sanitäter herbei und kam zu ihnen gelaufen.

»Wo zur Hölle kommt ihr denn her?«, rief er.

»Ich finde es auch schön, dich zu sehen«, entgegnete Frey. Sie erklärte, was im Weinkeller passiert war und wie sie es hinausgeschafft hatten.

Nivello nahm sein Funkgerät und rief die Teams zurück, die versuchten, einen Weg in die Katakomben zu finden.

»Also, Paolo«, sagte Bernard. »Was hat diese ganze Scheiße ausgelöst?«

»Als wir hier oben ankamen, sahen wir, wie Guibert die Treppe zur Garage hinunterlief. Wir wollten gerade hinterher, da flog uns alles um die Ohren. Die Explosionen müssen gleichzeitig passiert sein. Bei euch unten und hier oben. Der Typ hat das komplette Zimmer mitsamt Eingang zum Weinkeller in Schutt und Asche gelegt. Die Druckwelle hat uns umgehauen. Einen unserer Jungs hat’s ziemlich erwischt. Er ist im Krankenhaus.«

»Weitere Verletzte?«

»Ja, einer.«

»Wer?«

»Guibert!«

»Der Schweinehund hat sich selbst getroffen?«

»Er hat es in die Garage geschafft und wollte mit einem seiner Schlitten abhauen. Wir sind zur Vordertür raus, als er an uns vorbeiraste. Wir haben auf die Reifen gezielt. Der Typ ist volle Kanne in eine seiner Zypressen gedonnert. Sah nicht schön aus. Wird aber durchkommen.«

»Ist er vernehmungsfähig?«

»Nee, wenn überhaupt, erst später am Tag.«

»Später am Tag?«, schaltete sich nun Alex ein.

»Klar, schau mal auf die Uhr, Prof«, entgegnete Nivello. »Ist schon fast vier. Habt da unten wohl etwas die Zeit aus den Augen verloren, was?«

»Wenn man lebendig begraben wird, spielt Zeit keine große Rolle«, gab Alex zurück.

»Während ihr da unten euer Picknick abgehalten habt, haben wir noch was gefunden«, sagte Nivello ungerührt. Er gab einem seiner Kollegen ein Zeichen. Dieser kam mit einer Tasche angelaufen.

»Die hatte Guibert bei sich, als er abhauen wollte.«

Er ging zu einem Tisch hinüber, öffnete die Tasche und breitete mehrere Notizbücher, Kassetten, Disketten und digitale Speicherkarten vor ihnen aus.

»Was ist das?«, fragte Frey und griff sich im selben Moment eines der Hefte. Bernard, Fabrice und Alex taten es ihr gleich.

»Hey, Jungs, legt das wieder weg«, sagte Nivello. »Nur weil ihr da unten vorhin Bruderschaft mit zwei Ermittlern geschlossen habt, heißt das nicht, dass ihr hier einfach Beweismittel anfassen dürft.«

»Das geht in Ordnung, Paolo«, sagte Bernard. »Gute Arbeit, das mit Guibert. Wenn ich das richtig sehe«, er blätterte in einer schwarzen Kladde aus Leder, »dann sind das hier Notizen zu Treffen der Wächter. Vielleicht kriegen wir die feine Gesellschaft damit dran.«

»Das sollte klappen«, sagte Alex, der immer noch gebannt in dem Heft las, das er sich geschnappt hatte.

»Was macht Sie so sicher?«

»Guibert hat offenbar Namen von Mitgliedern notiert. Zumindest die Namen derjenigen, die er kannte.«

Er reichte Bernard das Heft. Auf der ersten Seite stand »Mitglieder«. Dann folgten gut zwanzig Seiten mit dem gleichen Aufbau. In der ersten Zeile stand ein Name geschrieben, darunter eine Berufsbezeichnung und anschließend mehrere Daten. Alles handschriftlich, alles penibel und korrekt geführt.

»Guibert hat offenbar Buch geführt«, sagte Frey nachdenklich. »Vielleicht war er der Schriftführer oder so was.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Alex. »Wenn die Wächter sich wirklich als Geheimbund verstehen, dann folgen sie mit Sicherheit strengen Regeln. Und die erste dürfte lauten –«

»Keine Aufzeichnungen«, beendete Frey seinen Gedanken.

»So ist es. Es würde mich wundern, wenn irgendjemand von diesen Notizen gewusst hat. Ich glaube eher, dass sich Guibert damit absichern wollte. Für den Fall, dass er selbst mal bedroht wird. Dann hätte er etwas gegen die gesamte Bande in der Hand. Ihre Namen und, wie es für mich aussieht, die Gedächtnisprotokolle ihrer Treffen.«

»Und eventuell sogar Bilder oder Tonaufnahmen«, sagte Fabrice und hob eine der Speicherkarten in die Höhe.

»Eines ist sicher: Wir werden das Geheimnis dieser Dokumente heute nicht mehr lüften«, sagte Bernard. »Dominique, sorg dafür, dass diese Dokumente sofort ins Labor der Kollegen hier in Bordeaux gebracht werden.«

»Wird gemacht«, erwiderte Frey und wollte gerade alle Sachen in die Tasche packen, als Alex noch einmal nach dem Heft mit den Namenslisten griff.

»Einen Moment bitte noch«, sagte er. »Pascal, ich weiß, es ist nur eine Vermutung. Aber es gibt einen Namen auf der Liste, der mir bekannt vorkommt. Zumindest der Nachname.«

»Und welcher wäre das?«

»Der allererste.« Alex schlug die Seite auf und zeigte Bernard den Namen.

»›Richard A. Drumont‹«, las der Juge. »Drumont, so hieß doch die Familie, die die Bank Ihrer Familie damals gekauft hat«, sagte er zu Fabrice.

»Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Richard A. Drumont der Sohn des Bankiers ist«, ergänzte Alex. »Sehen Sie, ich frage mich die ganze Zeit, wo die Wächter Natalie hingebracht haben. Hier ist sie nicht. Und hier war sie auch nie. Aber wir wissen jetzt, dass die Familie Drumont in all das verwickelt ist. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass Drumont der Vorsitzende der Wächter ist. Der Kanzler. Wenn ich eine solche Liste erstellt hätte, hätte ich mit dem Vorsitzenden begonnen.«

»Wenn Sie recht haben, glaube ich kaum, dass wir Ihre Freundin bei den Drumonts finden«, wandte Bernard ein.

»Warum nicht?«

»Weil der Kanzler damit ein erhebliches Risiko eingehen würde. Er weiß, dass ich bei entsprechendem Verdacht jederzeit eine Durchsuchung seines Hauses beantragen kann.«

»Und wenn er sich zu sicher ist?«

»Dann ist er entweder dumm, was ich nicht glaube, oder er will uns herausfordern. Ich weiß nicht, welche Variante mir lieber ist.«

»Ich weiß, dass ich Sie zu nichts drängen kann. Aber die Drumonts sind unsere größte Chance.« Alex legte all seine Überzeugung in die nächsten Worte. »Natalie ist dort!«

Bernard sah ihn lange an. Er schien das Für und Wider abzuwägen. Dann nickte er fast unmerklich mit dem Kopf. »Jetzt müssen wir nur noch wissen, wo ›dort‹ ist.«

»Da kann ich Ihnen weiterhelfen.« Alex griff zu dem Bündel, in das er die Dokumente aus dem Safe eingewickelt hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Drumonts eine derart lukrative Adresse aufgegeben haben.«

»Welche Adresse?«

»Die im Kaufvertrag notiert ist.«

»Und die lautet?«

»Quai des Chartrons, Bordeaux!«