Leseprobe zu André Bawar, AMOK BABY:

EINS

Heute

»Der Tod ist eine Lösung.«

Wer etwas anderes behauptet, ist nicht ehrlich oder mutlos.

Genug gewartet, sieben Jahre lang. Der Tod eines Menschen ist nicht mehr als ein Schlusspunkt und Neubeginn zugleich. Nichts bleibt, alles kehrt wieder – der ewige Kreislauf. Unterbrochen von einer Schrecksekunde. Die ersehnte Befreiung, im besten Fall endgültig.

Der Tod ist eine Erlösung. Den bisherigen Opfern wird er nicht helfen, aber mich soll er befreien. Darauf wird Verlass sein. Was mich da so sicher macht? Erfahrungswerte. Sieben Jahre können eine lange Zeit sein.

Der Mensch, der exekutiert und ins Jenseits befördert wird, schweigt, staunt und sitzt aufrecht hinter einem schweren schiefergrauen Bürotisch. Er trägt keinen standesgemäßen weißen Kittel, der hängt am Garderobenhaken an der fest verschlossenen Zimmertür, sondern er ist – wie eigentlich stets – leger und gut bürgerlich gekleidet. Detlev Bronkhorst. Arzt. Neuropädiatrie. Eine Koryphäe.

Ein selbstsicherer Typ. Bronkhorst kennt seine Wirkung. Doch just in diesem Moment fällt auf, dass irgendetwas anders ist. Etwas stört, vielleicht ist es die stickige Luft … Es riecht. Es riecht nach Schweiß, vermengt mit einem Hauch zu teuren Rasierwassers.

In den letzten sieben Jahren habe ich viel aus Bronkhorsts Milieu erfahren und ertragen müssen. Doch aus unseren verschiedenen Sichtweisen stellen sich die Dinge kurios, verdreht, unvereinbar dar. Das liegt im Charakter der Institutionen begründet: hier ein Krankenhaus, dort ein Elternhaus.

Sein Leben hängt am seidenen Faden, und er verwaltet sein typisch spitzbübisches Lächeln, geradewegs so, als kontrolliere er und nicht ich die Situation. Wir schweigen uns an. Er prüft mein Urteilsvermögen und weiß, dass es mir ernst ist. Nach einem Wimpernschlag des Erstaunens bemüht er sich um sachgerechte Kommunikation.

Die Schusswaffe ist auf ihn gerichtet.

Egal was passiert, Professor Dr. med. Detlev Bronkhorst verliert niemals die Contenance. Ein entspannter, unbefangener Arzt, gnadenlos lässig.

Zu seiner Verteidigung: Niemals hörte ich ihn je ein unfreundliches oder hartherziges Wort gegen einen seiner kleinen Patienten erheben. Weder in seinem einladenden Ordinationszimmer, in dem wir uns jetzt gegenübersitzen, noch auf der weitverzweigten Station seines Kinderklinikums, der sogenannten Rummelsburg, erlebte ich ihn jemals zweifelnd oder gar verzweifelt. Ein Mann, der sein Territorium und vor allem seine Nerven eisern im Griff hat.

Dazu sein gewinnendes Lächeln. Karamellbraune Haare, matter Teint, schmalgliedrige Finger. Einnehmendes Wesen, mit dem er im Film den distinguierten Liebhaber geben könnte. Vielleicht eine Spur zu selbstgefällig; eine kleine Schwäche. Ansonsten ein überaus sympathischer Typ, der nun irritiert registriert, wie ihm eine Schweißperle am Haaransatz herabrinnt.

»Der Tod ist keine Lösung«, versucht er, den Faden wieder aufzunehmen.

Es tut gut, die Dinge zu regeln, bevor es zu spät ist. Da man nichts mitnehmen kann, sollte man den Zierrat aus seinem kleinen Schuhkarton rechtzeitig entrümpeln. Ich bin gewappnet, seit Langem auf alles vorbereitet.

Die Mündung der Pistole zielt auf seinen Kopf. Sporadische Blockierung des Sprachzentrums. Der kleine Tropfen läuft über die Stirn und verfängt sich zwischen seinen zusammengewachsenen Augenbrauen. Höchstwahrscheinlich kitzelt es ihn. Er wagt nicht, es wegzuwischen. Langsam sickert ein verstörendes Gefühl des Ausgeliefertseins in seine Brust. Sein Thorax hebt sich ruckartig, ein stummer Seufzer. Er ahnt: Eine zu hastige Bewegung, und er hätte womöglich verloren. Ausgehaucht – für immer und ewig!

Vorfreude glimmt in mir auf. Meine rechte Hand ist konzentriert und ruhig. Der Lauf richtet sich auf seine Stirn. Ich zähle ihre kurzen, tiefen Falten. Leicht gerötet. Gut durchblutet. Der Schweißtropfen hängt fest.

»Kein Grund zur Sorge. Wenn es geschieht, geschieht es mit Präzision. Die Genauigkeit ist unser gemeinsames Steckenpferd, Herr Doktor! Ich habe Ihnen lange zugehört, exakt zugehört.« Ich tippe mit dem Lauf gegen mein Scheitelbein. »Alles bis ins Kleinste protokolliert. Früher oder später hat jeder von uns die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Den Unterschied macht nur die Dauer der Qual. Im Gegensatz zu den anderen haben Sie großes Glück.«

Er stutzt, besinnt sich, taucht ab in seine vertraute Welt. »Mein Alltag wird fortwährend von Qualen begleitet.« Vorsichtig lehnt er sich in seinen ledernen Sessel zurück. »Todkranke Kinder und ihre verzweifelten Eltern. Töchter, Söhne, Kleinkinder, denen nicht mehr zu helfen ist. Ich habe Menschen gesehen, die weitaus mehr Grund haben, zu leiden, und vielleicht sogar ein Anrecht, Richter zu spielen. Im Gegensatz zu Ihnen. Im Gegensatz zu Ihrer Familie.«

Eine gezielte Provokation, die ich teilnahmslos hinnehme. »Nicht Ihr Niveau, Professor.«

Langsam spanne ich den Abzug. Gefährliches Knarzen in einem sauerstoffarmen Raum.

Mittlerweile schwitzen wir beide. Anfang August, hochsommerliche fünfunddreißig Grad, in einer Betonwüste, die niemals schläft. Flirrende Hitze über einem Kinderklinikum ohne Klimaanlage. Ein heißes Pflaster, wie so viele andere Einrichtungen zum gnadenlosen Sparen verdammt. Ansonsten ein riesiges Haus mit tadellosem Ruf. Die Rummelsburg – zwischen Friedrichshain und Lichtenberg. Kompetenzklotz. Ungeheuerlich beeindruckend. Fast hätte ich mich ihm hingegeben. Totales Vertrauen auf Basis totaler Verunsicherung. Es hat mich vollständig ruiniert. Aber ich gebe keinem die Schuld. Ich räume nur den Professor aus dem Weg. Das ist alles. Dann gehe ich fort. Das große Haus wird weiterleben, seine Kapazität nicht.

»Hören Sie! Sie sollten nach Hause fahren.« Durchdringend schaut er mich an. »Sie sollten sich ausschlafen. Sie sehen müde aus, sie müssen schlafen. Wir vergessen das Ganze, und Sie fahren nach Hause und schlafen sich aus. Was halten Sie davon?«

Jahrelang nicht mehr geschlafen. Mal eine Stunde, mal zwei, mehr nicht. Nachts endlose Phasen des Wachseins. Dann einige wenige Minuten dösen, in seichten Dämmerschlaf versinken, niemals längerer Tiefschlaf. Im Innersten immer hellwach.

Livin' in a world insane. They cut out some heart and some brain , schießt es mir durch den Kopf. Been filling it up with dirt. Yeah baby, dunno how it hurts  The Saints – australische Punkrockband. To be stranded on your own. Stranded far from home 

Seit mein Plan gereift ist, schlafe ich wieder. Keine sechs bis acht Stunden, kein Schönheitsschlaf. Aber Stunden, die Kraft geben. Einschlummern wie dahinscheiden. Vorgeschmack auf das letzte Erkalten. Seitdem das Böse von mir Besitz ergriffen hat, gibt es mir die Kontrolle über meine gereizte Seele zurück.

»Sie sehen müde aus«, wiederholt er hohl.

»Ich schlafe gut. Fast wie ein Baby!« Ich lächle den Arzt an. »Wobei Sie wissen, dass das so nicht stimmt. Viele Ihrer Kinder schlafen gar nicht. Oder sie schlafen ein und wachen kurz danach wieder auf – von fürchterlichen Wein- und Schreikrämpfen gebeutelt. Wochenlang. Monatelang. Erbärmlich.«

Wie ein Alptraum, der Wirklichkeit wird und niemals enden will. Die Kraft schwindet. Sie schwindet nur ganz langsam. Aber sie schwindet definitiv.

»Wie viele Kinder haben Sie sterben sehen, Professor? Wie viele? Verraten Sie es mir? Bitte!«

Tränen wollen in meine Augen schießen. Ich blinzele sie weg.

»Bitte!«, dränge ich ihn ein weiteres Mal.

Bronkhorst knetet seine gepflegten Hände. Ihn irritiert die Nachdrücklichkeit meiner Bitte. Er hat den Tod vor Augen, und der bittet ihn um eine Auskunft. Was soll er antworten? Die Wahrheit? Oder findet er keine Antwort? Sein Blick schweift ab, suchend, unschlüssig, um schließlich auf dem eigentümlichen Kunstwerk an der Wand zu seiner Linken zur vorläufigen Ruhe zu gelangen.

Ich folge seinem Blick. Eine modische Collage, auf etwa einem Meter Breite und anderthalb Metern Länge. Die Basisfarbe ist Blau. In der oberen Hälfte ein wilder Mix aus Plakatfetzen, Notenzetteln, zerrissenen Konzertfotografien. Darunter Gitarrensaiten drapiert, einige Plektren verstreut, zwei gekreuzte Drumsticks, die im spitzen Winkel von der Unterlage in den Raum ragen. Engelsgleich umschlungen von kitschigen Flügeln aus goldenen Federn.

Moderne Kunst, nehme ich an.

»Wissen Sie, von wem das ist?« Ein Zwischenton von Überlegenheit schwingt in seiner Stimme. Fatale Haltung. Vermutlich Todesurteil.

Eine unstrittige Kuriosität: Ärzte verehren die Kunst. Immerzu und überall hängen Kunstwerke an ihren Praxiswänden. Alle Welt staunt, niemand versteht den tieferen Sinn. Beim Zahnarzt veredeln afrikanische Holzschnittskulpturen das getünchte Mauerwerk. Der Orthopäde verwendet kunstvolle Raumteiler, besprüht mit surrealen Motiven eines bekannten Graffiti-Sprayers. Bei der HNO-Ärztin sind es zeitgenössische Fotos mit indischen Motiven eines weltberühmten Fotografen. Dagegen wirken die Repliken der Renaissance und des Barock, die die weißen Wände meines Hausarztes schmücken, fast schon peinlich antiquiert.

Der Mediziner empfindet eine Art Seelenverwandtschaft. Die ärztliche Kunst sei ähnlich kreativ. »Ein Meisterwerk, diese OP, Herr Professor!« Manch ein Heilkünstler rühmt sich für Geschmack und Stilgefühl und orientiert sich am Freigeist des Künstlers. Klingt pathetisch und prätentiös, ändert aber nichts an dem Dilemma, dass sich Spitzenvertreter der Zunft unfehlbar fühlen … ähnlich einem großen, etablierten Künstler. Doch dann der Kunstfehler und der überraschende Karriereknick. Schluss. Ende. Aus. Und die Kunst des Mediziners hinterlässt ihre Opfer 

»Was haben Sie dafür machen müssen?«, frage ich.

»Wissen Sie, von wem das ist?«, wiederholt er nur.

Sein Pech. Kein Auditorium. Nur eine gemeine Waffe, die auf ihn gerichtet ist.

Stranded – I'm so far from home. Stranded – yeah I'm on my own. Stranded – you got to leave me alone. 'cause I'm stranded on my own 

Der Song im Kopf führt mich heim zur Klarheit. Netter Ablenkungsversuch, Bronkhorst! Kurzzeitig war mir die Konzentration entglitten. Zurück zum Grund meines Besuches.

Gelassen hebe ich die Schusswaffe um die verloren gegangene Nuance wieder an. Mein Tag ist gekommen. Die Zeit der Verdrängung ist vorüber. Die Phase des Grübelns geht zu Ende.

»Ich habe ein Bild im Kopf … seit sieben Jahren. Mein Bild. Das Bild einer heilen Welt.«

Die Periode des Zorns hat begonnen.

»Rolling Stones!« Er lächelt, schaut mich herausfordernd an. »Ein echter Ron Wood.«

Ich zähle herunter: drei … zwei … eins