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Dienstag, 10. Juni 2014, Marseille, Frankreich

Bernard legte den Hörer auf die Gabel und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Anruf war unerfreulich gewesen. Er mochte es nicht, derart herumkommandiert zu werden. Und das von einer Zeugin, die froh sein konnte, von ihm nicht wie eine Verdächtige behandelt zu werden.

Und er mochte den Ausblick nicht, mit Paulette telefonieren zu müssen. Schon gar nicht, wenn er sie um etwas bitten musste. Seit Zoés Tod war ihr Verhältnis nicht mehr das beste. Nicht dass sie ihm eine Mitschuld gegeben hätte. Hirntumor war nun mal Hirntumor. Aber Paulettes fluchtartiger Umzug von Marseille nach Paris war ein Zeichen gewesen, dass sie sich nach dem Tod ihrer Schwester von allen alten Verbindungen trennen wollte. So auch von Bernard. Trotzdem würde sie einwilligen, ihm zu helfen und die Briefe bei Suzanne Villeneuve abzuholen. Da war er sich sicher.

Als Xavier Haas das Büro 406 betrat, hätte Bernard es beinahe nicht bemerkt. Der Mann, der nun vor ihm stand, war in jeder Hinsicht durchschnittlich. Durchschnittlich groß, nicht schlank, nicht dick, ein Allerweltsgesicht, das man sofort wieder vergaß, Kleidung, die man in jedem Kaufhaus tausendfach sah. Es gab absolut nichts, das an diesem Mann hervorstach. Einzig, dass Xavier Haas nichts zu entgehen schien. Und das merkte Bernard auch nur, weil ihm ebenfalls nur selten etwas entging.

Wenn er einen Mitarbeiter des Geheimdienstes hätte beschreiben müssen, wäre wohl Xavier Haas dabei herausgekommen. Dieser Mann verdiente sein Geld damit, unscheinbar zu sein. Und nun stand er im Büro des Richters und lächelte unverbindlich.

»Monsieur Haas, nehme ich an«, begrüßte ihn Bernard.

»Ganz recht. Und Sie sind der Mann, der die undankbare Aufgabe hat, die Mörder eines ehemaligen KZ-Häftlings zu fassen, ehe er pensioniert wird. Sie hätten es ruhiger haben können.«

»Treffend formuliert. Aber ich werde es noch früh genug ruhig haben. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie weit mehr über den Fall wissen, als Sie eigentlich dürften?«

»Sagen wir es so: Ich fühle mich umfassend informiert. Auch von den Schweizer Kollegen.«

»Schön, das erspart mir das Wiederholen von Fakten, die mich mittlerweile ermüden, weil sie nicht zusammenpassen.«

»Noch nicht«, erwiderte Haas. »Aber ich habe etwas für Sie, das Sie interessieren wird.« Er setzte sich in einen der Besucherstühle. »Vielleicht hilft es Ihnen weiter. Wenngleich ich eingestehen muss, dass es mir unangenehm ist.«

»Schießen Sie los!«

»Serge Clement wurde von uns überwacht.«

Bernard hatte sich auf das Treffen vorbereitet. Er hatte in der DCRI angerufen und sich bestätigen lassen, dass Haas einer der ihren war. Dann hatte er sich alle möglichen Szenarien überlegt, warum der französische Geheimdienst an Clement interessiert sein konnte. Dass Haas eingestand, den Toten überwacht zu haben, wunderte ihn daher nicht.

»Und warum?«

»Das wissen wir leider auch nicht.«

Damit hatte Bernard allerdings nicht gerechnet.

»Wir prüfen routinemäßig alle unnatürlichen Todesfälle in Frankreich. Mitarbeiter geben die Namen in unser System ein und kontrollieren, ob wir direkt oder indirekt mit dem Toten in Verbindung stehen.«

»Und bei dieser Prüfung sind Sie auf Clement gestoßen.«

»Genau. Wir haben Clements Telefon und Handy abgehört. Seit Jahren.«

»Wer ist ›wir‹?«

»Das ist das Problem. Niemand.«

»Was soll das heißen?«

»Dass niemand dafür verantwortlich ist. Alle Telefonate wurden automatisch aufgezeichnet und auf unserem Server gespeichert. Wir haben die Spur der Dateien zurückverfolgen können. Die Abhörprotokolle wurden sofort auf einen lokalen Rechner überspielt und dann vom Server gelöscht. Sie existieren nicht mehr.«

»Und wem gehört der Rechner?«

»Einem Mitarbeiter, den es nicht gibt.«

Bernard fixierte sein Gegenüber. »Sie wollen mir sagen, Sie haben einen Maulwurf bei sich? Jemanden, der Leute mit Ihren Mitteln abgehört und diese Daten dann entwendet hat?«

»So ist es.« Haas schien es gewohnt, dass so etwas passierte. »Die Person hat sich einen echten Ausweis der DCRI besorgt, einen Zugang und ein Passwort für den Rechner und den Server. Damit konnte sie sich frei bewegen. Und kann es wahrscheinlich noch immer.«

»Sie meinen, er ist noch immer bei Ihnen?«

»Davon gehen wir aus. Ein Doppelagent. Für wen auch immer er arbeitet. Aber er ist so gut, dass wir bislang keine Spur haben.«

»Im Klartext: Sie haben einen Spion bei sich. Und wir haben die Gewissheit, dass die Mörder von Serge Clement noch viel mächtiger sind, als wir angenommen haben.«

»Ich war noch nicht fertig. Ich habe in Ihrer Fallakte gelesen, dass Sie sich auch mit Régis Villeneuve beschäftigen.«

Bernard hob eine Augenbraue. »Das stimmt.«

»Wir haben auf dem besagten Rechner nicht nur Fragmente von Clements Dateien gefunden. Es wurde noch ein zweiter Anschluss abgehört: der von Régis Villeneuve.«

Keines der Szenarien, die sich Bernard überlegt hatte, hatte diese Wendung vorgesehen. Zwei alte Herren, die vom Geheimdienst abgehört worden waren. Es klang zu lächerlich, um wahr zu sein. Und doch passte es ins Bild.