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Mittwoch, 11. Juni 2014, Margaux, Frankreich
Die Finsternis ließ sie zittern. Sie rollte sich auf der Pritsche zusammen und vergrub sich, so gut es ging, unter der Decke. Sie hatte aufgehört zu heulen. Sie hatte aufgehört, an die Tür zu hämmern. Sie hatte aufgehört zu schreien. Sie war still geworden.
So still wie der Raum, in dem sie sich befand. Die Wände schienen jedes Geräusch von ihr zu absorbieren. Fenster gab es nicht. Die Tür schien versiegelt. Selbst der Türspalt war verschlossen. Nichts schien sie mehr mit der Außenwelt zu verbinden. Einzig der rote Punkt, der irgendwo über ihr an der Decke leuchtete und doch so schwach war, dass er nichts von seiner Umgebung preisgab, deutete darauf hin, dass da draußen noch jemand war und sie beobachtete.
Seit man sie in dieses Verlies gesperrt hatte, hatte niemand mehr mit ihr gesprochen. Für eine Minute hatte sie sich orientieren dürfen. Die Pritsche mit Decke, Kopfkissen und einer Plastikflasche Wasser in einer Ecke, ein Stahlklosett in der anderen, oben eine Kamera. Das war’s. Dann hatte man das Licht gelöscht. Seitdem herrschte Dunkelheit.
Natalie suchte mit einer Hand den Boden ab, bis sie die Flasche ertastet hatte. Lange hatte sie dem Verlangen widerstanden, zu trinken. Doch ihr Durst hatte sie überwältigt. Nach dem ersten Schluck hatte sie befürchtet, in Ohnmacht zu fallen. Doch nichts war geschehen. Sie schraubte den Deckel erneut ab, trank, verschloss die Flasche vorsichtig wieder und stellte sie zurück. Ihr Körper gierte nach Flüssigkeit, aber sie zwang sich, das Wasser zu rationieren.
Doch wofür? Wie lang war sie überhaupt schon hier? Es mussten Stunden sein. Oder nicht? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie war unendlich müde. Bilder der letzten Tage tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Suzanne, wie sie bei der Beerdigung nach Natalies Hand gegriffen hatte. Das Foto ihrer Großeltern mit Régis, das ihr Pastor Thomas gezeigt hatte. Fabrice, wie er in der Synagoge plötzlich vor ihnen stand. Ihre Familie. Alles, was sie besaß, drohte sie zu verlieren.
Und Alex.
Wo war er jetzt? War er in Sicherheit? Würde er versuchen, sie zu finden? Würde sie ihn je wiedersehen? Beim Gedanken an Alex kamen die Tränen zurück. Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen. Sie weinte wieder, aber diesmal weinte sie still.