Heute Abend war ich auf einer Party.
Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz je wieder aussprechen würde.
Die Party fand bei Mel statt, weil seine Eltern in Aruba sind oder was auch immer. Ich war natürlich nicht eingeladen – Mel spricht nicht mehr mit mir, seit er mich gefragt hat, was mit Patrick los sei –, aber ich wusste alles darüber, weil Mel so laut redet und heute gleich nach Englisch Caro gefragt hat, ob sie kommen würde.
Oder vielmehr sagte er: »Du musst unbedingt kommen, Caro. Ich muss mit dir reden.« Und das alles vor Beth. Ich war über Mittag im Info-Center, sodass ich das Drama verpasste, aber Caros Augen waren hinterher ganz rot, und jeder Idiot konnte sich zusammenreimen, was passiert war.
Ich war im Info-Center, weil ich nicht mehr in der Cafeteria esse. Ich hatte genug von dem täglichen Wettlauf mit der Schnurrbärtigen, nur um einen beschissenen Platz und beschissenes Essen zu ergattern. Stattdessen nehme ich mir jetzt einen Joghurt ins Info-Center mit. Und der Clou ist, dass Giggles mich darauf gebracht hat.
Sie hat mich im Flur erwischt, als meine Physikstunde schon angefangen hatte, und ich musste zu ihr ins Büro. (Der Grund war, dass Patrick vor dem Klassenzimmer stand, mit einem Gesicht, als ob gleich die Welt untergehen würde, und da habe ich mich bis zum Läuten im Klo versteckt. Fünfzehn Tage. Fünfzehn Tage sind vergangen und ich denke immer noch an ihn.)
Als Giggles merkte, dass sie mich nicht nachsitzen lassen konnte, weil ich nicht genug Verspätungszettel hatte, hielt sie mir einen Vortrag, dass ich der Schule auch mal was »zurückgeben« müsse, und verdonnerte mich dazu, einen Monat lang jeden Mittag im Info-Center zu arbeiten.
Ich bin mal gespannt auf ihr Gesicht, wenn ich ihr verklickere, dass ich den Job freiwillig weitermachen will. Und dass ich ihr dankbar bin, weil sie mich erst drauf gebracht hat. Dann platzt sie wahrscheinlich vor Wut.
Auf jeden Fall hielt mich Caro nach Physik im Flur an und fragte: »Kannst du nach der Schule rüberkommen?«, obwohl der Feind – womit ich natürlich Beth meine – direkt daneben stand und zuhörte. Da wusste ich, dass etwas Großes im Gang war.
Caro wollte nicht zu der Party. Beth war so sauer wegen Mel, dass sie nicht mehr mit Caro redete.
»Na, das erklärt wenigstens, warum du in der Schule mit mir gesprochen hast«, sagte ich, als wir später in Caros Zimmer waren. Ich lag auf ihrem Bett und Caro lief mit einem Eisriegel hin und her. Ihre Mom kauft jetzt immer meine Lieblingssorte. Ich wusste gar nicht, dass ich so oft bei Caro bin, aber es muss wohl so sein.
Caro sah mich an, dann warf sie die Verpackung in den Müll. »Ja, okay, ich bin die letzte Kuh, stimmt’s? Ich weiß nicht, warum du überhaupt mit mir redest.«
»Gratis-Eisriegel. Und außerdem, wenn ich du wäre, würde ich auch nicht mit mir reden.«
»Doch, würdest du.«
Ich verdrehte die Augen. »Vergiss es, Caro. Du bist die schlechteste Lügnerin der Welt.«
Caro ließ sich auf ihr Bett fallen und stieß mich mit dem Fuß an. »Gut. Ich bin viel zu durcheinander, um mit dir zu streiten. Was soll ich jetzt machen?«
»Zu der Party gehen und mit Mel reden.«
»Aber Beth wird …«
»Was? Dich beim Mittagessen zum Weinen bringen? Oder dich so fertigmachen, dass du mich vor allen anderen zu dir nach Hause einlädst?«
Caro seufzte. »Schon gut, ich hab’s kapiert. Aber ich kann nicht hingehen.«
»Okay, dann geh halt nicht.«
»Aber … irgendwie will ich ja doch.«
»Ach ja?«
Und dann sagte sie plötzlich: »Also, kommst du mit?« Mir blieb die Spucke weg.
Aber so bin ich auf der Party gelandet. Meinen Eltern sagte ich, dass ich die Nacht bei Caro verbringen würde. Das war fürs Erste genug Aufregung für sie. Wenn ich dann auch noch die Party erwähnt hätte, wären sie wahrscheinlich ausgetickt.
Und außerdem glaubte ich nicht daran, dass ich wirklich hingehen würde. Ich … ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Ich auf einer Party. Ohne Julia. Wahrscheinlich würde ich draußen warten oder so. Für mich bleiben.
Das schon eher.
Auf dem Weg dorthin gingen wir Caros »Plan« durch. Sie wollte kurz reinschauen, mit Mel reden und dann wieder gehen. Ich sollte ihr die ganze Zeit nicht von der Seite weichen.
»Im Ernst, du darfst mich nicht allein lassen«, flehte sie mich an.
»Das hast du jetzt schon zehnmal gesagt. Aber du brauchst mich dort nicht.«
»Doch, und wie ich dich brauche.«
»Gut«, sagte ich, nur damit sie Ruhe gab. »Aber vergiss nicht, was du mir versprochen hast – selbst wenn Mel dir seine unsterbliche Liebe erklärt, bleiben wir höchstens …«
»Zehn Minuten, ich weiß. Wir gehn rein, er wird sowieso mit Beth zusammen sein, und dann hauen wir wieder ab. Ich weiß gar nicht, warum ich mir das antue.«
»Klar weißt du das«, sagte ich und versuchte den Gedanken an die Party wegzuschieben – und an die Party davor, die letzte, auf der ich mit Julia war. Aber es half nichts, und als ich mit Caro vor Mels Haus stand, war ich nur noch ein seelisches Wrack. Schon in der Tür wurde mir total schwindlig.
Drinnen bekam ich Magenkrämpfe, meine Hände waren schweißig und zittrig und ich merkte sofort, dass die Leute mir ansahen, dass ich nicht hierhergehörte.
So ist das immer auf Partys. Das ist auch der Grund, warum ich vorher immer getrunken habe. Weil es mir dann nicht so schwerfiel reinzugehen.
Ich drehte mich zu Caro um, wollte ihr sagen, dass ich hier rausmusste, aber da kreuzte Mel auf. Er wirkte genauso aufgelöst, wie ich mich fühlte, so, als müsste er sich vor jemand verstecken.
»Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte er zu Caro, und da wusste ich, dass Beth irgendwo in der Nähe war, in dem Gedränge um uns herum, eine frischgebackene Single-Frau und extrem unglücklich darüber. »Können wir irgendwo hingehen und reden?«
Caro sah mich an und ich wusste, dass unser Plan – zehn Minuten und immer zusammenbleiben – gestorben war. Wie konnte ich nur so dumm sein und mich überhaupt darauf einlassen? Ich hatte das oft genug erlebt, wenn ich mit Julia auf einer Party war, zu der Kevin auch kam, und ich am Ende allein dastand.
»Ich kann nicht«, sagte Caro. »Amy und ich können nur zehn Minuten dableiben.«
»Oh«, sagte Mel und starrte mich an. »Ich wusste gar nicht, dass du auch kommst.«
Charmant, der Typ, ehrlich. »Oh, hallo – nett, dass man sich mal sieht«, schoss ich zurück.
»He, so war das nicht gemeint. Tut mir leid.« Mel fuhr sich mit der Hand durchs Haar, blickte sich nach den anderen um, die alle betont in eine andere Richtung starrten, dann drehte er sich wieder zu Caro um. »Nur ein paar Minuten, bitte.«
»Bist du okay? Müssen wir gehen?«
Ich schaute Caro an und es dauerte einen Augenblick, bis ich kapierte, dass sie mich meinte. Offenbar wollte sie Mel sagen, dass sie nicht mit ihm reden konnte, weil wir wegmussten. Und nicht, weil sie nicht wollte, sondern weil sie sah, dass ich total fertig war, und weil sie bereit war, ihr Versprechen zu halten und mich hier rauszubringen.
Außerdem hatte sie natürlich Angst, auf Beth zu treffen. Aber sie meinte es ernst, denn als ich sagte, »Nein, geh nur und sprich mit ihm«, schüttelte sie den Kopf und flüsterte: »Tut mir leid. Ich hätte es gleich merken müssen. Das ist bestimmt hart für dich.«
»Jetzt geh schon«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab.
»Zehn Minuten«, versprach Caro, dann verschwand sie mit Mel in der Menge. Ich blickte mich um, zwang mich dazu, obwohl mir die Hände zitterten. Obwohl ich am ganzen Körper zitterte.
Und was sah ich?
Die Leute tanzten. Knutschten. Tranken. Redeten.
Das war alles. Mehr gab es nicht zu sehen.
Nur, dass alle Spaß hatten, und ich wusste, dass es dumm von mir war, mich so aufzuregen. Es war dumm, Angst zu haben.
Aber ich hatte Angst. Ich wollte hier raus.
Und vor allem wollte ich trinken.
Was auf einer Party zum Glück kein Problem war. Nicht weit von mir wartete ein Fass mit einer Batterie Flaschen auf einer improvisierten Bartheke. Es waren höchstens zwanzig Schritte bis dorthin. Ich musste nur rübergehen.
Aber ich konnte nicht.
Ich konnte nicht, weil mich alles so an meine letzte Party erinnerte – wenn die Leute etwas weniger lahm, die Musik lauter und der Raum dunkler gewesen wären –, die letzte Party mit Julia.
Ich ging weg, torkelte in meinen flachen Sneakers herum, als hätte ich solche Monsterschuhe an, wie Julia sie sich gern an die Füße schnallte, diese Wahnsinns-Plateauschuhe, in denen ich so groß war, dass ich mir den Kopf an der Zimmertür anstieß, als ich mich einmal breitschlagen ließ, die Dinger anzuprobieren.
Ich ging weg, blieb aber auf der Party. Ich wollte trinken, wollte vergessen, und als erfahrene Partygängerin wusste ich, wo die hochprozentigen Sachen zu finden waren, die Flaschen, die vorher versteckt worden waren, weil sie kontrolliert wurden.
Selbst in diesem Zustand – wacklig und schwitzend, Julias Gesicht auf der letzten Party vor Augen, ihr Gesicht, das alles andere auslöschte – fand ich in weniger als fünf Minuten, was ich suchte. Mels Eltern hatten einen großen Barschrank mit einem komplizierten Schloss, aber als ich es endlich aufkriegte, war nichts drin.
Mel ist gar nicht so dumm, auch wenn er sich mit Beth eingelassen hat.
Ich hätte jetzt gehen können. Oder sollen. Aber ich wusste, wo ich als Nächstes suchen musste, und ging die Treppe hinauf, redete mir ein, dass ich die Schlafzimmer mit den verschlossenen Türen nicht sah, Julias Gesicht nicht sah, das überall um mich herum war, und steuerte direkt aufs Badezimmer zu.
Ich fand den ganzen Vorrat aus der Schnapsbar und einen Satz Gläser mit Monogramm im Wäschekorb, unter einem Haufen nasser, schmutziger Handtücher. Scotch, Bourbon, ein ganz anständiger Wodka, oder jedenfalls die bessere Sorte, die in Glas- statt Plastikflaschen abgefüllt wird.
Meine Hände zitterten, als ich den Wodka aufmachte, aber nicht, weil ich Angst hatte. Nein, jetzt hatte ich keine Angst mehr. Ich wollte trinken, wollte meinen Gedanken entkommen. Allem entkommen. Ich zitterte vor Gier nach Alkohol.
Ich schenkte mir ein Glas ein, dann legte ich die Flasche zurück in den Wäschekorb – mein süßes kleines Geheimnis.
Ich war nie als Alkoholikerin eingestuft worden. Nicht mal in Pinewood. Warum? Weil ich nicht die ganze Zeit trank. Ich trank zu viel, zu oft, aber nicht jeden Tag. Ich konnte aufhören und ich hatte auch aufgehört.
Komatrinken, wurde mir gesagt. Oder Kampftrinken. Es ist gefährlich, aber unter Jugendlichen sehr verbreitet, besonders bei Mädchen. Was ich machte, galt nicht als Krankheit, war kein Defekt, und eines Tages, wenn ich erwachsen und vernünftig genug war, würde ich normal trinken können. Wahrscheinlich sollte mich das aufmuntern – die Aussicht, irgendwann normal trinken zu können.
Das ist natürlich Kacke, dieses Schubladendenken. Eine Liste von Symptomen abzuhaken und zu sagen: »Das hier trifft auf dich zu. Das bist du.« Mit Julia haben sie es genauso gemacht – die Lehrer, Julias Mom, sogar die Leute in der Schule – alle haben sie in eine Schublade gesteckt. Weil sie schnell gelebt hat, laut und ungeniert, weil sie Spaß hatte. Weil sie nicht zuhörte, wenn sogenannte Respektspersonen ihr etwas vorschreiben wollten. Julia hatte Sex. Sie nahm Drogen. Manchmal trank sie auch. Laut Checkliste ein Problemfall.
Aber das stimmt nicht. Sie hatte ein lautes, mitreißendes Lachen, ein großes Herz und sie wollte einfach in einer Welt leben, in der man als Minderjähriger seinen eigenen Kopf haben durfte.
Ich werde nie normal trinken können und will es auch nicht. Trinken, das bedeutet für mich die Erlösung von mir selber. Ich muss nicht trinken, um gut durch den Tag zu kommen oder meine Probleme zu kaschieren oder weil ich den Alkohol als solchen brauche.
Wenn ich trinke, dann nur, weil ich nicht so sein will, wie ich bin. Mein Problem, meine Krankheit, das bin ich selbst und ich habe aufgehört zu trinken, weil Julia tot ist und weil ich spüren wollte, wer ich bin, spüren mit jeder Faser meines Herzens. Damit ich nie vergesse, was ich getan habe.
Ich hätte mein Wodkaglas jetzt wegstellen müssen. Dank Pinewood und Laurie wusste ich, dass ich an diesem Punkt innehalten und darüber nachdenken müsste, was mich hierhergeführt hat. Was ich davon habe, wenn ich vor mir selber davonlaufe. Was es mich gekostet hat.
Ich hätte das Glas wegstellen müssen, schon allein wegen Julia. Weil sie tot ist. Und selbst wenn es ihre eigene Entscheidung war, wenn sie selber dafür verantwortlich war, musste ich trotzdem mit meiner leben.
Aber ich stellte das Glas nicht weg. Ich trank. Ohne zu schmecken, was ich trank. Das war mir egal. Der Geschmack von Alkohol hat mich nie interessiert.
Ich trank, spürte das vertraute Brennen auf meiner Zunge, in meiner Kehle, die Wärme, die sich in meinem Bauch ausbreitete, ein Zeichen, dass ich bald aufhören würde, mich so klein zu fühlen, so dumm, so sehr ich. Ich trank, dann ging ich zur Treppe zurück. Jetzt war ich bereit, mich in die Party zu stürzen. War ja keine große Sache. Was sollte mir schon passieren, wo ich doch jederzeit wieder hochgehen und das Glas auffüllen konnte, das ich in der Hand hielt?
Patrick saß oben am Treppenabsatz. Er spähte durch das Geländer auf die Party hinunter, beobachtete alles, was unter uns vorging. Ich kannte den Ausdruck in seinem Gesicht. Diesen »Warum«-Blick. Warum bin ich nicht wie die anderen dort unten? Warum kann ich nicht einfach meinen Spaß haben, so wie alle? Warum kann ich nicht normal sein? Warum bin ich überhaupt hier?
Als er sich umdrehte und mich ansah, erstarrte ich. Da war er, direkt vor mir, und alles – die Nacht im Hobbykeller, die Dinge, die er zu mir gesagt hatte, der Nachmittag in seinem Zimmer – das alles stürmte auf mich ein, füllte mir den Kopf.
Ich umklammerte mein Glas und ich sah, dass er es bemerkt hatte. Sah, wie er draufstarrte und dann mich anschaute.
Da endlich konnte ich mich wieder rühren. Ich hob das Glas, um zu trinken.
Patrick sagte nichts. Ich auch nicht. Ich trank.
Er schaute mir zu. Ich schloss die Augen, damit ich ihn nicht sehen musste. Als ich sie wieder aufmachte und mein Mund, mein Hals wie Feuer brannten, redete er endlich.
»Darf ich auch mal?«, fragte er.
Ich starrte ihn an. Fünfzehn Tage und dann das … darauf war ich nicht gefasst gewesen. Aber Patrick sagte ja nie, was man von ihm erwartete.
Es gab mir einen Stich und ich verwünschte diesen dummen, weichen, hoffnungsvollen Fleck im tiefsten Winkel meiner Seele, etwas, das ich verzweifelt wegzulügen versuchte. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich mir insgeheim mehr erhofft hatte. Dass er mir vielleicht doch etwas bedeuten könnte. Und ich ihm.
Im tiefsten Herzen hatte ich geglaubt, dass ich in ihm denselben Funken angefacht hatte wie er in mir.
Ich hielt ihm das Glas hin. Er nahm es, vermied sorgfältig, dass unsere Hände sich berührten. Wenn ich es doch nur nicht gesehen hätte, aber ich sah es und es tat mir weh.
Patrick schloss auch die Augen beim Trinken.
»Mann, das schmeckt vielleicht beschissen«, sagte er, als er fertig war. »Willst du das wirklich zurückhaben?«
Ich streckte wortlos die Hand nach dem Glas aus. Er gab es mir nicht, aber das war okay. Nachher würde ich es ihm wegnehmen, damit ins Bad marschieren und es wieder auffüllen – nein, ich würde mir die ganze Flasche unter den Nagel reißen. Ich würde mir den Wodka schnappen und Patrick vergessen wie einen schlechten Traum, ich würde runtergehen zu den anderen, mitten ins Partygewühl, und … nichts.
Nein, ich wollte nicht auf die Party. Ich wollte nirgends hin. Da war niemand, den ich sehen wollte. Meine Hände zitterten wieder.
»Gib mir das Glas«, sagte ich.
Patrick schloss beide Hände darum. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich mal mit Julia geredet habe, ja? Ich wollte mit ihr über dich reden. Das war letztes Frühjahr, an dem Montag nach … nach der Party in Millertown. Ich bin direkt vor der dritten Stunde zu ihr gegangen. Der Flur war total überfüllt, überall standen Leute rum, aber ich bin trotzdem hin und hab ihr gesagt …«
Wenn ich das Glas noch in der Hand gehabt hätte, dann hätte ich es jetzt fallen lassen. Patrick hatte mit Julia geredet und sie hatte mir nichts davon gesagt. Ich konnte es nicht glauben.
»Davon weiß ich gar nichts. Hast du ihr erzählt, was wir … hast du ihr erzählt, was passiert ist?«
Patrick schüttelte den Kopf. »Ich hab ihr gesagt, dass ich auf der Party mit dir gesprochen hätte. Dass ich … dass ich dich mag. Ich dachte, vielleicht würde sie mir helfen, mit dir in Kontakt zu kommen. An dem Abend … da bist du einfach verschwunden. Ich bin sogar wieder rein auf die Party und hab dich gesucht, aber du warst weg. Als wir da unten im Keller waren, da hab ich mich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit nicht mehr als Loser gefühlt, verstehst du? Aber als ich zu Ende geredet hatte, da hat Julia …«
Ich konnte mir denken, was passiert war. Julia hasste die dritte Stunde, sie hasste Geschichte und jeder, der sie vorher ansprach, bekam sein Fett ab. Ich habe mich vor und nach jeder Stunde mit Julia an ihrem Schließfach getroffen, außer dieser einen.
»Sie hat nichts gesagt, nur ihr Schließfach zugeknallt und dann ist sie davonstolziert, stimmt’s?«
»Nein.« Patrick schüttelte den Kopf. »Sie sagte: ›Davon hat sie mir nie was erzählt.‹ Und dann hat sie mich angesehen. Nur eine Sekunde lang, aber mit einem ganz komischen Blick. Dann erst hat sie ihr Schließfach zugeknallt und ist weggegangen.«
Und da wusste ich, dass ich Julia eine noch viel schlechtere Freundin gewesen war, als ich gedacht hatte. Weil ich sie schon vor der Sache mit Kevin verraten hatte, bevor ich ihre Hand nahm und sie zum Auto führte. Ich wusste es, sobald Patrick von ihrem komischen Blick anfing.
Julia hatte mich nach Patrick gefragt. An dem Montag nach der Party gingen wir nach der vierten Stunde den Flur entlang und sie sagte: »He, hast du auf der Party jemanden kennengelernt?«
Ich schaute sie an und sie mich. Ich konnte den Ausdruck in ihrem Gesicht nicht entziffern.
»Nein«, sagte ich, weil es mir Angst machte, wie wild mein Herz klopfte bei dem bloßen Gedanken an diese Party. An diese Nacht. »Jedenfalls nichts, worüber sich zu reden lohnt.«
Der seltsame Ausdruck in ihrem Gesicht blieb. Ich verstand es nicht, aber ich wusste, dass ich diesen Typen und den ganzen Abend und alles, was ich fühlte – so unsicher, so verletzlich –, weghaben wollte. Deshalb wechselte ich schnell das Thema und sagte: »He, ich glaube, da kommt Kevin, siehst du, ganz da hinten?«
Das wirkte, aber trotzdem dauerte es eine Weile, bis der seltsame Ausdruck von Julias Gesicht verschwand.
Sie war gekränkt. Das hatte dieser Ausdruck zu bedeuten. Ich hatte versprochen, ihr immer alles zu erzählen, ein Versprechen, wie kleine Kinder es sich geben und das sie dann bald wieder vergessen, aber Julia nicht. Sie brauchte das.
Julia brauchte das Gefühl, dass es einen Menschen auf der Welt gab, der ihr immer zuhörte. Dem sie alles erzählen konnte, der ihr alles erzählte. Ich kannte sie so gut. Wieso hatte ich nicht gemerkt, was der Ausdruck in ihrem Gesicht bedeutete?
Weil ich Angst hatte. Nicht vor ihr, sondern vor mir selbst. Vor meinen Gefühlen in dieser Nacht, die so anders gewesen waren als alles, was ich bis dahin erlebt hatte.
Ich schluckte und meine Augen brannten.
»Doch, sie hat mit mir über dich gesprochen«, wisperte ich. »Sie hat mich nach der Party gefragt. Nach einem Typen. Nach dir. Und ich … ich hab gesagt, da sei nichts gewesen, jedenfalls nichts, was der Rede wert sei.«
»Oh«, sagte er und nahm noch einen Schluck von dem Wodka, wieder mit geschlossenen Augen.
Als er getrunken hatte, schaute er auf die Party hinunter, dann hielt er mir das Glas hin. »Das hab ich mir schon gedacht. Ich wusste ja, dass das, was passiert war, nichts zu bedeuten hatte … dass es keine große Sache war. Aber neulich, da dachte ich, dass du … dass wir …« Er schüttelte den Kopf. »Ach, egal.«
Ich starrte erst das Glas an, dann ihn. Ich lechzte nach dem Wodka, aber auch danach, ihn zu berühren. So sehr, dass es wehtat. Ich wollte diese Gefühle nicht. Hatte sie nie gewollt. Aber ich hatte nicht gewusst … hatte nicht gewusst, wie sich das wirklich anfühlt …
Wie es ist, wenn man einen Typen wirklich will, und man weiß, dass er einen auch will, davon hatte ich keine Ahnung, weil ich es mir nie zugestanden hatte. Es ist ein schreckliches Gefühl, das einen zwingt, sich zu öffnen, alles Weiche, Verletzliche an sich preiszugeben, von dem man wünscht, man hätte es gar nicht.
Und das einen hoffen lässt.
»Ich habe gelogen«, sagte ich. »Ich hab Julia angelogen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte – das mit dir war so … ich hab mich bei dir so …« Ich musste innehalten. Nicht, weil mir die Worte fehlten, sondern weil ich Angst hatte, sie auszusprechen.
Patrick sah mich an und da wusste ich, dass ich ihn lieben konnte. Dass ich ihn lieben würde, wenn ich es nur zuließ.
»Ich mich bei dir auch«, sagte er und streckte eine Hand aus. Ich schaute darauf. Schaute auf das Glas in seiner anderen Hand.
Ich griff nach dem Glas und schloss meine Hand darum. Es passte hinein wie angegossen und ich wusste, wenn ich daraus trinken würde, dann brauchte ich kein Wort mehr zu sagen.