Ich habe mein Notizbuch zugeklappt und die Blicke ignoriert, die Mom darauf warf. Ich wusste, dass sie nicht fragen würde, was ich schrieb.
Hat sie auch nicht. Stattdessen musste ich auf dem ganzen Heimweg Fragen über die Schule beantworten. Seit ich Julias Schließfach in Ordnung gebracht habe, quetscht sie mich dauernd aus und Dad auch.
Also hab ich geredet.
Ich sagte: »Ja, der Unterricht ist okay.«
Und: »Ja, ich geb mir Mühe, Freunde zu finden.« (Dabei weiß ich gar nicht, wie man das macht. Ich hätte es vielleicht in Pinewood probieren sollen. Aber ich konnte nicht. Ich habe keine Freundschaften verdient, und außerdem, ohne Julia, ohne Alkohol, war ich nichts, ein zusammengeschrumpftes Etwas, stumm, wieder das kleine Mädchen, das genau wusste, dass es nie die richtigen Worte finden würde.)
Das ging auf der ganzen Heimfahrt so, Frage um Frage, und ich wusste, wenn ich mit Mom zu Hause war, würde ich Lobeshymnen ernten, weil ich meine Hausaufgaben gemacht und nach dem Abendessen das Geschirr in die Spüle gestellt hatte, und vielleicht fielen sogar ein oder zwei Umarmungen für mich ab.
Dabei will ich nur noch, dass das aufhört, will, dass Mom und Dad wieder wie früher sind, glücklich und verliebt, und ich der Trabant, der um sie herumkreist.
Sie haben immer noch kein Wort dazu gesagt, was ich ihnen neulich Abend über Julia erzählt habe. Sie bringen es immer noch nicht fertig, mir ins Gesicht zu sagen, was ich getan habe. Was ich bin.
»Ich will … ich muss auf den Friedhof«, sagte ich zu Mom, als sie in die Einfahrt einbog. Sie warf mir einen Blick zu und ich wusste, dass ich mehr darüber sagen musste.
»Laurie will, dass ich hingehe.« Ich dachte, das würde ausreichen, die magischen Worte, das Sesam-öffne-dich, aber Mom schaute mich immer noch an.
»Du kannst sie anrufen und fragen, wenn du mir nicht glaubst«, fügte ich hinzu. Mein Gott, wie ich mich früher danach gesehnt hatte, dass Mom mich so anschaut wie jetzt, mir so zuhört. Mehr hören will. Mich hören will. Aber so hatte ich es nicht gewollt.
Mom biss sich auf die Lippen. »Willst du das denn? Willst du wirklich hingehen?«
»Ich war noch nie da. Ich … ich hab noch nicht mal ihr Grab gesehen. Am Tag der Beerdigung, da konnte ich nicht …«
»Amy«, sagte meine Mutter sanft – so sanft, als seien diese drei Buchstaben hochzerbrechlich, kostbar. Etwas, das man lieben könnte. Ich starrte auf meine Hände hinunter, auf die geballten Fäuste in meinem Schoß, und ich wusste, wenn ich mich rührte, würden sie das auch tun. Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich alles dafür gegeben – wirklich alles, sogar meine Partynächte mit Julia –, wenn Mom so mit mir geredet hätte wie jetzt.
»Du musst dir das nicht antun«, sagte sie.
Ich wusste, wenn ich mich rührte, würde etwas Schreckliches passieren. Ich spürte es in mir, in meinen Fäusten, die immer noch geballt in meinem Schoß lagen. Ich schluckte, würgte einen Schwall von etwas Bitterem hinunter, das mir in die Kehle schoss und hinter den Augen brannte.
»Laurie will wirklich, dass ich hingehe.«
»Das glaub ich ja, Amy, und sie wird ihre Gründe dafür haben. Aber Laurie war nicht da, als Julia beerdigt wurde. Sie hat nicht dein Gesicht gesehen. Sie hat dich nicht im Auto, in der Kirche gesehen. Als dein Vater und ich hinterher zum Auto zurückgekommen sind, dachte ich … ich dachte: So sehen Gespenster aus. Du warst so …« Mom verstummte, atmete schwer.
Ich schaute zu ihr hinüber. Sie starrte geradeaus und blinzelte heftig. Die Ränder ihrer Augen waren rot.
»Bitte fahr mich hin«, sagte ich und es war zugleich schön und schrecklich, meine Mutter so aufgewühlt zu sehen, und schön und schrecklich, dass ich der Grund dafür war.
Sie fuhr mich hin und ich durfte allein zum Grab gehen, aber sie wollte mich nicht zu Fuß nach Hause gehen lassen. »Ich weiß, dass es nicht weit ist, aber ich warte hier auf dich. Ich kann dich jetzt nicht allein lassen.«
Ich wollte diese Worte nicht von ihr, nicht so, nicht hier, aber gleichzeitig war ich so gierig danach, dass ich sie am liebsten aus der Luft gepflückt und in mich reingeschlungen hätte, wenn das möglich gewesen wäre.
Ich stieg aus dem Auto und ging zu Julia.
Ich war die Einzige weit und breit und meine Schritte das einzige Geräusch. Und plötzlich stand ich davor, ich sah, wo Julia war. Es war so … so kahl. Nur Erde und ein Stein, und daneben, ringsherum, andere Gräber, die genau gleich aussahen. Wo immer ich auch hinschaute, nichts als Gras und Steine, und ich …
Ich konnte nicht hinsehen. Ich konnte es nicht ertragen, das Fleckchen Erde zu sehen, das ihres war, den Stein mit ihrem Namen drauf. Ich wandte mich ab und ging durch den Friedhof, versuchte blind zu sein für all die Steine, das säuberlich getrimmte Gras. Ich kam am entgegengesetzten Ende des Parkplatzes heraus, wo Moms Wagen nicht zu sehen war.
Ich wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Ich konnte sie spüren, ein heißes Brennen in meinen Augen, aber etwas anderes, Erinnerungen an jene letzte Nacht, Julias letzte Nacht, griff mit spitzen Klauen nach mir, ließ mich erstarren.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, aber nach einer Weile fuhr ein Auto auf den Parkplatz. Es war knallgelb und ein alter Mann saß auf dem Fahrersitz. Als er ausstieg, wirkte er genauso fehl am Platz wie sein Auto, stand zögernd da, als wartete er auf etwas. Hoffte auf etwas. Dann merkte er, dass ich ihn anstarrte, und ging in den Friedhof hinein.
Wieder bog ein Auto in den Parkplatz ein, aber ich schaute nicht hin. Ich beobachtete weiter den Mann. Seine Schultern sackten nach unten und er senkte den Kopf, als er zwischen den Gräbern entlangging. Er sah aus, als gehörte er dorthin.
»Amy?«
Ich drehte mich um. Julias Mutter war da und starrte mich an, als sei ich ein schlechter Traum. Es war ein Wochentag, fast Abend, und sie hätte noch in der Arbeit sein müssen, in ihrem weißen Kittel mit dem Namensschild dran. Ich kannte ihren Stundenplan so gut wie den von Julia. Zu der Uhrzeit gehörte sie noch in die Cost-Rite-Apotheke. Sie hätte nicht hier stehen dürfen, nur wenige Meter von mir entfernt.
Aber da war sie, auf ihr Auto gestützt, als sei es ihr einziger Halt im Leben. In der anderen Hand hielt sie einen gelben Strauß, in Plastikfolie eingeschweißt. Blumen für Julia, aber die falschen.
»Julia hasst Gelb«, sagte ich.
Es war die Wahrheit – Julia war überzeugt, dass sie schrecklich damit aussah (was nicht stimmte), aber ich hätte es trotzdem nicht sagen dürfen. Wollte ich auch gar nicht, es war mir einfach so rausgerutscht. Jetzt stand ich da. Ich hatte nicht mehr mit Julias Mom geredet, seit jenem Abend, als ich Julias Hand genommen und ihr gesagt hatte, dass alles gut wird. Warum habe ich ihr nicht gesagt, was ich mir schon so lange zurechtgelegt hatte, was ich ihr jedes Mal sagen wollte, wenn ich bei Julia zu Hause angerufen hatte?
»Mag sein«, sagte Julias Mom und stemmte sich vom Auto ab. »Aber sie hasst es sicher noch viel mehr, dass sie tot ist.«
»Ich meine doch nicht …«
»Ich weiß genau, was du meinst. Du hast sie besser gekannt als ich. Bist du jetzt zufrieden, Amy? Sie hat mir nichts erzählt, nicht mal so was Unwichtiges wie ihre Lieblingsfarbe, aber dir hat sie vertraut. Sie hat dir vertraut und du …«
»Ich weiß, ich hätte sie nicht fahren lassen dürfen. Wir hätten … ich hätte … ich hätte das doch alles nie gemacht, wenn ich gewusst hätte … ich schwöre es ….«
»Aber du hast es gemacht. Du hast sie fahren lassen und jetzt ist sie tot. Julia wird nie achtzehn werden, nie die Highschool abschließen. Sie wird nie … ich würde alles dafür geben, wenn ich noch ein einziges Mal ihre Stimme hören könnte, selbst wenn sie mich nur anschreien würde, dass ich zum Teufel gehen soll … Aber das wird nie passieren, oder?«
»Ich hab versucht, Sie anzurufen. Ich wollte sagen …«
»Ich will es nicht hören«, unterbrach sie mich und kam auf mich zu. Als sie nahe genug war, dass ich um ihre Augen herum die feinen Risse in ihrem Make-up sehen konnte, die dunklen Ringe darunter, die sich nicht verbergen ließen, blieb sie stehen und packte mich am Arm. »Ich will es nicht von dir hören und ich will dich nicht sehen. Durch dich hab’ ich alles verloren. Alles.«
»Es tut mir leid«, sagte ich, und endlich, endlich brachte ich es heraus. »Es tut mir so leid, was ich getan habe.«
»Es tut dir leid?« Sie ließ meinen Arm fallen, als hätte sie sich an meiner Haut verbrannt. »Es tut dir leid? Davon wird sie nicht wieder lebendig. Julia ist tot und du bist noch da.« Sie schlug mich mit den Blumen, dass mir das Plastik ins Gesicht knallte und überall um mich herum Blütenblätter in die Luft flogen. »Spar dir deine Worte. Worte sind nicht genug. Werden es nie sein.«
Da rannte ich los, kehrte um und stolperte über den Parkplatz, zu Moms Auto, und Mom saß ruhig auf ihrem Sitz, lächelte, als sei sie froh, dass ich wieder da war. Ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen und legte mich auf den Rücksitz, drückte mein Gesicht ins Polster und wünschte mir, es würde mich mit Haut und Haaren verschlingen.