Julia,
ich sitze auf dem Klo. Auf dem Lehrerklo. Kannst Du dich noch an die Schilder erinnern? Und an die bösen Gesichter, wenn wir uns auch nur in die Nähe wagten? Dabei ist das Klo auch nicht viel besser als unsres, was mich echt wundert. Ich meine, wozu die giftigen Blicke, wenn es gar nichts Besonderes zu verteidigen gibt?
Hier bin ich in Sicherheit, solange ich mich nicht rühre, solange ich einfach hier sitzen bleibe, unsichtbar – also, wenn ich das durchziehe, wird mein erster Tag in der Schule ganz okay sein.
Weißt Du, wer die Beratungslehrerin ist, zu der wir gehen mussten? Mrs Griggles – oder Giggles, wie wir sie immer nannten. Giggles setzte allen Ernstes ein erfreutes Lächeln auf, als wir hereinkamen. Aber am Schluss war sie so sauer, als hätte ihr jemand eine Zitrone in den Mund gestopft. Arme alte Giggles. (Schade, dass Du nicht da warst und Giggles zu ihr gesagt hast, was ich mich nie getraut habe.) Du hättest mal ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr den Stundenplan gab, der in Pinewood für mich zusammengestellt worden war. Ich dachte, sie platzt gleich. Und ich bin auch fast geplatzt.
In Pinewood musste ich einige Tests machen, ob ich durch das Trinken irgendwie »lernbehindert« geworden war, verstehst Du? Ich wollte die Ergebnisse nicht sehen – was ging mich das an? Das Einzige, was mich interessiert, sind Sprachen und der Englischunterricht an der Lawrenceville-County-High ist zum Abgewöhnen. Schule ist sowieso nur Zeitverschwendung und Schule ohne Dich – das will ich mir gar nicht vorstellen. Aber »lernbehindert« bin ich jedenfalls nicht. Laut Bericht kann es sogar sein, dass ich mit dem Trinken angefangen habe, weil ich »im Unterricht chronisch unterfordert« war. Das hat Laurie geschrieben, jede Wette. Diese klickende Kuh.
Jedenfalls bin ich jetzt statt meinem üblichen Minimalprogramm (Hausaufgabenbetreuung und niedrige Erwartungen) überall im Leistungskurs: Englisch, amerikanische Geschichte, Physik, Französisch, außerdem Geometrie und Psychologie. (Auch das riecht nach Laurie, wenn Du mich fragst.) Ich wollte protestieren, als Giggles die Liste vorlas und sagen: »Nein, das will ich nicht«, aber meine Kehle war wie zugeschnürt und Mom sah plötzlich aus wie eine Fremde, von der keine Hilfe zu erwarten war.
Eine Sekunde lang vergaß ich alles und blickte mich nach Dir um, weil ich doch immer nur mit Dir zusammen im Büro von Giggles war.
Immer. Ach, Julia, ich hätte alles dafür gegeben, wenn Du da gewesen wärst. Aber Du warst nicht da. Und wirst nie wieder da sein. Ich musste ganz schnell raus und fragte, ob ich auf die Toilette gehen könne.
Ich wollte abhauen, aus der Schule flüchten, und ich war schon halb den Flur entlang, da merkte ich plötzlich, wo ich hinsteuerte. Ich war automatisch darauf zugegangen.
Dein Schließfach.
Und da hab ich es gesehen, Julia. Weißt Du, was sie damit gemacht haben? Vollgepflastert mit Glitzersternchen. Auf den Sternchen kitschige Gedichte und kleine Briefchen an Dich. Die Leute VERMISSEN DICH und LIEBEN DICH und DENKEN AN DICH. Ich hab die Tür aufgemacht – sie war nicht zugesperrt – und innen derselbe Schrott. Alle Deine Sachen sind weg. Die Karte, die Du von Kevin zu Eurem Halbjährigen bekommen hast. Die Bilder von Dir und mir. Dein Kosmetikbeutel. Die Plastiktüte ganz hinten, die immer mit winzigen Schnapsfläschchen für mich und irgendwelchen Pillen für Dich gefüllt war. Der Mantel, den Du nie getragen hast, und das Foto von Dir und Deiner Mom, auf dem Ihr beide richtig strahlt und das Du in der Tasche versteckt hattest. Das alles war weg, durch falsche Sterne und falsche Worte ersetzt.
Ich hätte am liebsten alles heruntergerissen. Du hättest das wahrscheinlich gemacht. Ganz sicher sogar. Du warst nie unsicher, was Du machen oder sagen sollst. Du hast immer gewusst, wie man andere zum Lachen bringt oder ihnen den Mund stopft. Und wenn Dir danach war, hast du Deine Haare mit Brausepulver lila gefärbt, einfach als Gag, und laute Schnarchgeräusche von Dir gegeben, um Giggles auszubremsen, wenn sie uns einen Vortrag übers Zuspätkommen hielt. Selbst in betrunkenem Zustand hätte ich mich das nicht getraut.
Und jetzt bin ich hier, in der Schule, und verstecke mich im Lehrerklo und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann nicht weg, Julia. Ich sitze hier fest und bin am Durchdrehen. Wenn ich die Augen schließe, kommst Du dann zu mir? Du musst nicht alles wiedergutmachen. Du musst überhaupt nichts machen. Ich will nur, dass Du da bist. Nur für eine Sekunde.
Bitte.