158 Tage und heute Nachmittag war ich bei Laurie.
Diesmal konnte ich es kaum erwarten, mit ihr zu sprechen. Weil ich dachte, wenn jemand bereit war, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, dann Laurie – mir zu sagen, wie schrecklich es von mir war, so über Julia zu denken.
»Ich bin wütend auf Julia«, sagte ich, sobald ich ins Zimmer kam, und wartete darauf, dass das Kugelschreiberklicken losging.
Als nichts kam, setzte ich mich und redete weiter: »Ich bin wütend auf sie, weil sie gestorben ist. Ich bin wütend auf sie, weil sie an dem Abend auf mich gehört hat. Und manchmal … manchmal hasse ich sie richtig.«
Laurie nickte. Das war alles. Sie nickte.
Ich starrte sie an. Laurie schaute zurück.
»Haben Sie nicht gehört?«, sagte ich. »Meine beste Freundin ist durch meine Schuld gestorben und ich hasse sie manchmal.«
»Warum hasst du sie? Weil sie gestorben ist? Oder weil sie auf dich gehört hat?«
»Beides«, sagte ich und schrie beinahe. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie ihren Freund mit einem anderen Mädchen erwischt hat. Ich wollte, dass sie es sieht und nicht nur hört. Dann hab ich sie überredet, wegzugehen, weil sie … sie hat Kevin nicht zum Teufel geschickt, wie ich gedacht hatte. Sie hat nicht … sie war so traurig und ich habe ihr das angetan. Ich hab ihr das Herz gebrochen.«
»Amy …«
»Und das ist noch nicht alles«, fuhr ich fort. »Sie wissen es. So gut wie ich. Ich hab ihr gesagt, sie soll ins Auto steigen. Ich hab ihr gesagt, sie soll fahren. Sie hat das alles gemacht, hat auf mich gehört und ich hasse sie dafür. Sie ist gestorben und dafür hasse ich sie auch. Was ist los mit mir?«
Laurie seufzte. »Hat Julia immer gemacht, was andere Leute ihr gesagt haben?«
»Hören Sie mir eigentlich nie zu, verdammt noch mal? Sie haben wohl gar nichts mitgekriegt von dem, was ich Ihnen über Julia erzählt habe, was? Julia hat immer ihr eigenes Ding gemacht. Aber das …« Ich brach ab und funkelte Laurie an, weil ich wusste, worauf sie hinauswollte, und ich hatte die Nase voll davon, hatte so genug von ihr. »Ich weiß, was Sie jetzt sagen werden, ich weiß auch, was Sie denken, aber es ist nicht so, wie Sie glauben. Julia wollte nicht sterben.« Meine Stimme bebte und ich zitterte am ganzen Körper.
»Nein, das wollte sie nicht. Aber es war ihre Entscheidung, ins Auto zu steigen und zu fahren, so wie es deine Entscheidung war zu trinken.«
»Und das war’s dann?«, sagte ich und jetzt schrie ich wirklich, bebend vor Zorn und etwas anderem, worüber ich gar nicht nachdenken wollte. »Schluss, Ende? Als ob das so einfach wäre? Sie sagen mir, es war Julias Entscheidung, ins Auto zu steigen, und ich soll … was? Vergessen, was ich ihr angetan habe? Sagen: ›Jetzt versteh ich, oh ja, und damit gut. Laurie hat alles wieder in Ordnung gebracht?‹ Und dann einfach weiterleben?«
»Wenn du fähig bist, deinen Anteil zu sehen, warum dann nicht ihren?«
»Weil es nicht so einfach ist. Weil Sie nicht … Sie können nicht alles wieder in Ordnung bringen!«, sagte ich und stand auf. Ich ging aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu, so brutal, dass sie in den Angeln bebte. Wenn sie doch nur zerbrochen wäre, mittendurch, dachte ich. Wenn doch nur die ganze verdammte Praxis über Laurie zusammenkrachen würde.
Erstaunlicherweise kam Laurie sofort hinter mir her.
»Niemand hat gesagt, dass es so einfach ist«, sagte sie mit fester Stimme. Dann forderte sie mich auf, wieder mit hereinzukommen.
»Wieso?«, sagte ich. »Damit Sie mir noch mehr über Entscheidungen vorschwafeln können?«
»Nein, weil du recht hast«, sagte Laurie. »Ich kann nicht alles für dich in Ordnung bringen.«
Das hatte ich nicht erwartet, also ging ich wieder rein und setzte mich.
Laurie folgte mir, und sobald sie an ihrem Platz saß, nahm sie den Kugelschreiber in die Hand. Ich hätte mir denken können, dass das irgendwann kommen würde, aber ausgerechnet jetzt? Ich funkelte sie an und wollte gerade wieder aufstehen, da hielt ich plötzlich inne, erstarrte mitten in der Bewegung. Ich erstarrte, weil ich auf einmal wusste, warum ich hinausgestürmt war. Ich war wütend gewesen, schrecklich wütend, aber ich wollte auch … ich hätte ihr gern geglaubt. Und sie konnte doch nicht alles in Ordnung bringen, wie sie gerade selber zugegeben hatte.
»Wissen Sie was?«, sagte ich, die Augen auf den dummen Kugelschreiber geheftet, und ich hasste mich dafür, dass ich ihr glauben wollte. Ihr glauben wollte, dass ich Julia nicht getötet hatte. »Ich hab noch eine Neuigkeit für Sie. Ich hatte Sex mit einem Typen. Warum sagen Sie mir nicht zur Abwechslung mal, was ich dabei fühlen sollte?«
Laurie schaute mich nur an.
»Na los«, sagte ich und meine Stimme wurde wieder schriller und Laurie sagte: »Was willst du denn dabei fühlen?«
»Ich fühle überhaupt nichts«, sagte ich, aber meine Stimme wankte ein bisschen. »Ich war nur … es war das erste Mal, dass ich nicht betrunken dabei war, und es war … irgendwie anders. Das ist alles.«
Laurie entkreuzte ihre Beine und überkreuzte sie wieder. »Wie anders?«
»Ich weiß nicht. Einfach anders.«
»Aha. Ich verstehe.« Endlich kam es, das unvermeidliche Kugelschreiberklicken. Und plötzlich klickte es auch in meinem Kopf und ich begriff, warum sie das machte. Begriff, warum ich das Klicken immer und immer wieder gehört habe.
Laurie klickt mit ihrem Kugelschreiber, wenn sie denkt, dass ich sie anlüge. Oder dass ich mich selber anlüge.
»Es war anders – es war anders, weil es mir gefiel«, sagte ich nach einer Weile mit leiser Stimme. Sagte etwas, das ich gewusst hatte, aber bisher nicht aussprechen konnte. Weil ich es gar nicht zugelassen hätte. »Es war schön mit ihm. Vorher hat es mir nie Spaß gemacht. Aber mit ihm war es … es bedeutet mir etwas und ich … Ich weiß nicht.«
Ich wartete darauf, dass Laurie etwas sagen würde. Irgendwas. Ich hatte ihr alles erzählt, hatte ihr die Wahrheit gesagt, die ich nicht hatte sehen wollen.
Aber sie sah mich nur an.
»Warum sagen Sie nichts?«, fragte ich schließlich.
»Was soll ich denn sagen?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich kann nicht alles für dich in Ordnung bringen, Amy. Das hast du ja selbst gesagt. Ich kann dir nur eins sagen: Was du mir gerade erzählt hast, hat nichts mit Julia zu tun. Sondern mit dir. Und du bist für dich selbst verantwortlich, du musst deine eigenen Entscheidungen treffen, Dinge, die nur du entscheiden kannst, und wenn ich dir jetzt eine Frage stelle, Amy, will ich eine ehrliche Antwort darauf. Meinst du, das geht?«
»Nein.«
Eine Sekunde lang lächelte sie beinahe, das könnte ich schwören. »Ich frage dich, ob du glücklich sein willst.«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Was ist das denn für eine Frage?«
»Eine ganz einfache«, sagte Laurie. »Willst du glücklich sein?«
»Ich weiß nicht … ich meine, ich weiß doch gar nicht, wie.«
»Dann wirst du es lernen«, sagte Laurie.