78 Tage heute und Mom war mit mir im Einkaufszentrum.
»Ein verspätetes Geburtstagsgeschenk«, wie sie sagte.
In Pinewood durfte ich keine Geschenke bekommen. Laurie hat mich hundertmal gefragt, was »das mit mir macht«, aber es war mir egal. Ein Geburtstag ohne Julia war sowieso nichts wert. Am Ende wurde es ein ganz normaler Therapietag mit dem üblichen miesen Essen und einem Besuch von Mom und Dad, der aber nur peinlich für alle war.
Sie haben »Happy Birthday« gesungen und gefragt, wie mein Zimmer sei, dann standen sie da, zwei verlegene Fremde. Es war kein bisschen anders als die vorigen Besuche, abgesehen vom Geburtstagslied. Laurie fragte mich natürlich, »wie das für mich gewesen sei«. Sie hat zu allem eine Frage.
Mom und Dad wollten beide mit mir shoppen gehen, aber als wir uns gestern beim Abendessen unterhielten (das heißt, ich saß da und zerbrach mir den Kopf, was ich sagen sollte, wenn sie mir eine Frage stellten – bisher war das Abendessen ja immer eine reine Zwei-Mann-Performance gewesen), meinte Dad, wir sollten ohne ihn gehen, weil Mom heute nicht unterrichtet. Er wollte stattdessen am Wochenende mit mir Schulsachen einkaufen.
Mom sah gekränkt aus (oh nein, sie machen ja doch nicht alles zusammen!) und Dad nahm ihre Hand und schaute ihr tief in die Augen mit seinem Du-bist-die-Welt-für-mich-Blick. Es kotzt mich so an, dieses Getue. Das ist doch nicht normal, dass sie so aufeinander fixiert sind. (Julia fand es süß, aber »Liebe« war ja auch das Höchste für sie – sie war schon allein in den Liebesgedanken verliebt. Für mich dagegen hat es was Abartiges, derart »verliebt« zu sein.)
Auf jeden Fall saßen sie bald wieder Händchen haltend da, einig wie eh und je, und nahmen sich gegenseitig das Wort aus dem Mund und Dad versprach, dass er versuchen würde, seinen Terminplan umzuorganisieren. Ich spürte, wie ich verblasste, wieder zu dem unsichtbaren Anhängsel wurde, aber dann sagte Mom: »Also ich finde die Idee, zu zweit shoppen zu gehen, richtig gut.«
Es klang fast, als ob sie es ernst meinte. Aber nur fast. Ich ging also mit Mom allein ins Einkaufszentrum und in den ersten zehn Minuten wartete ich nur darauf, dass sie total zusammenschrumpfen würde, weil Dad nicht da war. Aber sie blieb ganz locker, soweit ich es beurteilen konnte.
Im Gegensatz zu mir. Das Einkaufszentrum war größer und nerviger, als ich es in Erinnerung hatte: viel zu viel billiger Schrott und gestresste Leute. Einer der ersten Läden, an denen wir vorbeikamen, war der, in dem Julia und ich beinahe erwischt wurden, als wir einen Rock in meine Tasche stopften. Ich wollte einen Faltenrock klauen, aber Julia hatte einen entdeckt, der viel cooler war. Sie hatte ein Händchen dafür, in jedem Laden die tollsten Klamotten zu finden. In zwei Sekunden hatte sie das perfekte Outfit zusammen, etwas, das außer ihr niemand tragen konnte.
Jedenfalls hatte sie den Rock ausgesucht, er war in meiner Tasche, und wir konnten uns nur mit größter Mühe das Lachen verkneifen, als wir aus dem Laden gingen.
Ich bekam kaum Luft, als ich daran dachte. Wir mussten uns so beherrschen, um nicht loszuprusten! Und wie Julia dann lachte, als wir wieder draußen in der Passage waren, den Kopf zurückgeworfen und mit leuchtenden Augen.
Julia hat immer so laut gelacht, so unbeschwert.
Ich werde ihr Lachen nie wieder hören.
Plötzlich verschwamm alles vor meinen Augen, wurde schwarz an den Rändern.
»Mom«, sagte ich. »Ich muss mich hinsetzen.«
Mom brachte mich in den Food Court, bestellte mir eine Limo und rief Dad an. Ich machte mir nicht die Mühe, das Gespräch mitzuverfolgen. Ich meine, wer will schon siebenundvierzigmillionenmal »Ich liebe dich« hören. Irgendwann muss ihnen doch selbst schlecht davon werden. Aber so weit wird es wohl nie kommen.
Mom wollte mich nicht nach Hause bringen, als ich meine Limo getrunken hatte. Ich sagte: »Aber was ist mit Dad?«, und sie: »Alles bestens. In welchen Laden willst du als Erstes gehen?«
Wir gingen also shoppen. Was sollte ich auch anderes machen? Wir klapperten einen Laden nach dem anderen ab. Mom schaute alles durch, während ich dastand und mit meiner Atemnot kämpfte. Pausenlos hielt sie mir irgendwelche Röcke und T-Shirts hin, alles Sachen wie … wie Julia und ich sie immer getragen hatten.
Einmal sagte sie sogar: »Wenn ich deine Figur hätte …«, und ich starrte sie an, bis sie sagte: »Oh, Amy, jetzt versteh ich. Du bist immer mit Julia hierhergekommen, stimmt’s?«, und meine Hand drückte.
Früher habe ich davon geträumt, mit ihr herumzuziehen – shoppen gehen und andere Mutter-Tochter-Sachen machen, über die man spätestens in der Mittelstufe hinaus ist. Aber so hatte ich es nie gewollt.
Auf dem Heimweg fing Mom von Verhütung an und ihre Frage klang so beiläufig, dass sie es garantiert hundertmal geübt hatte. Ich sagte ihr, dass es da nichts zu erzählen gab.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie, und da tischte ich ihr eine Story auf, dass ich alles darüber wüsste und supervorsichtig sei, seit ich mit vierzehn einen Schwangerschaftstest machen musste. Ich weiß, das war nicht okay, aber ich wollte nicht mit Mom über Sex reden und ich wusste, dass ich ihr damit den Mund stopfen konnte.
Mom verstummte tatsächlich und ich dachte an den Tag, als Julia mir sagte, dass sie einen Schwangerschaftstest kaufen müsse. Sie weinte, dann wischte sie sich die Tränen ab und lächelte mich an. »Es wird schon gut gehen«, sagte sie.
Eigentlich hätte ich das zu ihr sagen müssen. Hätte irgendwas sagen müssen. Oder tun. Stattdessen saß ich einfach nur da.
Ich sah mich in Julias Badezimmer sitzen und ihre Hand halten, während wir auf das Ergebnis warteten. Julia wirbelte herum, als der Stick anzeigte, dass alles in Ordnung war, drehte sich übermütig im Kreis, immer und immer wieder, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Am Abend gingen wir auf eine Party und sie war so zugedröhnt, dass sie in eine Badewanne fiel und sich die Lippe verletzte. Ich wollte das Blut abwischen, mit dem Erfolg, dass am Ende das ganze T-Shirt verschmiert war.
Julia weinte und wir taten beide so, als ob wir es nicht merkten.
Während Mom und ich stumm nach Hause fuhren, dachte ich an die Begegnung im Einkaufszentrum, die ich vorhin gehabt hatte.
Ich hatte Kevin dort gesehen. Ich war hinter Mom von Laden zu Laden getrottet und plötzlich stand er da, lungerte mit seinem Arschloch von Kumpel herum. Als er mich sah, funkelte er mich an, als ob er wer weiß wie leiden würde. Kann ja sein, dass er Julia vermisst, aber was soll ich dann erst sagen?
Ich ignorierte ihn und beobachtete Mom, die einen Stapel T-Shirts durchschaute, die sie mir dann doch nicht kaufen durfte.
Ich wollte mir nicht eingestehen, dass mir gerade das Herz brach.