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Ich gehe bald in die Schule. Sehr bald sogar. Morgen ist der große Tag.

Morgen ist zu früh.

Als ich das wusste, als Dad es mir gesagt hatte und nachdem ich an Julia geschrieben hatte, da musste ich … ich konnte es nicht ertragen, in meiner Haut zu stecken. Ich konnte mich selbst nicht ertragen.

Ich ging rauf ins Dachzimmer. Ich schaute mich um, setzte mich auf den Boden und stand wieder auf. Mom und Dad fanden mich dort nach einer Weile, ertappten mich, wie ich nach Alkohol suchte.

Sie riefen sofort bei Laurie an, um eine Notsitzung für mich zu vereinbaren. Ich hasse es, dass ich langsam nur noch in Anführungszeichen existiere: »In Therapie«, »suchtgefährdet«.

»Mörderin!«, hatte Julias Mom mich in der Notaufnahme angeschrien, damals, in der Nacht, als Julia starb. Sie schrie und schrie, aber plötzlich hörte sie auf und schaute mich an, mit einem Gesicht, so starr und verkniffen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Sie sah mich an und dann flüsterte sie:

Mörderin!

Ihr Schreien war nicht wirklich zu mir durchgedrungen – Julias Mom schreit immer so herum –, aber das Flüstern, dieser leise, brüchige Laut: Mörderin. Das verfolgt mich bis heute. Hallt immer noch in mir nach.

Das bin ich.

Laurie war nicht besonders überrascht, dass ich ein paar Tage früher bei ihr auftauchte, als ich musste, und wenn, ließ sie sich nichts anmerken. Es sei gut, dass ich nichts getrunken hatte, sagte sie, auch dann noch, als ich ihr unter die Nase rieb, dass ich es sofort getan hätte, wenn ich etwas gefunden hätte.

»Aber du hast nichts gefunden, oder?«, fragte sie.

»Ich wollte aber«, beharrte ich und dann klickte Laurie zweimal mit ihrem Kugelschreiber und setzte ihren Spezialblick auf, der mir bedeuten sollte: »Du kannst mir viel erzählen, aber ich seh mehr als du.« Ich könnte sie umbringen, wenn sie das macht. Und ich hasse ihr ewiges Kugelschreiberklicken.

Mom fuhr mich hinterher nach Hause und blieb bei mir, weil die Uni am Labor Day geschlossen hatte. Ich ging in mein Zimmer hinauf, und als sie später hereinkam, um nach mir zu sehen, schaute sie erstaunt, weil ich auf dem Bett lag und in einem ihrer Kunstbände blätterte.

Na ja, kein Wunder, dass sie überrascht war. Nach allem, was Mom und Dad in letzter Zeit schlucken mussten, nach dem Schock, dass ihr unsichtbares Anhängsel sich plötzlich zum Problemfall entwickelt hatte, waren sie vermutlich darauf gefasst, dass ich wie ein Tier unter dem Bett kauern und mir die Haare mit einer Nagelschere absäbeln würde oder so.

Mir tat es fast leid, dass ich ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte. Diese ganze zwanghafte Fürsorge ist so was von abartig.

Auf jeden Fall spielte Mom die interessierte Mutter, setzte sich zu mir und sagte: »Ich hab ein viel besseres Buch über diese Epoche. Willst du es sehen?«

»Nein«, sagte ich. Das Buch hatte ich mir genommen, weil es Julias Lieblingsbuch war, in dem sie immer blätterte, wenn sie bei mir war, um einen Joint aus dem Dachfenster hinaus zu rauchen, und mich dann anmeckerte, weil ich nie mitrauchte. Aber Gras war nicht mein Ding; es machte mich nicht so sonnig wie sie. Ich wurde nur hungrig und müde davon.

»Gut – hast du Lust, irgendwo hinzugehen?«

»Nein«, sagte ich wieder und Mom runzelte die Stirn und fragte mich, ob ich eine Zigarette wollte.

Ich starrte sie an. »Was?«

»Naja«, sagte sie. »Weil du doch immer nach Rauch gerochen hast, wenn wir dich in Pinewood besucht haben. Und ich weiß, dass … Ich weiß, es war schwer für dich, das Trinken aufzugeben, du darfst nicht glauben, dass dein Vater und ich das nicht verstehen. Also wenn du willst, können wir dir draußen eine kleine Raucherecke einrichten, vielleicht irgendwo bei meinen Blumenbeeten und du könntest …«

»Ich rauche nicht«, unterbrach ich sie.

»Oh«, sagte sie, dann saß sie nur da und schaute mich an.

Ich starrte auf das Buch. Was hatte Julia in den Bildern gesehen? Wenn ich sie doch nur fragen könnte! Ich stellte mir vor, was sie darauf geantwortet hätte, bis Mom endlich aus dem Zimmer ging.

Ich hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass Mom mich fragte: »Warum rauchst du nicht?«

Dann hätte ich ihr gesagt, dass ich früher geraucht hatte. Julia und ich hatten in dem Sommer damit angefangen, als ihre Mom sie zu einer Tante schicken wollte, vor lauter Angst, dass Julia Drogen nehmen könnte oder so. (Ich dachte daran, wie Julia ihre Mutter nachäffte: »Bist du auf DROGEN?«, und grinste vor mich hin.)

Ich hätte Mom gesagt, dass ich das Rauchen aufgegeben hatte, weil ich in der Nacht, als Julia mich mit leeren Augen ansah, eine Zigarette in der Hand hielt, die absurderweise noch zwischen meinen Fingern steckte, mit ihrer roten, schwach glimmenden Spitze, und nur darauf wartete, dass ich sie wieder zum Brennen brachte. Die Luft um uns herum stank nach verbranntem Gummi und zerknautschtem Metall und meine Zigarette glühte einfach weiter, als die Welt unterging.

Seither hab ich nie wieder geraucht. In Pinewood musste ich notgedrungen mit dem Anblick und Geruch von Zigaretten leben, obwohl ich mich fernhielt, so gut ich konnte, und meine Kleider schrubbte, sobald sie irgendwie zu riechen anfingen. Ich wusch mir die Haare, bis meine Finger nur noch nach Shampoo rochen. Schon der Gedanke daran, eine zu rauchen, ein- und auszuatmen und zuzusehen, wie sie abbrannte … Ich kann das nicht mehr. Nicht jetzt. Und überhaupt nie mehr.