Heute beim Abendessen haben Mom und Dad mich gefragt, ob ich einen Film mit ihnen anschauen wollte. Ich biss in meinen Bohnen-Burrito und kaute so lange ich konnte, in der Hoffnung, dass sie mich was anderes fragen oder wenigstens aufhören würden, mich anzuschauen. Mir steckte die Laurie-Sitzung von gestern noch in den Knochen, ich war total aufgewühlt von den Dingen, die sie gesagt hatte, Dinge, die ich selber spürte, und ich wollte jetzt nichts anderes machen, geschweige denn, glückliche Familie spielen.
»Du kannst dir einen aussuchen, solange dein Vater den Tisch abräumt«, sagte Mom und strahlte Dad an, bevor sie mich anschaute. Ich starrte auf meinen Teller. Ich wollte nicht sehen, wie ihr Lächeln erlosch. Wollte sie nicht noch mal so schrecklich weinen sehen, weil sie das nicht verdient hat. Niemand hat es verdient, von seinem gestörten Nachwuchs zum Weinen gebracht zu werden.
»Oh, ich durchschaue dein Spiel, meine Liebe«, sagte Dad. »Du willst mich aus dem Weg haben, damit du die Wahl beeinflussen kannst. Du bist nicht nur schön, sondern auch durchtrieben.«
Mom lachte und ich sah die Funken zwischen den beiden sprühen und fragte mich, warum wir das ganze Theater aufrechthielten. Es hing mir zum Hals heraus, wie sie sich anstrengten und etwas darzustellen versuchten, was sie noch nie sein wollten, diese ganze »Wir sind für dich da und wir tun unser Bestes«-Elternnummer. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dieses Getue, als würde es ihnen nichts ausmachen, mit mir zusammenzuleben.
»Na egal, ich weiß ja, dass du meinen Filmgeschmack gut findest«, scherzte Dad weiter, während er seinen Teller und den von Mom in die Hand nahm und ihr einen Kuss auf den Hinterkopf gab. Mom legte ihren Kopf zurück und lächelte ihn an.
Ich weiß, es ist mies, aber ich habe meinen Eltern nie gegönnt, was zwischen ihnen ist – diese endlose, alles verschlingende Liebe. Es machte mich wütend, weil ich dadurch zu nichts zusammenschrumpfte. Liebe, das war für mich gleichbedeutend mit ausgeschlossen sein.
Wir waren keine Familie, sondern ein Paar, das ein Kind am Hals hatte, weil sie eines Nachts vor sechzehn Jahren zu verhüten vergaßen. Das haben sie mir nie so gesagt – nicht direkt jedenfalls –, aber ich hörte sie einmal darüber reden. Mom merkte plötzlich, dass sie mit mir schwanger war, und acht Monate vor meiner Geburt ließ Dad sich sterilisieren. So was vergisst man nicht.
Ich stieß meinen Teller weg.
»Hört endlich auf damit«, sagte ich. »Ihr müsst nicht dauernd auf glückliche Familie machen. Meinetwegen kann alles wieder so sein wie früher.«
Mein Vater erstarrte. Meine Mutter auch, den Kopf immer noch zu ihm erhoben, und ich sah, wie das Lächeln auf ihrem Gesicht erlosch.
»Also gut, ich mache keine Filmvorschläge mehr, versprochen«, sagte Dad, um irgendwie die Fassung zu bewahren, aber er schaffte es nicht. Ich meine, was denken sie sich eigentlich? Dass Leute in meinem Alter mit ihren Eltern im Wohnzimmer sitzen und DVDs anschauen, das gibt es doch höchstens in alten Sitcoms, und früher, als Julia noch da war, haben sie mich auch nie gefragt, ob ich zu ihnen runterkommen will. Nein, Laurie kann sagen, was sie will, und auch wenn ich ihr im tiefsten Herzen gern glauben würde, dass Julia für ihre Entscheidungen selber verantwortlich war, ich … ich kann einfach nicht vergessen, was ich getan habe.
»Ich meine, was willst du eigentlich?«, sagte ich zu Dad und meine Stimme wurde schrill, als plötzlich alles aus mir herausbrach, was ich ihnen schon immer vor den Latz knallen wollte. »Ich kenne doch eure Geschichte! Wahre Liebe für immer und ewig, aber dann bin ich dahergekommen und schwupps!, hatte das Traumpaar einen Acht-Pfund-Klotz am Bein. Ihr müsst nicht so tun, als ob ihr das hier … – ich deutete auf uns drei – gewollt habt.«
Dad setzte sich und die Teller, die er in der Hand hielt, trafen klirrend auf dem Tisch auf. Er starrte mich an, als hätte er etwas ganz Unglaubliches, ja, Erschreckendes gesehen. Selbst in der Nacht, als er in die Notfallstation kam, hat er mich nicht so angeschaut.
»Du hast recht«, sagte er nach einer Weile mit tonloser Stimme. »Deine Mutter und ich, wir lieben uns sehr. Und es stimmt auch, dass wir … dass wir keine Kinder geplant hatten. Aber Amy, das bedeutet doch nicht, dass wir dich nicht wollten. Oder dass wir dich nicht von ganzem Herzen lieben und alles tun möchten, damit es dir besser …«
»Ach, hör auf«, sagte ich und schaute Mom an. »Hör bloß auf damit. Sag ihm, dass er aufhören soll. Es reicht, ehrlich. Oder glaubst du, ich hab vergessen, wie du neulich in Tränen ausgebrochen bist? Weil du es nicht ertragen kannst. Weil du nicht ertragen kannst, was ich getan habe.«
»Aber Amy, was redest du da? Deshalb hab ich doch nicht geweint.« Mom streckte ihre Hände über den Tisch nach mir aus. »Ich hab geweint, weil ich dich nicht erreichen kann. Weil es mir wehtut, dich so traurig zu sehen, so einsam und so verschlossen. Dein Vater und ich, wir haben begriffen, dass wir uns mehr um dich kümmern müssen, dir bessere Eltern sein, dass wir …«
Ich stieß ihre Hände weg. »Warum machst du das? Warum spielst du mir was vor? Du weißt doch, was ich Julia angetan habe. Du weißt, dass ich …«
»Nein, bitte nicht«, flehte Mom mit bebender Stimme und ich konnte die Worte, die sie nicht hören wollte, auf ihrem Gesicht geschrieben sehen.
»Ich hab sie umgebracht. Du weißt das. Ich weiß es. Warum kannst du nicht … warum sagst du es nicht einfach?«
»Weil es nicht wahr ist.« Dad stieß seinen Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wie kannst du nur so was sagen? Wie kannst das auch nur denken?«
»Ja, wie denn nicht?«, schrie ich los. »Ich hab ihr gesagt, dass sie ins Auto steigen soll.«
»Aber sie ist selber eingestiegen – es war ihre Entscheidung«, sagte Mom.
Ich schüttelte den Kopf, wischte ihre Worte weg, dieses Echo von Lauries Worten. Und ich wischte auch die Wirkung weg, die diese Worte – von Laurie und jetzt von Mom – auf mich hatten – die Hoffnung, die sie in mir aufkeimen ließen.
Mom beugte sich zu mir vor und fasste meine Hände.
»Hör mir zu, Amy«, sagte sie und ließ nicht los, als ich meine Hände wegziehen wollte. Sie hielt mich ganz fest. »Wir alle treffen Entscheidungen, manchmal gute, manchmal schlechte. So wie du in jener Nacht, aber auch Julia. Was passiert ist, war schrecklich, und trotzdem bist du nicht schuld daran – wirklich nicht – und du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen.«
»Ich … aber wenn ich das nicht gemacht hätte, dann …«
»Es war ein Unfall«, sagte Dad und seine Stimme war unendlich sanft. Und fest. »Ein schrecklicher Unfall, einer, bei dem du deine beste Freundin verloren hast, aber eben ein Unfall. Und nichts sonst.«
»Aber …« Meine Augen brannten, mein ganzer Körper brannte und ich zitterte und Mom sagte: »Amy, Schätzchen, es ist in Ordnung«, dann legte sie die Arme um mich und hielt mich fest.
Sie hielt mich fest und ich ließ sie. Wollte es.
»Wir haben dich doch gern um uns, dein Vater und ich, und wir möchten für dich da sein«, sagte sie. »Wir möchten dir die Augen öffnen, damit du begreifst, dass Julias Tod nicht deine Schuld war. Wir möchten eine Familie sein. Das sind unsere Entscheidungen.«
»Ich …« Ich machte mich los und schaute sie an. Erst Mom, dann Dad.
»Versuch es«, sagte Dad. »Gib uns eine Chance, Amy, damit du siehst, wie sehr wir dich lieben und dass du nicht schuld an Julias Tod bist. Das ist alles, was wir uns von dir wünschen. Nur, dass du es mal versuchst. Bitte.« Er räusperte sich und blinzelte heftig. »Okay, und weißt du jetzt schon, welchen Film du ansehen willst?«
Also suchte ich einen Film aus und wir schauten ihn zusammen an. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, und alles andere … was sie gesagt haben, ich …
Ich möchte ihnen so gern glauben.
Ich denke daran, was Laurie gesagt hat: dass man lernen kann, glücklich zu sein, und vielleicht … vielleicht schaffe ich das ja auch. Lernen, wie man glücklich ist.
Vielleicht.
Julia ist trotzdem tot. Damit werde ich leben müssen. Ich werde ohne sie leben müssen.