99 Tage

 
 

Julia

Freitagabend, – willst Du mein spannendes Wochenendprogramm hören?

Mom und Dad haben mich gefragt, ob ich einen Dokumentarfilm im Geschichtskanal mit ihnen ansehen will. Also liege ich hier im Wohnzimmer auf dem Boden und mache Hausaufgaben, was ein komisches Gefühl ist, weil ich schon ewig keine Hausaufgaben mehr gemacht habe. Weißt Du noch, die beiden Stillarbeitsstunden, die wir letztes Jahr zusammen hatten? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dort je ein Buch aufgeschlagen hätte. Und Du auch nicht. Stattdessen hast Du deine Fingernägel lackiert und meine ebenso. Und wir haben über Kevin und Deine Mom und meine Eltern geredet. Oder geplant, was wir nach der Schule und am Wochenende machen wollten. Ich weiß noch, wie toll es war, als Deine Mom Dir das Auto geschenkt hat (trotz ihrem Gejammer, wie viel sie für Dich geopfert hat), weil wir dann nicht mehr überall mit dem Bus hinfahren mussten.

Erinnerst Du Dich noch, wie wir darüber gesprochen haben, was wir nach der Highschool machen wollten? Wir hatten das Mittagessen ausfallen lassen und stattdessen im Klo vom dritten Stock geraucht und ich habe die ganzen Schnapsfläschchen in mich reingekippt, die Du in Deinem Schließfach aufbewahrt hast, weil Mom und Dad an diesem Morgen ausnahmsweise mal Streit hatten und danach tödliches Schweigen herrschte, bis Mom in Tränen ausbrach. Dann legte Dad seinen Arm um sie und ich kam mir vor, als sei ich gar nicht da, obwohl wir doch alle drei in der Küche saßen, und noch schlimmer als der Krach war dieser vertraute Anblick – wie Mom und Dad ganz ineinander aufgingen und mich dabei total vergaßen.

An diesem Tag beschlossen wir, dass wir sofort nach dem Schulabschluss nach Millertown ziehen – endlich weg von Lawrenceville! – und uns dort eine Wohnung mieten würden. Du wolltest in Kevins Band mitsingen und ich … nein, halt. Déja-vu.

Ich … Julia, es ist so stark, dass mir fast schlecht wird. Weißt Du, wie das ist, wenn man von seinen Erinnerungen überwältigt wird? Es ist, als ob Du leibhaftig vor mir stehst, als ob Du mir lächelnd zuwinkst, mit Deinen bunt lackierten Fingernägeln – rosa, rot, blau und grün. Mag sein, dass ich damals betrunken war, dass ich ohne festen Boden unter den Füßen durchs Leben schwebte, aber es war wirklich. Ich war wirklich. Und Du, Du vor allem. Dieser Schrott hier – das, was vor mir auf dem Boden liegt, die idiotischen Hausaufgaben, das alles – es fühlt sich wie nichts an. Es ist nichts.

 

Und wieder ich.

Mom und Dad haben mich endlich aus ihrem Blickfeld entlassen, damit ich ins Bett gehen kann. Selbst sie haben gemerkt, dass mit mir was nicht stimmte, weil ich ihren blöden Film über diesen bescheuerten Typ, der irgendwelche Kirchen gebaut hat, keine Sekunde länger ertragen konnte. Ich stand auf und … also ich stand einfach da und zitterte. Zitterte, weil ich was zu trinken wollte und mich dafür hasste. Ich hasste mich dafür, weil es mich in die Albtraumnacht zurückwarf, in diese stille Straße, wie ich zitternd im Krankenwagen lag und wie kalt mir war, obwohl das gar nicht sein konnte, von Leuten umringt, die sich alle über mich beugten, nur Du warst nicht da, der einzige Mensch, den ich verzweifelt herbeisehnte.

Meine Eltern redeten auf mich ein, redeten und redeten, wiederholten alles, was sie von Laurie und in Pinewood gelernt hatten. Aber in Wahrheit, Julia, und ich weiß, dass Du die Wahrheit bereits kennst, war es nicht ihr Gerede, das mich vom Trinken abhielt. Und auch nicht Pinewood. War es nie. Der Grund, warum ich nicht trinke, ist ein ganz anderer – was mich davon abhält, bist Du, das, was dir passiert ist. Was ich dir angetan habe.

Ich habe es einmal versucht, an dem Morgen nach Deinem Tod. Ich habe mich aus dem Bett gewälzt und am Boden gesessen, bis ich die Kraft zum Aufstehen fand. Ich hatte noch eine Flasche in meiner Kommode. Ich nahm sie heraus und da habe ich dein Gesicht gesehen, ich hörte Dich weinen, hörte mich sagen, dass alles gut wird. Ich öffnete die Flasche und Du hast mich angestarrt, mit offenen Augen und Glitzistaub auf deinen Wangenknochen. Ich trank einen Schluck und ich sah aus dem Fenster des Krankenwagens. Du hast am Boden gelegen, die Hände weit offen, und Dich an nichts festgehalten. Über Dir standen fremde Leute, haben auf Dich hinuntergeschaut und ich wusste, dass Du sie nie sehen würdest.

Meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Ich konnte nicht schlucken, also riss ich das Dachfenster auf, würgte, packte die Flasche und warf sie hinaus, so weit ich nur konnte. Am Nachmittag haben meine Eltern zum ersten Mal von Pinewood angefangen. Und erst recht, als ich sagte: »Gut. Macht, was ihr wollt. Mir ist es egal.«

Am Tag nach Deiner Beerdigung spielte ich mit dem Gedanken, mich umzubringen. Ich war in meinem Zimmer, hinter verschlossener Tür, und starrte auf das Foto, das wir gemacht haben, als wir die Schule schwänzten und im Abenteuerpark waren. Erinnerst Du Dich? Du hast den Typ an der Kasse überredet, uns umsonst reinzulassen, und wir haben alle Fahrgeschäfte abgeklappert und ein Foto von uns gekauft, auf dem wir mit einer lachenden Gestalt im Eichhörnchenkostüm drauf sind. Ich wusste, dass Dad Schlaftabletten in dem Medikamentenschränkchen im Eltern-Bad aufbewahrt, für seine Reisen nach Übersee, damit er schlafen kann, wenn er gleich am nächsten Morgen zu einem Meeting muss. Sie hätten nichts gemerkt, bis es zu spät gewesen wäre.

Und weißt Du, warum ich es nicht gemacht habe? Nicht, weil ich nicht wollte. Ich wollte ja. Und wie. Ich hab’s nicht getan, weil es mir recht geschieht, dass ich weiterleben und immer dran denken muss, was ich Dir angetan habe. Ich habe es verdient, allein zu sein. Alles hab ich verdient – das Zittern, die Kopfschmerzen und dass ich bei jedem Atemzug diesen schrecklichen Druck in meiner Brust spüre, dass mein Herz weiterschlägt, obwohl ich mir wünsche, es würde stehen bleiben.

Ich habe das Leben verdient, das ich jetzt führe. Ein Leben, in dem nichts passiert. Zu wissen, wie es vorher war, und dass das alles vorbei ist. Dass ich es zerstört habe. Nein, ich werde nicht trinken, nur damit ich es für eine Weile wegwischen kann.

Heute Abend, als Mom und Dad ausgeredet hatten, musste ich mich zwischen sie aufs Sofa setzen. Dad hantierte mit der Fernbedienung und tätschelte mir das Knie. Mom legte einen Arm um meine Schulter und drückte sie hin und wieder sanft. Wir schauten einen Film an, der übliche Quatsch, wo es anfangs eine Menge bescheuerte Missverständnisse gibt und am Ende alles gut wird. Ich hörte es an der fröhlichen Musik. Es waren endlos lange siebenundachtzig Minuten.

»Du hast es geschafft«, sagte Mom, als der Abspann über den Bildschirm lief, und Dad: »Amy, wir sind so stolz auf dich.« Es machte mich glücklich, dass sie das sagten, und das hab ich doch nicht verdient. Es ist so absurd. Wenn ich mir vorstelle, wie ich mich angestrengt habe, all die Jahre, als ich noch jünger war und gute Noten geschrieben habe. Was ich alles getan habe, nur um mich in ihre Welt hineinzuquetschen, und jetzt das. So einfach ist es: Ich musste nur aufhören, mir Mühe zu geben, musste nur zu der Trinkerin werden, die ihre beste Freundin ins Auto zerrte und 

Ich ertrage es nicht, dass Du fort bist. Und es tut mir so leid, Julia. Wenn du wüsstest, wie leid es mir tut, was passiert ist. Was ich getan habe.

Ich weiß, das sind nur Worte. Aber ich meine es ernst, ich schwör’s Dir. Es tut mir leid. Bitte verzeih mir. Alles.