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Heute fing eigentlich alles ganz gut an – dafür, dass es ein Schultag war und 125 Tage ohne Julia –, aber in Englisch kam dann das dicke Ende, weil Beth sich in unsere Gruppe reindrängte. Sie muss Ms Gladwell, der Lehrerin, irgendeine Schrottstory erzählt haben – ich hab nicht hingehört – und als ich von meinem Huckleberry-Finn-Exemplar aufschaute (viel weniger langweilig als ›Der Scharlachrote Buchstabe‹), war sie da, grinste Mel an und sagte: »Caro, kannst du mal einen Tisch für mich reinquetschen?«

Hoffentlich wird das nicht zum Dauerzustand, denn was danach kam, war die reine Folter. Beth kicherte. Schleuderte ihre Haare herum. Tuschelte mit Mel. Tuschelte mit Caro. Zog die große Freundschaftsnummer ab und verständigte sich mit mysteriösen Handbewegungen, über die nur Insider lachen konnten.

Beth hat tatsächlich ein Gehirn in ihrem verrotteten Kopf – immer wenn Ms Gladwell vorbeikam und sich in unsere Diskussion einmischte, gab Beth erstaunlich intelligente Kommentare zu dem Buch ab. Das ist das einzig Nette, was ich über sie sagen kann. Sie ist ein Miststück, aber nicht dumm.

Selbst jemand wie Beth müsste im Prinzip ein paar gute Eigenschaften haben. Oder zumindest eine, weil sie ja theoretisch menschlich ist. Aber an Beth ist überhaupt nichts Gutes. Null. Im Gegenteil, sie ist noch viel schlimmer, als ich sie in Erinnerung hatte. Wenn Mel zum Beispiel die Frechheit besaß, mit Caro zu reden, warf sie Caro einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, was ihr blühen würde, wenn sie Beth in die Quere kam: »Pass auf, was du sagst: Ich mach dich in dreißig Sekunden fertig, wenn es sein muss oder wenn mir gerade danach ist.«

Caro murmelte also höchstens »Ich weiß nicht« oder »Über die Stelle hab ich noch nicht richtig nachgedacht«.

Nach einer Weile gab Mel auf und fing an, mit Patrick und mir zu reden. Ich sagte, dass ich den Text, den Ms Gladwell uns aufgegeben hatte, noch nicht gelesen hätte, obwohl das nicht stimmte (aber ich wollte mich auf keinen Fall in eine Diskussion mit Beth hineinziehen lassen). Natürlich nützte mir das nichts, weil Beth hinausposaunte: »Soll das heißen, du hast überhaupt nichts gelesen, Amy?«, in voller Lautstärke, sodass Ms Gladwell es unweigerlich hören musste. Ich kassierte einen Verweis dafür und eine »Einladung«, nach dem Unterricht noch dazubleiben. Patrick lachte nur, als Mel ihm eine Frage stellte, und ich ärgerte mich, dass ich es nicht genauso gemacht hatte.

Dass Patrick lachte, war schon fast eine Sensation. Außer in der Nacht im Souterrain hatte ich ihn immer nur abweisend oder wütend erlebt. Als ob er immer unter Hochspannung stünde.

Und das Lachen selber? Es klang wie … naja, irgendwie eingerostet, als hätte er vergessen, wie man lacht.

Beth rümpfte natürlich die Nase und dann tuschelte sie mit Caro, wobei Tuscheln in diesem Fall bedeutete, dass Beth Patrick und mich anstarrte und laut genug »Loser« sagte, dass alle es hören konnten. Corn Syrup wurde rot, nickte aber brav dazu, wie eine hirnlose Marionette.

Ich wünschte beide zur Hölle, wünschte mir, dass der Boden sich auftun und sie verschlingen würde, und schaute zu Mel hinüber.

Mel wechselte einen Blick mit Patrick. Einen Blick, wie Julia ihn manchmal draufhatte, wenn sie mir signalisieren wollte: »He, Amy, jetzt mach mir nicht den Typ madig, weil sich da was anbahnt, und mir gefällt es und du zickst doch sowieso nur rum, sobald was mit Liebe zu tun hat.« (Was übrigens nicht stimmte. Julia war diejenige, die immer ausrastete, wenn ich ihr klarzumachen versuchte, dass Liebe nichts ist, was man sich freiwillig antut, sofern man noch alle fünf Sinne beisammen hat.)

Jedenfalls musste ich lächeln, obwohl Mel für mich der letzte Idiot war, wenn er sich mit Beth einließ. Weil sein Blick mich so an Julia erinnerte. Und außerdem gefiel es mir, dass er doch nicht ganz blind für Beths angeborene Bösartigkeit war.

Nach dem Unterricht hielt Ms Gladwell mir einen Vortrag, dass ich »dranbleiben« und »nicht unter mein Niveau absinken« sollte. Manchmal hab ich das Gefühl, dass alle Lehrer, die ich habe, so eine Art Benutzerhandbuch zu Rate ziehen, wenn sie mit mir sprechen. Zum Schluss sagte Ms Gladwell noch: »Du hast so viel Potenzial, Amy«, und das war echt das Dümmste, was ich je zu hören bekommen hatte – selbst von Laurie. Ich nahm es als Zeichen, dass der Tag nur noch schlimmer werden konnte.

Und natürlich behielt ich recht. Erstens hatte die Strafpredigt von Ms Gladwell nicht lange genug gedauert, um mir die ganze Mittagspause zu ersparen. Ich musste die restliche Zeit noch irgendwie hinter mich bringen, also ging ich in die Cafeteria, schnappte mir einen Gemüse-Wrap und stellte mich in der Schlange zum Bezahlen an, obwohl mein üblicher Platz am Losertisch bereits von der Schnurrbärtigen besetzt war. Auf ihrem Platz hatte sich der Anzugtyp breitgemacht, weil er seinen eigenen an einen Trupp von Neuntklässlerinnen abtreten musste, die an den Sportlertisch eingeladen worden waren und von den Seniors lüstern begafft wurden. Frischfleisch, zum Abschuss freigegeben. Ich hatte beinahe Mitleid mit ihnen.

Warum glauben eigentlich alle, dass es so toll ist, einen festen Freund zu haben? Julia wurde immer sauer, wenn ich so geredet habe, aber ich kann nichts dagegen machen. Wenn man sich immer nur auf einen fixiert, wird man irgendwann wie meine Eltern, und man sieht ja, was dabei herauskommt. In ihrem Fall hat der ganze Liebeswahn dazu geführt, dass sie jetzt mich an der Backe haben.

Ich bezahlte für mein »Essen« und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Schnurrbärtige plötzlich die Haare bemerkte, die an ihrer Oberlippe sprossen, und schnell davonstürzte, um etwas dagegen zu unternehmen. Aber leider passierte nichts dergleichen, sodass ich herumwandern und mir einen anderen Platz suchen musste. Ich kam an Beths Tisch vorbei, als ich mich zu einem freien Platz am Ende des Chortischs durchzuschlängeln versuchte.

Ja, so tief bin ich gesunken, dass ich darauf hoffen muss, dass die verdammten Chor-Loser mich nicht abwimmeln und sagen: »He, tut uns leid, aber hier kannst du nicht sitzen.« Ich weiß, ich hab’s nicht besser verdient, aber es ist trotzdem hart.

Beth verbreitete sich lautstark über ihr Lieblingsthema – sie selbst – und natürlich erntete sie von allen Seiten begeisterte Zustimmung. Außer von Corn Syrup. Okay, Caro gab sich Mühe, aber sie war eindeutig nicht bei der Sache. Sie sah müde aus. Traurig.

Ich lächelte ihr zu. Das war dumm und ich weiß nicht, warum ich mich dazu hinreißen ließ. Wahrscheinlich dachte ich an die Dinge, die sie mir erzählt hatte, als ich bei ihr war, und an die grässliche Englischstunde. Daran, wie Beth reagiert hatte, wenn Mel mit Caro reden wollte – eine Drohung, in ein Lächeln verpackt. Und wie niedergeschlagen Caro gewesen war, als sie von ihr geredet hatte.

Und dass das letzte richtige Gespräch, das sie gehabt hatte, Jahre zurücklag. Ein Gespräch mit mir.

Caro lächelte unwillkürlich zurück, aber dann – naja, plötzlich wurde ihr bewusst, was sie da machte, und ein erschrockener Ausdruck trat in ihr Gesicht. Es war wieder wie früher, als Caro mich stehen ließ und sich zu Beth umdrehte. Ich Idiot. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang vergessen, dass Caro dieselbe dumme Kuh ist wie eh und je?

Mühsam setzte ich mich in Bewegung, zwang mich wegzugehen. Ich sagte mir, dass ich ja nichts anderes erwartet hatte, aber irgendwie doch, denn ich fühlte mich … es war wie früher, vor vielen Jahren, bevor Julia daherkam. Julia hätte mir so etwas nie angetan. Julia – und das Trinken – machten mich leuchtender, stärker. Julia war immer für mich da.

Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.

Ich knallte mein Tablett hin und stürzte aus der Cafeteria. Ich hörte das Getuschel hinter mir – da geht sie, wisper, wisper –, aber ausnahmsweise war es mir egal. Ich wusste, wie ich das Gift loswerden konnte, das Laurie mit ihren Fragen über Julia in mich hineingeträufelt hatte. Ich wusste, wie ich mich erinnern würde, was wirklich war. Wie ich wieder sehen konnte, was Julia und ich wirklich waren. Endlich war mir etwas eingefallen, das mir ein Stück von ihr zurückbringen würde.

Ich ging zu Julias Schließfach – oder dem, was daraus geworden war – und machte es wieder zu ihrem.

Es war so ein gutes Gefühl, als ich mich auf das Schließfach stürzte, dass ich mich fragte, warum ich es nicht schon früher gemacht hatte. Aber ich hatte mich nicht getraut, hatte mir nicht zugetraut, dass ich den Mumm dazu aufbringen würde. Obwohl überhaupt nichts dabei war, die Arme hochzustrecken und diese ganzen bescheuerten Sternchen und Briefchen herunterzureißen. Es war kinderleicht.

»Soll ich dir helfen?«, fragte plötzlich jemand.

Patrick. Ich hatte mich ein paarmal umgeblickt, ob auch niemand im Flur war, wieso hatte ich ihn also nicht kommen sehen? Ich meine, Patrick ist groß und kräftig, so wie die hirnlosen Jocks, die sich durch die Schule schieben, als ob ihnen die ganze Welt gehört, und die sich total aufplustern, damit man sie nur ja nicht übersieht. So ist Patrick allerdings nicht. Er bewegt sich, als wollte er sich am liebsten unsichtbar machen. Ich dachte an den Abend, als ich ihn wirklich nicht gesehen hatte und über ihn drübergestolpert war. Und wie ich ihm dann immer nähergekommen war, wie ich mich fester und länger an ihn geklammert hatte als an irgendjemanden sonst.

Er stand jetzt nicht besonders nahe oder so, aber ich wollte ihn noch weiter weghaben. Ihn aussperren. Die Erinnerungen aussperren. Seine Haut. Seinen Atem, der über mein Ohr, meinen Hals strich. Seine Frage an mich an dem Abend im Kino, ob ich meinem früheren Ich nachtrauerte, der Amy, die ich einmal gewesen war, vor Julias Tod.

»Nicht nötig«, sagte ich und meine Stimme – sie bebte. Versagte. Äußerlich bin ich groß, aber innerlich so klein. So schwach.

»Der ganze Kitsch hier, das war wohl nicht ihr Ding, was?«, sagte Patrick und zeigte auf die Flut von Glitzisternchen und verlogenen Worten, die um meine Füße herum verstreut lagen.

»Nein«, sagte ich und bohrte meinen Schuh in ein Herz, auf dem Beths Name glitzerte. (Keine Botschaft natürlich. Nur ihr Name – BETH – in Glitzerbuchstaben.) Und dann, als mir bewusst wurde, was Patrick gerade gesagt hatte, fügte ich hinzu: »Hast du sie gekannt?«

Er zog einen Stern vom Schließfach ab. »Nicht wirklich. Aber sie … sie war ja nicht zu übersehen. Und wir haben einmal geredet …«

»Das hat sie mir nie erzählt.«

Er reichte mir den Stern. Ich wartete ab, ob er noch etwas sagen würde, aber es kam nichts. Stattdessen pulte und riss er schweigend am Schließfach herum und fing die Tür auf, als ich sie aufriss. Einen Augenblick roch es nach Julia, wie ein Hauch von ihr, verborgen unter dem Kleber- und Tintengeruch, den Botschaften, die sie nie erreichen würden, und mir wurde ganz schwindlig, so sehr sehnte ich mich nach ihr.

Ich schob meine Hand hinein, um mich festzuhalten, und meine Finger trafen auf etwas. Im obersten Regal, ganz hinten in eine Ecke gestopft, fand ich ein Lipgloss-Döschen, eines, das Julia gekauft hatte, als wir letztes Jahr am Tag nach Thanksgiving mit der Kreditkarte ihrer Mom in der Parfümerie waren. Im Laden hatte ihr das Lipgloss gefallen, aber hinterher fand sie es grässlich, weil es draußen, im Tageslicht, nicht tiefrot war, sondern orangig-dunkelbraun, ein Farbton, den kein Mensch tragen konnte.

Ich dachte daran, wie sie das Lipgloss in ihr Schließfach getan und gesagt hatte: »Damit ich nie vergesse, dass jeder mal Fehler macht. Sogar ich.« Dann grinste sie übermütig und zog zwei kleine Schnapsfläschchen hervor.

Sie schwenkte sie vor meiner Nase herum und dann schlichen wir uns ins Klo. Julia lachte, als ich schon nach dem zweiten Fläschchen griff, während ich noch das erste trank, und ich lachte auch, weil ich wusste, dass sie es mir geben würde, wusste, dass Julia 

»Amy?«

Ich hatte Julias Lipgloss so fest gepackt, dass das Döschen zerbrochen war und die Farbe sich über meine Handfläche verteilt hatte wie ein hässlicher Ausschlag. Ich starrte darauf, aber es ging nicht weg. Ich sehnte mich verzweifelt danach, dass Julia kommen und mich auslachen würde, dass sie mich zwingen würde, meinen Ärmel zu nehmen und meine Hand damit sauber zu rubbeln. Dass sie das Lipgloss nehmen und mit angeekelter Miene über die Schulter werfen würde, ohne sich darum zu kümmern, ob es im Mülleimer oder auf dem Boden landete. Ich wünschte mir mit aller Kraft, dass sie da wäre.

Warum hat Julia nie etwas über meine Alkoholsucht gesagt? Ich hatte Laurie angelogen. Wenn ich kotzen musste oder umkippte, sagte Julia kein Wort. Sie half mir einfach auf. Holte mir Wasser. Reichte mir Papiertücher oder gab mir einen alten Pulli aus ihrem Auto. Das alles hat sie für mich gemacht, aber sie sagte nie ein Wort. Nie.

Und sie gab mir immer was zu trinken, wenn ich sie fragte.

Patrick berührte meine Hand und ich schaute ihn an. Er sah geschockt aus, starrte auf seine Finger, die über die Lipgloss-Schmiere auf meiner Hand glitten, als würde er seine eigene Haut nicht kennen.

»Du hast es zerbrochen«, sagte er und ich sah ihn sprechen, aber seine Stimme war so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Seine Hand war eisig, seine Finger wie Eiszapfen an meiner Haut. Ich riss mich von ihm los.

»Das ist ihres«, sagte ich. Ich sagte es noch mal, lauter, aber da war niemand, der mich hören konnte. Patrick war bereits fort und ich stand nur da, Julias Lipgloss in meine Haut gequetscht.

Giggles fand mich, reglos vor dem Schließfach stehend, als die Glocke schon geläutet hatte. Sie scheuchte mich in ihr Büro, wo ich mir die Hände waschen musste. Das Lipgloss-Döschen gab sie mir nicht zurück. Als sie mit ihrer Strafpredigt fertig war und mich zu Mr Waters schickte, sah ich, wie sie es von ihrem Schreibtisch herunterfegte und in den Mülleimer knallte.

Ein wilder Schmerz durchzuckte mich, als ich das sah. Warum musste dieses winzige Stück von Julia auch noch verschwinden? Schwarzgelbe Pünktchen tanzten vor meinen Augen und ich hätte am liebsten geschrien: »Gib das her! Gib das sofort her!«

Aber ich sagte keinen Ton, obwohl ich mir wünschte, ich hätte es getan. Ich hatte Julias Schließfach in Ordnung gebracht, aber das war nichts. Gar nichts.

Mr Waters sagte, meine Eltern seien informiert worden, und er brummte mir eine Strafarbeit auf – 2500 Wörter sollte ich schreiben, über den Respekt, den man anderen Menschen schuldet.

»Ich denke, das dürfte hilfreich für dich sein«, sagte er mit einem Blick zu Mrs Harris, ob er auch das Richtige gesagt hatte, »in Anbetracht deiner … äh … besonderen Situation … Und wir wollen dir wirklich helfen, verstehst du?«

Er fragte nicht, warum ich das gemacht hatte. Niemand fragte mich. Und weil niemand fragte, erfuhr auch niemand, dass ich nichts Böses wollte – nur einen Teil von Julia zurückbringen.